fK 4/07 Peschel-Gutzeit

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Am 20. November 2006 veranstaltete die Kinderkommission des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zu dem Thema „Kinderrechte in die Verfassung“. Zu den geladenen Sachverständigen gehörte Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Justizsenatorin a. D. und Vorsitzende des Kuratoriums der Deutschen Liga für das Kind, deren Stellungnahme – einschließlich der von der Kinderkommission formulierten Fragen – wir im Folgenden dokumentieren.

Kinderrechte in die Verfassung aufnehmen

von Lore Maria Peschel-Gutzeit

Frage 1: Im Grundgesetz finden Kinder im Artikel 6 GG Erwähnung. Sind Kinder danach originäre Rechtssubjekte, wie würden Sie dies beurteilen? Trägt das Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung dem Stand der Rechtsprechung hinreichend Rechnung, nach der das Kind als „ein Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit“ anzusehen und eine „verfassungsrechtliche Sicherung des Kindeswohls“ zu gewährleisten ist?
Wie ist das Verhältnis von Kinderrechten zu den verfassungsrechtlich garantierten Elternrechten zu beurteilen? Hätte die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz Folgen im Hinblick auf einen Gleichrang/Vorrang vs. Elterninteressen?
Würde sich durch eine Klarstellung/Stärkung der Rechte von Kindern die Rolle des staatlichen Wächteramtes verändern?
Gibt es Gründe, die gegen die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz sprechen?

Kinder sind originäre Rechtssubjekte im Sinne des Grundgesetzes. Zwar kommen sie als Begriff nur in Art. 6 GG vor. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 29. Juli 1968, FamRZ 1968, 478) sind Kinder jedoch selbst Träger subjektiver Rechte, sie sind nämlich Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Als Grundrechtsträger hat das Kind selbst Anspruch auf den Schutz des Staates. Dies wird damit begründet, dass Kinder Menschen im Sinne von Art. 1 GG sind und ebenso unter den Begriff „jeder“ aus Art. 2 GG fallen. Dem ist auch zuzustimmen. Dennoch unterscheidet die Allgemeinheit bis heute zwischen Kindern und Erwachsenen und ist nicht ohne weiteres bereit ist, Kindern dieselben Grund- und Menschenrechte zuzugestehen wie Erwachsenen. Deswegen wird man sagen müssen, dass das Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung den Erkenntnissen der Rechtsprechung nicht hinreichend Rechnung trägt.

Das gilt auch für die Frage, ob das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Sicherung des Kindeswohls gewährleistet. Wenn Art. 6 und Abs. 2 Satz 2 formuliert, über ihre (wohl der Eltern) Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft, so beschreibt dies das staatliche Wächteramt. Und Art. 6 Abs. 3 formuliert die Eingriffsnotwendigkeit des Staates, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Diese Gefährdungs- bzw. Verwahrlosungsgrenze ist jedoch sehr weit gezogen, das Kindeswohl kann sehr viel früher und eher tangiert sein, ohne dass es zu einer direkten Gefährdung des Kindes kommt. Insoweit enthält das Grundgesetz keine verfassungsrechtliche Sicherung des Kindeswohls.

Die Eltern haben bekanntlich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ein verfassungsrechtlich garantiertes, institutionell abgesichertes Elternrecht. Derartige klare eigene Rechte haben die Kinder in der Verfassung nicht. Ihre verfassungsrechtliche Stellung ist einerseits eine Reflexstellung gegenüber dem Elternrecht und andererseits ergibt sich diese ihre Position aus den Artikeln 1 und 2 GG. Damit sind die Kinder nach derzeitiger Fassung des Grundgesetzes gegenüber der Institutsgarantie der Elternrechte benachteiligt. Würden eigene Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen, würde sich bei der verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen der Elternstellung und der Stellung der Kinder eine gewichtsmäßige Veränderung ergeben, mit anderen Worten: Das Elternrecht könnte und würde nicht mehr in einer Weise wie derzeit die Belange und Interessen der Kinder dominieren. Insbesondere könnten Eltern sich nicht mehr ohne weiteres darauf berufen, dass sie dem Kind nicht eine bestmögliche Förderung, sondern nur die Förderung angedeihen lassen, die ihrer eigenen Lebensgestaltung entspricht. Eben diese Haltung der Eltern ist jedoch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach geltendem Recht bestätigt worden. Daraus folgern Rechtsprechung und Lehre, dass kein Kind ein Recht auf bestmögliche Förderung hat, dass es keinen Anspruch hat, dass seine Anlagen und Begabungen erforscht und sodann entwickelt werden, sondern dass das Kind es hinzunehmen hat, auch wenn es z.B. desinteressierte Eltern hat, die die Förderung des Kindes nicht zu ihrer wirklichen Aufgabe machen, solange sie das Kind dabei nicht gefährden. Hätte das Kind eigene verfassungsrechtlich gesicherte Ansprüche auf bestmögliche Bildung und Förderung, könnten die Eltern ihr Eigeninteresse dem nicht ohne weiteres entgegensetzen, es müsste in jedem Fall eine Güterrechtsabwägung vorgenommen werden, die bei eigenen Kinder-Grundrechten zugunsten des Kindes ausfallen könnte.

Auch das staatliche Wächteramt würde sich durch die Aufnahme eigener Kinderrechte in die Verfassung inhaltlich verändern. Derzeit setzt das Wächteramt und die Funktion des Staates erst ein, wenn eine erhebliche Gefährdung des Kindes eingetreten ist oder unmittelbar droht. Hat aber das Kind nach der Verfassung eigene Rechte auf bestmögliche Förderung und auf Schutz seines Wohls, wäre die staatliche Ordnung nicht nur aufgerufen, sondern verpflichtet, diesen Anspruch auch einzulösen.

Gründe, die gegen die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz sprechen, sind immer wieder angeführt worden, insbesondere auch in der Verfassungskommission, die Anfang der 1990er Jahre eine Ergänzung und Veränderung des Grundgesetzes zu prüfen hatte und der ich als damalige Justizsenatorin angehört habe. Seinerzeit ist vor allem ins Feld geführt worden, wenn man eigene Kinderrechte in die Verfassung aufnehme, müsste das auch für andere Gruppen gelten, etwa für ältere Menschen, für Menschen nicht deutscher Herkunft, für kranke und behinderte Menschen usw. Diese Begründung ist jedoch ein Fehlschluss: Denn alle eben genannten Menschen werden als erwachsene Menschen selbstverständlich dem Grundgesetz zugeordnet. Nur bei Kindern gilt scheinbar etwas anderes. Das Bundesverfassungsgericht hat erst 20 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes entschieden, dass auch Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde sind und mit einem eigenen Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Diese selbstverständlichen Rechte waren den Kindern zuvor einheitlich von der Lehre vorenthalten worden. Auch jetzt wird es Widerstände geben, mit der Begründung, Kinder seien schließlich auch Menschen und deshalb von allen Grundrechten umfasst. Die Entwicklung der letzten 57 Jahre zeigt jedoch, dass diese Mitumfassung nicht ausreicht, um den Kindern den ihnen gebührenden verfassungsrechtlichen Schutz und die verfassungsrechtlichen Garantien wirklich zukommen zu lassen.

Frage 2: Was würde die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz für Kinder und Jugendliche konkret bewirken? Hätten Kinder eine stärkere Stellung in behördlichen und gerichtlichen Familienangelegenheiten, z.B. in Sorgerechtsangelegenheiten, bei Vormund- und Pflegschaften, im Adoptions- und Abstammungsrecht?
Würde sich daraus für sie oder einen Vertreter (z.B. auch Jugendamt) in Fällen von Misshandlungen durch die Eltern und daraus resultierenden Schäden und Folgeschäden das Recht ergeben, Schadensersatz gegen die Eltern geltend zu machen?
Hätten Kinder bei staatlichen Entscheidungen, die nicht im Zusammenhang mit Artikel 6 GG stehen, eine stärkere Position, z.B. im Ausländerrecht, Baurecht und anderen Rechtsgebieten?
Welche Konsequenzen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wären aus der Verfassung abzuleiten? Würde die angestrebte Verfassungsänderung bedeuten, dass die Partizipation von Kindern und Jugendlichen neu bewertet werden müsste, wenn ja, wie?

Bei Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung hätten die Kinder eine stärkere Stellung in behördlichen und gerichtlichen Angelegenheiten. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt und den Kindern in bestimmten Angelegenheiten ein so genannter Verfahrenspfleger, also ein Anwalt, von Gesetzes wegen zugeordnet wird, § 50 FGG. Diese Regelung gilt jetzt gerade einmal seit acht Jahren und sie ist in jeder Weise unvollkommen. Bei einer Verankerung eigener Schutz- und Fürsorge-, aber auch Förderungsrechte müssten die Kinder in allen Verfahren, die sie selbst betreffen, eine eigene Vertretung erhalten, soweit sie sich nicht selbst vertreten können, was bei älteren Kindern durchaus der Fall sein könnte.

Ob die Kinder gegen die Eltern einen Anspruch auf Schadensersatz haben, wenn die Eltern die Kinder misshandeln, ist zunächst eine strafrechtliche und zivilrechtliche Frage. Diese Ansprüche könnten und müssten die Kinder, anwaltlich oder anderweitig vertreten, geltend machen. Insoweit würde sich die Stellung von Kindern nicht von der anderweitig Menschen unterscheiden, die von Dritten geschädigt werden. Da die Kinder nicht selbst am Rechtsverkehr teilnehmen können, brauchen sie einen Vertreter, und dies könnten im Falle von Misshandlungen wegen Interessenkollision nicht die Eltern sein.

Erhielten Kinder in der Verfassung eigene Mitwirkungsrechte, müssten sie auch in Verfahren, die nicht direkt ihr körperliches oder geistiges Wohl betrifft, berücksichtigt werden, etwa im Ausländerrecht, darüber hinaus im öffentlichen Recht wie Baurecht, bei der Gestaltung von Kindergärten, Schulen, Kinderkrankenhäusern usw.

Die Verfassung bewirkt nicht direkt eine Partizipation von Kindern an den vorgenannten Verfahren. Aber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die z.B. seit Jahrzehnten dahin geht, dass die Interessen von Kindern beachtet und notfalls im Verfahren selbst vertreten werden, hat schließlich dazu geführt, dass im einfachen Recht ein solcher Vertreter auch geschaffen worden ist. Ähnliches wäre in den vorgenannten anderen Rechtsgebieten zu erwarten, die Partizipation von Kindern würde institutionalisiert, sofern Mitwirkungsrechte in der Verfassung verankert wären.

Frage 3: Kann die Aufnahme von Kinderrechten die Kinderfreundlichkeit in Deutschland positiv beeinflussen? Inwieweit kann sich die Verfassungsänderung positiv auf die Praxis der Kommunen (z.B. in der Stadtplanung oder der Jugendhilfe) auswirken? Wären aus Ihrer Sicht verfassungsrechtlich gebotene Veränderungen im Schulrecht zu erwarten oder zu fordern?

Ob die Aufnahme von Kinderrechten in Deutschland eine Kinderfreundlichkeit fördern kann oder nicht, kann nicht beantwortet werden. Das wäre Spekulation. Aber die verfassungsrechtlich abgesicherte Partizipation von Kindern in allen Angelegenheiten, die sie selbst betreffen, könnte und müsste auch zu Veränderungen im Schulrecht führen, ebenso z.B. bei der Stadtplanung und insgesamt in der Jugendhilfe. Darüber hinaus wäre nicht nur eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erwarten, sondern es käme voraussichtlich auch zu Änderungen in der Praxis: Wenn Behörden und Ämter verpflichtet sind, die Interessen der Jugendlichen nicht nur mit zu bedenken, sondern ihnen eigene Entscheidungskapitel widmen müssten, würde sich nach hiesiger Einschätzung die praktische Planung und Handhabung etwa der Jugendhilfe zugunsten der Kinder und Jugendlichen ändern. Die Kinder müssten sodann eigene Antragsrechte im Jugendhilferecht bekommen, sie müssten die Möglichkeit haben, selbst Jugendhilfe zu beantragen und auch zu erhalten. Das Spannungsfeld zu den Eltern wird nicht verkannt, hier aber geht es ja vor allem darum, zu überlegen, in welcher Weise die Stellung von Kindern und Jugendlichen gestärkt werden kann, wenn sie verfassungsrechtlich entsprechende Rechte eingeräumt erhalten.

Frage 5: Ergeben sich aus der UN-Kinderrechtskonvention oder der vorgesehenen EU-Grundrechtecharta Vorgaben oder Anregungen, die das deutsche Verfassungsrecht aufgreifen sollte?
Welche Bedeutung messen Sie dem Vorrangigkeitsprinzip von Kinderinteressen bei, wie wir es in Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention und in Art. 24 der EU-Grundrechtecharta finden?
Sollte das Prinzip der vorrangigen Berücksichtigung von Kinderinteressen in das Grundgesetz aufgenommen werden?

Aus beiden Gesetzeswerken ergeben sich Vorbilder und Anregungen für das deutsche Verfassungsrecht. So postuliert die UN-Kinderrechtskonvention folgende Kinderrechte:
– Artikel 2 Diskriminierungsverbot
– Artikel 3 Wohl des Kindes und dessen Vorrang
– Artikel 4 Verwirklichung der Kinderrechte
– Artikel 6 Recht auf Leben und Entwicklung des Kindes
– Artikel 7 und 8 Staatsangehörigkeit
– Artikel 9 Kontaktanspruch zu den Eltern
– Artikel 12 Berücksichtigung des Kindeswillens
– Artikel 13 Meinungsfreiheit des Kindes
– Artikel 14 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
– Artikel 22 Flüchtlingskinder
– Artikel 23 Behinderte Kinder
– Artikel 24 Recht des Kindes auf Gesundheit
– Artikel 26 Soziale Sicherheit
– Artikel 28 Recht auf Bildung und Chancengleichheit
– Artikel 32 Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung
– Artikel 33 Schutz vor Drogen
– Artikel 34 Schutz vor sexuellem Mißbrauch usw.

Aus diesem Katalog von Kinderrechten gemäß UN-Kinderrechtskonvention sind hier besonders einschlägig die Artikel 2, 3, 9, 12, 14, 24 und 28. Insbesondere das Vorrangigkeitsprinzip von Art. 3 Abs. 1 UN-Konvention könnte ein Weg sein, um den Kinderrechten in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zum Durchbruch zu verhelfen. Denn hiernach ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Die EU-Grundrechtecharta gibt diesen Gedanken in Art. 24 sehr klar und konturiert wieder, wenn es dort heißt, dass Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Weiter heißt es dort, dass Kinder ihre Meinung frei äußern können und dass ihre Meinung in Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt wird. Und das Vorrangigkeitsprinzip aus Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention kehrt in Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta wieder, wenn es dort heißt, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtung das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Schließlich ist in Art. 24 geregelt, dass jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkten Kontakt zu beiden Eltern hat, es sei denn, dies stehe seinem Wohl entgegen. Damit wird Art. 9 aus der UN-Kinderrechtskonvention aufgenommen.

Hier wird die Auffassung vertreten, dass dieses Vorrangigkeitsprinzip Aufnahme in das deutsche Grundgesetz finden sollte. Denn so kann am ehesten gewährleistet werden, dass bei allen staatlichen Maßnahmen der unterschiedlichen Staatsgewalten nicht nur im Laufe eines Verfahrens, sondern eben vorrangig, d.h. zu Beginn das Wohl des Kindes geprüft wird.

Frage 7: An welcher Stelle und in welcher Formulierung halten Sie die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz für sinnvoll?
Was halten Sie für erfolgversprechender, spezielle Kinderrechte in das Grundgesetz zu integrieren oder ggf. sie als Staatsziel festzuschreiben?
Sollte der Verfassungsgeber die Aufnahme von Individualrechten des Kindes durch eine Staatszielbestimmung, „für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen“, ergänzen?

Ich spreche mich für spezielle Kinderrechte in der Verfassung aus und meine nicht, dass sie nur als „Staatsziel“ formuliert werden sollten. Erfahrungsgemäß haben Staatsziele, wenn überhaupt, nur eine sehr indirekte und vor allem verspätete Auswirkung auf das staatlichen Handeln. Dafür aber ist aus hiesiger Sicht keine Zeit mehr.

Frage 10: Hätte eine Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung Auswirkungen auf die Rücknahme der einschränkenden Interpretationserklärungen der Bundesrepublik Deutschland gegen die UN-Kinderrechtskonvention?

Die Bundesrepublik Deutschland hat bei ihrer einschränkenden Interpretationserklärung zu der UN-Kinderkonvention u.a. ausgeführt, Art. 18 des Übereinkommens bedeute nicht, dass mit Inkrafttreten der Konvention das elterliche Sorgerecht auch bei Kindern, deren Eltern keine Ehe eingegangen sind, automatisch und ohne Berücksichtigung des Kindeswohls im Einzelfall beiden Eltern zustehe. Deshalb hat die Bundesregierung erklärt, dass das Übereinkommen den innerstaatlichen Regelungen über die gesetzliche Vertretung Minderjähriger bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, über das Sorge- und Umgangsrecht bei ehelichen Kindern und über die familien- und erbrechtlichen Verhältnisse nichtehelicher Kinder nicht berühren. Diese einschränkende Interpretation ist zum Teil durch die nachfolgende Kindschaftsrechtsreform von 1997, in Kraft seit 1998, obsolet geworden. Allerdings haben bis heute Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind oder waren, nicht automatisch das gemeinsame Sorgerecht. Insoweit hat die einschränkende Interpretation der Bundesregierung noch Gültigkeit. Je nach dem, wie man ein Grundrecht des Kindes formuliert, könnte ein solches Grundrecht die jetzige Regelung des § 1626 a BGB berühren. Denn wenn das Kind, wie in Art. 18 Abs. 1 der UN-Kinderkonvention geregelt, einen Anspruch darauf hätte, dass beide Eltern gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind, müsste § 1626 a BGB dahin geändert werden, dass mit der Geburt des Kindes beide Eltern sorgeberechtigt sind.

Soweit die Bundesregierung einen Vorbehalt in Bezug auf Art. 40 gemacht hat (Behandlung des Kindes in Strafrecht und Strafverfahren), bezieht sich dieser Vorbehalt darauf, dass ein Kind nach der Konvention im Falle einer Verletzung der Strafgesetze Anspruch auf unverzüglichen und unmittelbaren Beistand zu seiner Verteidigung hat und dass die Verurteilung des Kindes durch eine weitere Instanz überprüft werden muss.

Die Bundesregierung hat erklärt, dass bei Strafen von geringerer Schwere dies nicht in allen Fällen gelten soll. Je nachdem, wie ein Grundrecht des Kindes auf Schutz im Strafverfahren formuliert würde, wäre dieser Vorbehalt der Bundesregierung berührt.

Und schließlich ergibt sich aus dem Vorbehalt der Bundesregierung, dass sie nicht bereit ist, widerrechtlich eingereisten Kindern und Jugendlichen Aufenthalt zu erlauben und sich das Recht vorbehält, Gesetze zu erlassen, die einen Unterschied zwischen Inländern und Ausländern machen.

Je nachdem, ob Kinder nicht deutscher Herkunft dieselben künftigen Grundrechte eingeräumt werden wie Kindern deutscher Herkunft, wäre auch dieser Vorbehalt der Bundesregierung tangiert.

Abschließend erlaubt sich die Unterzeichnende folgende Bemerkung: Artikel 24 der EU-Grundrechtecharta könnte ein guter Ausgangspunkt für die Übernahme von Kinderrechten in das Grundgesetz sein. Diese Vorschrift lautet:

„Rechte des Kindes
1. Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
2. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
3. Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkten Kontakt zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“

Daneben aber müsste in die Verfassung unbedingt ein Grundrecht auf Bildung und bestmögliche Förderung aufgenommen werden. Vorbild könnte Art. 29 der UN-Kinderrechtskonvention sein, worin die Inhalte der Bildung eines Kindes im einzelnen geregelt sind, u.a. das Recht des Kindes, seine Persönlichkeit, seine Begabung und seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen.

Deshalb wird vorgeschlagen, die oben genannte Norm „Rechte des Kindes“ zu ergänzen. Abs. 1 sollte ergänzt werden um folgenden Satz 2: „Sie haben das Recht auf Bildung und auf bestmögliche Entwicklung und Förderung ihrer Persönlichkeit, ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten.“

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ist Rechtsanwältin, Justizsenatorin a.D. und Vorsitzende des Kuratoriums der Deutschen Liga für das Kind in Berlin.

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