fK 5/09 Uslucan

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Vielfalt der Werte – Vielfalt der Erziehungsstile

von Haci-Halil Uslucan

Was für praktische Beratungskontexte eine alltägliche Evidenz bildet, wird mehr und mehr auch in der entwicklungs- und familienpsychologischen Forschung erkannt: die Dringlichkeit gesicherten und empirisch überprüfbaren Wissens um familiale Lebenswelten, Werte und Erziehungsmuster von Migranten ist gegenwärtig unabweisbar. Denn mit weit mehr als sieben Millionen Personen sind Familien bzw. Personen nichtdeutscher Herkunft in der Bundesrepublik keine vernachlässigbare Population mehr.

Noch bedeutsamer wird jedoch dieser Befund, wenn die Orientierung nicht an der Nationalität bzw. dem Pass erfolgt, sondern an der familialen Erziehungswirklichkeit, das heißt wenn die kulturelle Herkunft der Eltern berücksichtigt wird. Denn dann haben rund 15 Millionen Menschen bzw. fast 20 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Langfristig betrachtet wird diese Zahl vermutlich eher zu- als abnehmen. Denn ein Blick auf die demografische Entwicklung zeigt: im Jahre 2006 hatte bei Kindern unter 15 Jahren jedes fünfte, bei Kindern unter zehn Jahren jedes vierte und bei Kindern unter fünf Jahren jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund (vgl. Geissler & Weber-Menges, 2008).

Angesichts dieser demographischen Entwicklung, der Zunahme an Kindern mit verschiedenem ethnischen und religiösem Hintergrund gilt es, wissenschaftlich und pädagogisch die Studiengänge wie „Frühe Bildung“ bzw. „Pädagogik der frühen Kindheit“ etc. auch um das Thema der interkulturellen bzw. interreligiösen Erziehung hin zu öffnen bzw. diese zu Kernkompetenzen von Erzieher(inne)n und Psycholog(inn)en werden zu lassen. Das hat Implikationen auch für die Einrichtungen. Nicht nur gilt es, verstärkt migrantische bzw. wenn man die stärkste Gruppe der religiösen Minderheit berücksichtigt, muslimische Eltern in die Abläufe einzubeziehen, sondern darüber hinaus vermehrt auch Erzieher(inn)en mit Migrationshintergrund einzustellen, sowie religiöse Bildung und Erziehung bzw. religiöse Mündigkeit als ein Teil der Aufgabe der Bildungseinrichtung zu verstehen.

Denn es ist nach wie vor ein Faktum, dass sowohl im Bereich der psychischen Gesundheit als auch der Beratung und Erziehung für Migrant(inn)en ein deutliches Missverhältnis zwischen dem Bedarf und den Möglichkeiten der Inanspruchnahme besteht, das nicht allein durch Wissensdefizite der Migrant(inn)en bedingt ist, sondern auch durch die monokulturelle Ausrichtung der Institutionen. Exemplarisch hierfür konnte bei einer Erhebung/Bedarfsanalyse in Regensburg gezeigt werden, dass zwar der Anteil der Nichtdeutschen im Alter von null bis 27 Jahren etwa zwölf Prozent betrug, in Risiko- und Krisenlagen Migrant(inn)en deutlich überrepräsentiert waren, sie aber in den Zahlen von Beratungsstellen dort als „Kunden“ eindeutig geringer repräsentiert waren. Zugleich wurde deutlich, dass das bisherige Angebot nicht der Bedürfnisstruktur von Migrant(inn)en entsprach: Sprachbarrieren, geringe Information über die Angebote sowie geringe vertrauensbildende Maßnahmen der beratenden Institutionen erwiesen sich als typische Barrieren (vgl. Seiser, 2006).

Erziehung in Migrantenfamilien
Allgemein geht die eher westlich geprägte erziehungspsychologische Forschung davon aus, dass ein autoritativer Erziehungsstil, womit eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme und Selbständigkeit bei gleichzeitig hohen Forderungen an das Kind verbunden ist – sich als der optimale für die Entwicklung des Kindes auswirkt, wogegen beispielsweise ein autoritärer Erziehungsstil, der mit einer rigiden Durchsetzung der elterlichen Autorität, einer geringen Selbständigkeit und einer hohen Kontrolle des Kindes einher geht, als eher ungünstig für die Entwicklung des Kindes betrachtet wird (Baumrind, 1991; Darling & Steinberg, 1993). Kulturpsychologische Studien zeigen jedoch, dass eine autoritative Erziehung zwar für euroamerikanische Kinder den optimalen Erziehungsstil darstellt, u. a. deshalb, weil dieser zu einer höheren sozialen Kompetenz und höherer Selbstständigkeit führt. Dies konnte jedoch beispielsweise für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund nicht gezeigt werden (vgl. Leyendecker, 2003). Insofern scheint eine bruchlose Übertragung der Wirkungen bestimmter Erziehungsstile und -praktiken auf die kindliche Entwicklung in differenten kulturellen Kontexten problematisch zu sein.

Häufig betrachten insbesondere muslimische Eltern die komplette Assimilation ihrer Kinder an deutsche Lebensverhältnisse als ihre größte Sorge. Sie befürchten eine völlige kulturelle und religiöse Entfremdung und versuchen zum Beispiel, dieser „Gefahr“ mit einer intensiveren religiösen Werteerziehung beizukommen. Jedoch ist hier zu verdeutlichen, dass zwar das Aufwachsen in liberalen Gesellschaften gewisse Entwicklungsrisiken für Kinder bergen (vor denen die Eltern ihre Kinder durch eine starke religiöse Erziehung zu schützen versuchen), jedoch ist die Frage zu stellen, ob und inwiefern religiös geschlossene Gruppen bestimmte Risiken (Drogen- und Alkoholgebrauch, traumatisches Erlebnis elterlicher Scheidungen etc.) nur dadurch senken, dass sie die Auftretenswahrscheinlichkeit für andere Risiken (rigide Persönlichkeit, geringe Autonomie im Denken etc.) erhöhen.

Diese Gefahr einer Abschottung und Isolation wird natürlich größer, je weniger authentische Kontakte und persönliche Bekanntschaften mit deutschen Familien stattfinden. Dann wird die Möglichkeit einer Gegen-Erziehung – und zwar gegen explizit westliche bzw. als westlich gehaltene Werte – wahrscheinlicher. Eine behütende, überbehütend-kontrollierende Erziehung ist in der Regel die Folge, was die Entwicklung und Entfaltung der Kinder einschränkt. Hier sollten Erziehungsinstitutionen wie Kitas und Schulen für größere Transparenz ihrer erzieherischen Ziele sorgen. Denn vielfach existieren unter Migranteneltern verzerrte Erziehungsvorstellungen über „typisch deutsche Erziehung“, Fehldeutungen der frühen Selbstständigkeitserziehung als eine „kalte und lieblose Haltung“ zum Kinde, was sie eher animiert, „krampfhaft“ an den eigenen, zum Teil dysfunktional gewordenen Erziehungsmustern festzuhalten. Diese Formen der ethnischen bzw. religiösen Einkapselung sind nicht ausschließlich ein Spezifikum von Muslimen in Deutschland, sondern sind beispielsweise auch sehr stark in der griechischen Migranten-Community in Deutschland zu beobachten (vgl. Boos-Nünning & Karakasoglu, 2005).

Erziehung und Werte
Warum die Engführung von Erziehung und Werten? Zunächst ist festzuhalten, dass Werte Kulturen übergreifend die Grundlage alltäglichen Handelns von Individuen in einer Gesellschaft bilden (Steinbach & Nauck, 2005). Sie dienen dem Individuum als eine Art Standard und geben Sicherheit bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen (Knafo & Schwartz, 2001). Da sie Orientierungsmaßstäbe des Handelns für zahlreiche Situationen bieten, können Werte als zentral für die Organisation einer Gesellschaft aufgefasst werden. Inhaltlich bezeichnen kulturelle Werte Überzeugungen, die nicht nur einen spezifisch kognitiven Gehalt aufweisen, sondern, wenn sie aktiviert werden, emotional aufgeladen sind. Sie verweisen auf wünschenswerte Ziele wie z. B. Gleichheit, Gerechtigkeit etc. und dienen als ein Standard, um sowohl Handlungspräferenzen zu bilden als auch individuelle wie kollektive Handlungen und Überzeugungen anderer zu bewerten (Smith & Schwartz, 1997).

Wie halten sich Werte über die Zeit hinweg relativ stabil? Intergenerative Wertetransmission über die elterliche und institutionelle (schulische wie außerschulische) Sozialisation ist der zentrale Mechanismus sowohl des kulturellen Wandels als auch des Fortbestehens einer Kultur. Was die Intensität der Transmission in Familien betrifft, so sind theoretisch zwei Extremfälle denkbar: erstens eine vollständige Transmission, bei der keinerlei Unterschiede mehr in der Werteorientierung zwischen Eltern und deren Kindern vorhanden sind, Eltern und ihre Kinder also komplett gleiche Wertorientierungen haben, und zweitens überhaupt keine Transmission, bei der es dann keinerlei Gemeinsamkeiten mehr zwischen Eltern und Kindern gibt (Schönpflug, 2001).

Offenkundig ist, dass beide Extreme höchst problematische Formen sind. Denn einerseits kann die kulturelle Transmission nie völlig exakt bzw. komplett erfolgen, da die Lebensbedingungen der nächsten Generation aufgrund des sozialen Wandels sich immer ein wenig von der vorangegangenen unterscheiden und sie, die nächste Generation, um Handeln zu können, für diese neue Situation auch angemessene Handlungsmuster entwerfen muss. Andererseits kann aber auch das jegliche Fehlen von Wertetransmission zwischen den Generationen nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, denn dann könnten sich Generationen kaum verständigen und ein koordiniertes Handeln zwischen den Generationen wäre fast aussichtslos (Boyd & Richerson, 1985). Insofern ist das tatsächliche Ausmaß der intergenerationalen Transmission in der Regel immer zwischen diesen beiden Extremen zu vermuten.

Mit Blick auf die religiösen Orientierungen von Menschen zeigen kulturübergreifende Studien zur Werteforschung (Smith & Schwartz, 1997), dass in den meisten Fällen Religiosität positiv mit traditionellen Werten und negativ mit Hedonismus und Stimulation korreliert. Mit Blick auf islamische Familien in Deutschland ist diesen Befunden folgend erwartbar, dass eine stärker traditionsgeleitete Wertebindung gelebt wird sowie eine intensivere Wertetransmission in den Familien erfolgt.

Islamische Religion und soziale Integration: ein Widerspruch?
Obwohl sich Religionen in modernen Gesellschaften einem wachsenden Legitimationsdruck stellen müssen, sind sie nach wie vor sozialpolitisch und pädagogisch hoch aktuell. So zeigen beispielsweise jüngere Untersuchungen zur Wertebindung eindringlich, dass Religiosität in keiner Weise ein obsoletes, vernachlässigbares Phänomen darstellt. In einer Studie bezeichneten sich rund zwei Drittel der befragten EU-Bürger als religiös; in den USA waren es sogar rund 90 Prozent (Bucher, 2005). Unbestritten scheint eine wichtige Funktion religiöser Lehren in der Sinnstiftung menschlichen Handelns zu liegen, und zwar in der Fähigkeit, Vorgänge zu deuten, die sonst sinnlos blieben. Damit machen sie die erfahrene Wirklichkeit verstehbar, helfen aber auch, die Fragilität, die Zerbrechlichkeit des Alltags und Erfahrungen des Leides zu bearbeiten. Darüber hinaus haben Religionen generell auch die Funktion, den Einzelnen in die Gesellschaft zu integrieren.

In Erziehungsdiskursen werden vielfach Fremdheiten und kulturelle Distanzen immer wieder konstruiert, indem der Islam auf seine antiwestlichen und explizit vormodernen Dimensionen reduziert wird. Und das, obwohl in verschiedenen Studien dokumentiert wird, dass muslimische Jugendliche wie auch ihre Familien in ihrem Sozialisationsprozess nicht von homogenen eigenkulturellen oder -religiösen „Blöcken“ beeinflusst werden, sondern vielfach in ihrem Alltag typische pragmatische Patchwork-Aktivitäten eingehen, d. h. sich das jeweils für sie funktional und passend erachtete Element der jeweiligen Referenzgruppe (z. B. türkische und deutsche) aneignen. Hier ist immer wieder hilfreich, kulturell-religiöse Differenzen von Modernitätsunterschieden in der Lebensgestaltung zu trennen.

In Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa 3.200.000 Menschen islamischen Glaubens. Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa vier Prozent ist der Islam in Deutschland neben dem Christentum die zweitstärkste Religion (Baumann, 2001). Durch diese hohe Anzahl ist der Islam nicht mehr ein fremdes Element, sondern ein die europäische bzw. deutsche Kultur mit prägendes Phänomen. Die multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft ist bereits eine soziale Tatsache. Der Dialog mit der islamischen Welt bzw. muslimischen Migranten erweist sich als drängender denn je, wie dies auch vom Bundesinnenminister im Kontext der Deutschen Islamkonferenz (DIK) mehrfach geäußert wurde.

Richtet man die Perspektive auf Kinder und Jugendliche, so zeigt sich die Notwendigkeit pädagogischer Konzepte für religiöse Differenzen noch eindringlicher. Rund 750.000 Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens besuchen deutsche Schulen (Müller, 2001). Bundesweit sind somit ca. sechs Prozent aller Schüler islamischen Glaubens. Die Zugehörigkeit zum Islam ist ein Bestandteil der kulturellen Identität. Der größte Teil der in Deutschland lebenden Muslime sind türkische Sunniten. Innerhalb der islamischen Rechtsschulen folgen sie der hanefitischen Tradition. Kurdische Muslime aus der Türkei dagegen sind häufig in ihrer religiösen Praxis stärker von der schafiitischen Tradition geprägt. Aleviten aus der Türkei wiederum haben andere religiöse Praxen. Deshalb sollte eine Homogenisierung der Muslime und eine Gleichsetzung von Nationalität und Religion vermieden werden.

Mit dem Familiennachzug bzw. der Familienbildung in Deutschland stellt sich für viele muslimische Migranten die Frage der Weitergabe der eigenen Tradition und Religion an die nachwachsende Generation. Dies umso mehr, je stärker sich die Familien in der Fremde bedroht erleben, Rückzugstendenzen in eigene kulturelle Muster zeigen und ein stärkeres Abgrenzungsbedürfnis erleben. Während eine religiöse Sozialisation in den islamischen Ländern vielfach vom Kontext unterstützt und zum Teil unreflektiert als eine Alltagsgewissheit übernommen wird, und durch die umgebende Gesellschaft eine Koedukation erfolgt, ist davon auszugehen, dass in der Migrationssituation – wo der bestätigende und unterstützende Kontext entfällt – eine gezielte islamische Erziehung erfolgt. In der Migration ist die Gemeinde nicht vorgegeben, sondern sie kann gewählt werden. Hier kommt es in jedem Falle zu einer Werteveränderung, und zwar auch dann, wenn die Werte der Herkunftskultur aufrechterhalten werden. Denn dann neigen Migranten vielfach dazu, die neue Umwelt mit ihren neuen Werten abzuwehren und sich stärker von ihr zu differenzieren, d. h. sie bilden dann Defensivstrategien aus.

Auch erweisen sich bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen erst im Migrationskontext als identitätsrelevant, so etwa das Befolgen des Schweinefleischverbotes in Deutschland, wo Schweinefleisch in großen Mengen zur Verfügung steht und angeboten wird. In der Türkei dagegen ist die Unterlassung des Schweinefleischverzehrs kein Hinweis auf eine islamisch definierte Identität, sondern gehört zum common sense.

Um die generelle Frage der Integrationsfähigkeit des Islam in den pädagogischen und sozialen Alltag eines modernen gesellschaftlichen Lebens klären zu können, ist es wichtig, eher aus einer Innenperspektive den familiären erzieherischen Hintergrund islamischer Kinder bzw. die erziehungsleitenden Prinzipien muslimischer Eltern zu kennen, d. h. die leitenden Motivationen der Eltern (Sorge um das Kind, Sorge um eine angemessene soziale Platzierung der Tochter/des Sohnes, Sorge um das Selbstbild in der Community bei vermeintlichen Fehlhandlungen etc.) explizit zu machen. Diese Kenntnis scheint gerade für den Schulalltag von hoher Relevanz zu sein, da Schule der exemplarische Ort ist, an dem sich deutsche Schüler und Schüler nichtdeutscher Herkunft begegnen, Schule also sowohl Ort des Konflikts ist als auch das Feld darstellt, in dem das Zusammenleben am besten eingeübt werden kann.

Eine starke religiöse Erziehung, die mit Berufung auf ein religiöses Familien- und Erziehungsbild demokratische Strukturen als Auflösungserscheinung betrachtet, kann dann zu einem Integrationshindernis werden, wenn Eltern gleichzeitig aus Sorge vor negativen sozialisatorischen Konsequenzen die Kinder nicht an Kindergarten, Vorschule und deutscher Spielumgebung teilnehmen lassen, weil sie bei zu vielen und zu frühen Kontakten mit deutscher Umgebung eine kulturelle Entfremdung befürchten (Karakasoglu-Aydin, 2000). Diese Furcht scheint in solchen Kontexten noch größer zu sein, wo Eltern auch tatsächlich nur wenige Möglichkeiten haben, ihr Kind effektiv zu kontrollieren. Hier gilt es, noch mehr Transparenz für tatsächliche, und nicht nur lediglich vermutete „Gefahrenpotenziale“ zu schaffen und die Ängste und Sorgen muslimischer Eltern stärker zu thematisieren.

Gleichzeitig ist zu erwähnen, dass nicht nur islamische Erziehungskonzeptionen, sondern generell religiös-traditionale Erziehungskonzeptionen im Widerspruch mit der säkularen Moderne liegen. Was beispielsweise die Sexualität betrifft – insbesondere die Überwachung der weiblichen Sexualität –, so ist der restriktive Umgang nicht nur eine spezifisch islamische Haltung, sondern ein typisches Zeichen religiös fundamentalistischer Orientierungen in vielen Religionen.

Die Frage nach der Wirkung religiöser Sozialisation und Werteerziehung kann nicht monokausal betrachtet werden, sondern es gilt diese zu differenzieren: So zeigen beispielsweise Studien, dass eine angstbesetzte religiöse Sozialisation, bei der Gott in erster Linie als eine strafende Instanz auftritt, bei sensiblen Personen auch zu einem Bruch mit der Religion führt (Oser, Di Loreto, & Reich, 1996), also zu keiner Festigung der religiösen Identität beiträgt, sondern letzlich eher kontraproduktive Effekte erzeugt. Dagegen kann die Vermittlung eines Gottesbildes, bei dem Gott als eine schützende, bergende und bedingunslos liebende Macht wahrgenommen wird, selbstwertstabilisierend für Kinder sein (Grom, 1982). Jedoch ist auch festzuhalten, dass islamische Erziehungsvorgaben und -muster nicht für alle Migranten in islamischen Familien Gültigkeit haben, da ihre Anwendung vielfach von Merkmalen wie etwa ländliche oder städtische Herkunft, soziale Schicht und Bildungsgrad, Religiosität der eigenen Eltern abhängt und Regeln der Alltagsgestaltung vorindustrieller Kulturen von den Beteiligten vielfach religiös bzw. islamisch begründet werden und zum Teil auch innerhalb des Islam gravierende Unterschiede in den verschiedenen Ausrichtungen herrschen (vgl. Stöbe, 1998).

Schlussbemerkungen
Vergleiche von Muslimen und Deutschen basieren häufig auf ungleichen Voraussetzungen und schüren ungewollt Vorurteile: So wird vielfach die „emanzipierte“ deutsche Frau mit der (eher traditionellen) muslimischen Frau verglichen und es wird gezeigt, welche Modernitätsdefizite die Muslimin aufgrund ihres Glaubens aufweist. Hier ist daran zu erinnern, wie Tan (1999) anmerkt, dass vielfach Diskussionen der Gegenwart ahistorisch rückprojeziert werden. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau als eine zu verwirklichende Norm ist ihrerseits ein historisches Produkt und kaum mehr als 300 Jahre alt. Wie kann diese Norm daher bereits Thema des politischen oder religiösen Diskurses des Korans des siebten Jahrhunderts oder der kriegerisch-nomadischen Werte der arabischen Halbinsel zur Konstitutionsphase des Islam gewesen sein? Andererseits ist auch festzuhalten, dass die Orientierung an einer idealtypischen Gemeinde zu Mohammeds Zeiten als erzieherisches Leitbild von fundamentalistischen Muslimen zwangsläufig zu einer Selbsttäuschung, Frustration und Lebensfremdheit (insbesondere in der Migrationssituation) führen muss, da in westlichen Gesellschaften Beziehungen vielfach eher affektneutral sind und mehr auf der Ebene des Rechts als auf Sympathie- und Verwandtschaftsbeziehung erfolgen.

Kontraproduktiv für die pädagogische bzw. therapeutisch-beraterische Praxis ist die Kulturalisierung von Lebenslagen bzw. eine Konzeption von Kultur, die das Verhältnis von Individuen zu ihren Zugehörigkeiten als ein Marionettenverhältnis betrachtet und die Eigendynamik sowie die Widerständigkeit von Subjekten nicht thematisiert, d. h. nicht berücksichtigt, dass Menschen auch explizit gegen kulturelle oder religiöse Vorgaben handeln können. Leiprecht & Lutz (2006) schlagen als eine grundlegende Strategie sozialpädagogischer Reflexion eine Intersektionalitätsanalyse vor, die den gleichzeitigen Einfluss von Geschlecht, Ethnie, Schicht, Nationalität, sexuelle Orientierung etc. untersucht, um keiner falschen Homogenisierung zu erliegen. Die Anforderung dabei ist, dass stets mehr als eine Differenzlinie betrachtet wird; denn soziale Gruppen sind kaum homogen, sondern eher heterogen. Unangemessen sind Strategien, die etwa alle Handlungen eines Menschen nur aus der Klasse, dem Geschlecht, der Kultur, der Religion etc. ableiten. Nur genaue Kenntnisse über die konkreten Menschen, über ihre Lebenslage und Situation, über ihre subjektiven Begründungsmuster erlauben Ableitungen aus den Makrostrukturen; hingegen sagen allgemeine Merkmale wie etwa Religiosität noch nichts über die besonderen Verhältnisse des Individuums, seinen Möglichkeiten und seinen Behinderungen, aus.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

PD Dr. Haci-Halil Uslucan vertritt die Professur für Pädagogische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.

No Comments

Post A Comment