fK 1/03 Limbach

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Eine Zukunft ohne Kinder?

von Jutta Limbach

Eine Zukunft ohne Kinder? Sterben die Deutschen aus? Zum Glück ist es noch nicht so weit. Doch sprechen unsere Statistiken eine deutliche Sprache, was die Geburtenfreudigkeit angeht. Seit dem Jahre 1972 werden jedes Jahr weniger Kinder geboren als Menschen sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland nimmt weiter zu. Ein heute geborener Junge hat die Chance rund 74 Jahre, ein heute geborenes Mädchen hat die Chance rund 80 Jahre alt zu werden. Schon heute lässt sich der Altersaufbau der Bevölkerung nicht mehr mit der graphischen Darstellungsform einer Alterspyramide beschreiben. Die graphische Darstellungsform entspricht eher einer „zerzausten Tanne“, einer Tanne, die am unteren Drittel des Stammes schmal ist und erst dann ausfächert, allerdings ohne spitz zuzulaufen.

Das Einzelkind

Aber nicht nur die Altersstruktur unserer Gesellschaft hat sich verändert, sondern auch die Größe der Familien. Der Trend zur Kleinfamilie wird immer stärker. Der Anteil der Einkindfamilien liegt inzwischen bei rund 50%. 37% der Familien haben zwei Kinder, während nur in 12,6% aller Familien drei oder mehr Kinder zu Hause sind.

Die bemerkenswerte Abnahme der Kinderzahl gefährdet nicht nur den so genannten Generationenvertrag, weil die wenigen Kinder später nicht die Renten der immer älter und damit zahlreicher werdenden Ruheständler aufzubringen vermögen. Die geringe Kinderzahl beeinträchtigt die Kinder bereits in ihrer Kindheit und Jugendzeit, weil ihnen die Erfahrung entgeht, Geschwister zu haben. Das ist aus vielen Gründen für ihre Entwicklung nachteilig.

Zum Spielen braucht ein Kind Gefährten. Es findet sie heute häufig weder in der eigenen Familie noch in der Nachbarschaft. Seine Fähigkeit, mit Gleichaltrigen zu kommunizieren, seine Möglichkeit Rücksichtnahme auf andere zu üben, etwa das Teilen zu lernen, bleibt gerade in den frühen Jahren unterentwickelt. Die Soziabilität von Einzelkindern lässt häufig zu wünschen übrig; denn das Einzelkind erfährt nicht, was es bedeutet, sich gegenüber anderen Kindern durchzusetzen und sie für ein Zusammenspielen zu gewinnen.

Zwar genießt das Einzelkind die geballte Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Die damit häufig verbundenen Verwöhnungseffekte führen aber häufig zu Defiziten. Wie häufig hört man von jungen Frauen, dass sie sich bewusst auf ein Kind beschränken wollen, um dann diesem ihre ganze Fürsorge und Zärtlichkeit zu schenken. Auch könne man diesem ja auch eine bessere Bildung und ökonomische Ausstattung zu gute kommen lassen.

Wie viel reicher machen dagegen ein, zwei oder mehr Geschwister. Geschwister bilden häufig ein System innerhalb der Familie. Das bedeutet nicht nur, dass die Mutter hierdurch entlastet wird. Sie erziehen sich dabei gegenseitig. Das dürfte ihnen mitunter ob ihrer Naivität besser gelingen, als ihren durch das Lesen von Entwicklungspsychologien verunsicherten Eltern. Die Kinder erlernen im alltäglichen Umgang miteinander spielend soziale Tugenden wie Verantwortungssinn und den Schutz der Schwächeren, sprich: Kleineren.

Die Geschwistergruppe bildet – wie Rosemarie Nave-Herz treffend herausgearbeitet hat – ein Gegengewicht zu den Eltern oder anderen Erwachsenen. Das geschwisterliche Zusammengehörigkeitsgefühl schafft Geborgenheit, wenn die Eltern abwesend sind. Etwa dann, wenn die Kinder sich im Kindergarten, der Schule oder gegenüber einer Kinderfrau bei der berufsbedingten Abwesenheit beider Eltern durchsetzen müssen. Dieses Wir-Gefühl, das sich in früher Kindheit zwischen den Geschwistern entwickelt, bewährt sich bis in das Erwachsenenleben hinein und schafft eine unvergleichliche innere Stärke. Jede und jeder von uns kann das im eigenen Leben und vergleichend in seinem gesellschaftlichen Umkreis feststellen.

Der Kinderwunsch

Statt in kulturpessimistischem Geiste diesen Tatbestand zu bejammern und ihn mit den Luxusbedürfnissen, dem Egoismus und dem Selbstverwirklichungswahn irregeleiteter Frauen zu erklären, ist die nüchterne Analyse gefragt. Diese verspricht eher Anregung für Abhilfe, als das Verklären der Mutterrolle. Denn auffällt, dass, wenn man Jugendliche befragt, sie stets den Wunsch äußern, später Kinder haben zu wollen.

Das hat die jüngste, just veröffentlichte Shell-Jugendstudie bestätigt. Die Jugendlichen haben danach nicht nur Freude an der Familie. Übrigens wohnen rund drei Viertel der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren noch bei der Herkunftsfamilie. Über zwei Drittel der befragten Jugendlichen wollen später eigene Kinder. Doch Kinderwunsch und Kinder-Kriegen sind zweierlei: Das Durchschnittsalter, in dem heute Frauen in der Bundesrepublik Kinder bekommen, steigt immer mehr an. Denn immer mehr Frauen schieben ihren Kinderwunsch mit Rücksicht auf ihren Beruf und dessen schwierige Vereinbarkeit mit der Familienarbeit auf. Bis es eines Tages zu spät ist und aus der vorläufigen eine endgültige Kinderlosigkeit wird. Trotz dieser Wirklichkeit sieht es in den Köpfen der Jugendlichen anders aus: „‘Karriere machen‘ und Familie schließen sich bei der Mehrheit der heutigen Jugendlichen hinsichtlich der eigenen Lebensansprüche nicht aus, sondern bilden zwei zentrale Zielvorstellungen für die Lebensführung“ (14. Shell Jugendstudie).

Der Wandel der Mutterrolle

Die Auffassung von der Mutterrolle hat sich bei den jüngeren Generationen grundlegend gewandelt, begünstigt auch durch den Umstand, dass die gegenwärtige Jugend Ideologien weitgehend abhold ist. Das bürgerliche Familienmodell mit der nicht erwerbstätigen Mutter gilt ihnen nicht mehr als einziges Ideal. Wenngleich sich seine Anhänger gern laut zu Wort melden, wenn die Arbeit knapp wird. Seit der Studentenbewegung und der Neuen Frauenbewegung, der verbesserten Ausbildung der Frauen und ihrem veränderten Selbstbewusstsein vollzieht sich allmählich ein Wandel im gesellschaftlichen Denken. Die jungen Menschen von heute sind vielfach bereits von berufstätigen Müttern und Vätern aufgezogen worden und können aus eigener Erfahrung darüber urteilen, ob sie dadurch verwahrlost sind, wie es trotz entgegenstehender wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder einmal gern behauptet wird.

Die Folgen der mütterlichen Erwerbstätigkeit auf die Sozialisation der Kinder sind international bestens erforscht worden. Ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Variablen, also Sozialisationsdefizite sind bei den Kindern nicht festgestellt worden. Hier ist ein vielschichtiges Wirkungsgefüge zu beachten, in dem eine Reihe von Faktoren, wie etwa der Grund der mütterlichen Erwerbstätigkeit, das Qualifikationsniveau und die Berufszufriedenheit der Mutter zusammenwirken. Nicht zu vergessen auch die Qualität der Ersatzbetreuung. Aber auch familiäre Faktoren wie die Kinderzahl und das emotionale Klima in der Familie spielen eine wichtige Rolle.

Entsprechendes gilt übrigens für die Frau, die sich ganztags der Familienarbeit widmet. Auch hier spielen ihre Zufriedenheit mit dieser Tätigkeit eine wichtige Rolle, nämlich ob sie diese Entscheidung frei und im Einvernehmen mit ihrem Mann getroffen hat oder ob ihr angesichts der hohen Arbeitslosigkeit oder wegen der fehlenden Berufsausbildung keine andere Wahl geblieben ist.

Laut der Sozialisationsforschung ist das eigentliche Problem von Kleinkindern nicht die mütterliche Berufstätigkeit selbst, sondern die gesellschaftliche Einstellung zu dieser. Das zählebige und bei schlechter Arbeitsmarktlage besonders gepflegte Vorurteil, erwerbstätige Mütter hätten eher verwahrloste Kinder, macht die jungen Mütter unsicher und erzeugt Angst- und Schuldgefühle. Diese Ambivalenzkonflikte beeinträchtigen den Umgang von Mutter und Kind und damit dessen Entwicklung empfindlicher als die Berufstätigkeit selbst. Die Zählebigkeit dieses Vorurteils über die schädliche Auswirkung der Berufstätigkeit von Müttern im Kleinkindalter ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Öffentlichkeit von den Forschungsergebnissen noch immer kaum Kenntnis nimmt.

Empirische Untersuchungen zeigen, so resümiert die Soziologin Rosemarie Nave-Herz, „dass diese Mutterideologie zusammen mit den fehlenden Infrastruktureinrichtungen im Westen zu einer hohen Kinderlosigkeit geführt hat und u.U. weiter führen wird. Denn immer mehr Mütter schieben ihren Kinderwunsch wegen ihres hohen Berufsengagements und der gleichzeitig gegebenen Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie hinaus, in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt eine Lösung ihres Problems finden zu können, bis es dann aber zu spät ist“, und aus der vorläufigen Kinderlosigkeit eine unfreiwillige, lebenslange wird.

Die unflexible Arbeitszeitorganisation und das Fehlen ausreichender Möglichkeiten der Kinderbetreuung sind Fakten, die nach wie vor die Frauen im Arbeitsleben benachteiligen. In einer jüngst veröffentlichten Online-Umfrage über die Gründe für Nichterwerbstätigkeit haben 89% der nicht erwerbstätigen Mütter von Kleinkindern und 75% der nicht erwerbstätigen Mütter von Kindergartenkindern auf den Mangel an Betreuungsmöglichkeiten für Kinder verwiesen. Dass ein großer Teil von diesen gleichzeitig den Luxusgrund anführte, ganz für die Familie da sein zu wollen, widerspricht nicht der Aussage über die mangelnden Möglichkeiten der Kinderbetreuung.

Neue Väter braucht das Land

Wie steht es mit dem Wandel der Vaterrolle? Wir sollten uns durch den jüngst in den Medien berichteten Kampf zweier unverheirateter Väter vor dem Bundesverfassungsgericht nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass die Neuen Väter eine Minderheit sind, die statistisch nicht ins Gewicht fällt. Sobald aus einem Paar eine Familie wird, spielen sich geradezu zwangsläufig die alten Verhaltensweisen ein. Selbst wenn die Männer die Berufstätigkeit ihrer Frau uneingeschränkt unterstützen, liegen die Familien- und Hausarbeit eindeutig im Verantwortungsbereich der Frau. Immer wieder zeigt sich, dass viele junge Männer in der Theorie ungemein egalitär denken, doch in der Praxis verfahren sie nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“

Die fortschrittliche Haltung der Männer gegenüber dem anderen Geschlecht reicht nur soweit, wie Frauen keine Mütter sind. Das offenbart sich bei dem Erziehungsurlaub, den sowohl Mütter als auch Väter in Anspruch nehmen können. Rund 97,7% aller Erziehungsberechtigten nehmen das Erziehungsgeld in Anspruch. Allerdings sind 98,5% davon Mütter. Dagegen machen lediglich rund 1% der Väter von der Möglichkeit Gebrauch, sich frühen Väterfreuden zu widmen. Lediglich 0,5% der jungen Eltern haben das im Wechsel gemacht.

Ein Exkurs: Der Frust der neuen Väter

Die verschwindend geringe Zahl von Vätern, die das Abenteuer „Küche und Kinder“ wagt, hat – wie die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführte Hausmannsstudie ergeben hat –, mit großem Frust zu kämpfen. Die Hausmänner fühlen sich „isoliert und unausgefüllt“. Vor allem die ungewohnte Hausarbeit scheint an ihren Nerven zu zerren. So hat einer der befragten Männer geklagt: „Wenn man, sagen wir mal, freitags irgendwo saubergemacht hat, liegt nächste Woche zur selben Zeit an derselben Stelle der gleiche Dreck. Und das ist wirklich das fast Entwürdigende, wenn nicht zumindest Nervtötende dieser Beschäftigung“. Auch der Ausweg dieses vereinsamten Hausmannes, Zuflucht in einer Müttergruppe zu finden, hat sich als Fehlschlag erwiesen. So klagt er weiter: „Irgendwie habe ich mich da draußen gefühlt, weil ich halt ein Mann bin“. Übrigens wollte sich keiner der befragten Männer auf Dauer ausschließlich der Familie widmen. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz planen sie in der Regel für den Zeitpunkt, in dem das jüngste Kind den Kindergarten besucht.

Eine Zukunft mit Kindern

Wer sich eine Zukunft mit Kindern wünscht, darf weder in das kulturpessimistische Gejammer über das Ende der Familie verfallen noch die Familienarbeit verklären. Das dürfte zu nichts führen. Dass Kinder nicht nur Verantwortung und Sorge, sondern auch Bereicherung, Freude und Glück bedeuten, weiß selbst jeder junge Mensch. Die wichtigste Forderung deutscher Frauen an die Politiker lautet nach einer repräsentativen Umfrage des Emnid-Instituts: „Schafft endlich eine Infrastruktur, die es uns ermöglicht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen“. Auf die Frage „Angenommen Sie wären Bundeskanzlerin, was würden Sie als Erstes ändern?“ gaben 91% der Befragten an, sie würden mehr Jobs mit Gleit- und Teilzeit schaffen. 88% würden ausreichend Krippen-, Hort- und Kindergartenplätze bereitstellen. Bei den 14- bis 29-Jährigen waren es sogar 92%. Die Tatsache allerdings überrascht, dass sich nur 45% für die Ganztagsschule als Regelschule einsetzen würden.

In anderen Ländern ist ein Teil dieser Forderungen bereits Realität. Nehmen wir das Beispiel Frankreich, wo 99% der Kinder zwischen drei und sechs Jahren eine vorschulische Betreuung erhalten und die Bezahlung von Tagesmüttern von der Steuer abgesetzt werden kann. Es gibt fast nur Ganztagsschulen, die den Kindern ein Mittagessen anbieten. Die Folge: ein hoher Beschäftigungsanteil von Müttern (60%) und die höchste Geburtenrate der EU mit 1,8 Kindern pro Frau. Deutschland liegt dagegen mit 1,2 Kindern pro Frau.

Die Kinderfrage ist die Frauenfrage

Es geht mir nicht darum, ein einseitiges Familienbild, nämlich das der Hausfrauenehe, durch ein anderes gleichermaßen einseitiges Ideal der Berufstätigenehe zu ersetzen. Es geht darum, dass die den Frauen und Männern eingeräumte Wahlfreiheit nicht eine trügerische bleibt, bei der sich die Frauen nur aussuchen können, welches Problem sie haben wollen. Frauen müssen darauf achten, dass sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Anja Meulenbelt hat diese Gefahr an einer Talkshow veranschaulicht, in der es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ging. Leichthin spielte da der Moderator drei Frauentypen gegeneinander aus:

„Die Frau, die ihren Beruf aufgegeben hatte, um für die Kinder da zu sein, wurde mit der Frage in die Verteidigung gedrängt, ob sie denn emanzipiert sei. Die Frau, die arbeitete und beschlossen hatte, keine Kinder zu bekommen, wurde gefragt, ob sie das später nicht bereuen würde. Die Frau, die Kinder hatte und berufstätig war, mußte sich fragen lassen, wie sie das schaffe, ohne die Kinder zu vernachlässigen.“ Dem guten Manne ging gar nicht auf, dass da Probleme behandelt wurden, die auch sein Geschlecht betragen, aber zumeist von Frauen allein gelöst werden müssen.

Auch in Zukunft werden sich nicht alle in gleicher Weise verhalten. Es wird nach wie vor männliche wie weibliche Vorlieben geben. Denken wir an die Fußballleidenschaft der Männer oder die Freude der Frauen an der schönen Literatur. Die Bundeswehr wird weiterhin von Männern dominiert sein. Auch mögen vorzugsweise Frauen in den Krippen, den Kindergärten oder in den Familien die kleinen Kinder betreuen. Unsere Zukunftshoffnung ist die, dass die Aufgabenteilung in Beruf und Familie nicht das Produkt sozialer und wirtschaftlicher Zwänge ist, sondern das Resultat einer freien Wahl.

Sie mögen meinen, ich hätte im zweiten Teil meines Vortrags zuviel von den Frauen und Mütter statt von den Kindern gesprochen. Aber nach wie vor, meine Herren und Damen, ist die Frauenfrage die Kinderfrage und damit die Kinderfrage die Frauenfrage.

Schriftliche Fassung des Vortrags auf der Festveranstaltung anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Deutschen Liga für das Kind am 5.12.2002 in Berlin.

Prof. Dr. Jutta Limbach ist Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes und ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts.

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