09 Jun fK 6/11 Gebhardt
Inklusion in der Kommune
Alle Bürgerinnen und Bürger sind gefragt
Von Irene Gebhardt
In Wiener Neudorf, einer 9.000 Einwohner Gemeinde am südlichen Stadtrand von Wien (Österreich), gibt es seit Februar 2006 ein Projekt der besonderen Art: das Inklusionsprojekt. Es nahm seinen Ausgangspunkt bei den Bildungseinrichtungen der Gemeinde – den vier Kindergärten, der 16-klassigen Grundschule und den beiden Horten – und umfasst mittlerweile den ganzen Ort. Ziel ist, eine Kultur des Miteinanders zu entwickeln und inklusive Werte zu Parametern für Planen und Handeln in allen Bereichen des Zusammenlebens im Ort werden zu lassen. Der Index für Inklusion – in all seinen unterschiedlichen Zugängen für Schulen, Kindertagesstätten und Kommunen – ist Wegweiser und Begleiter im Prozess.
Alle sind willkommen
Der Begriff Inklusion wird in verschiedenen fachlichen Zusammenhängen aber auch mit unterschiedlichen Zugängen gebraucht. Es ist daher erforderlich, den eigenen Zugang darzulegen. Inklusion baut auf den Kinder- und Menschenrechten auf. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet der Begriff u. a. Zugehörigkeit. Im Inklusionsprojekt erhielt er die Bedeutung des Willkommenseins: Alle sind willkommen. Ein Willkommenheißen impliziert automatisch Anerkennung, Respekt und Wertschätzung – für mich selber, für mein Gegenüber, für die Mit- und Umwelt. Inklusion als Haltung Mensch und Umwelt gegenüber. Bruno Achermann – Berater für inklusive Schulentwicklung, Luzern – hat die unterschiedlichen Zugänge folgendermaßen dargestellt:
((Bild einfügen: Ebenen von Inklusion, fehlt in Onlineversion))
Am Ausgangspunkt steht das Individuum mit Entwicklungsbeeinträchtigung. Erweitert man den Fokus kontinuierlich, wird nach und nach die gesamte Reich- und Tragweite von Inklusion sichtbar: Inklusion als ein gesamtgesellschaftliches Projekt, als Haltung der Mit- und Umwelt gegenüber. Es ist wie beim Heben einer Taschenlampe: Der Lichtkegel wird größer, es wird immer mehr „Umgebung“ sichtbar. Zusammenhänge werden deutlich, Eindrücke relativiert. Ein umfassenderes, ganzheitlicheres Bild entsteht und plötzlich eröffnen sich auch neue Sicht- und Handlungsmöglichkeiten.
In der – im Frühjahr dieses Jahres in Großbritannien neu erschienen – „Green Edition“ des Index für Inklusion wurde der Fokus ebenfalls in diesem Sinne erweitert: Neben sozialer und kultureller Vielfalt ist nun auch die biologische Vielfalt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Tony Booth, einer der Autoren des Index für Inklusion, meint dazu: „Es macht wenig Sinn, Kinder und Jugendliche in Situationen, Gemeinschaften oder Umfelder zu integrieren, ohne uns um die Qualität der Welt zu kümmern, in die wir sie hineinbringen“ (Booth, 2008).
Auch das eben erschienene Praxishandbuch zum kommunalen Index „Inklusion vor Ort“ nimmt nachhaltiges, Vielfalt wertschätzendes Verhalten Mensch und Umwelt gegenüber in den Fokus. Die Kommune wird als überschaubare Verantwortungsgemeinschaft definiert, in der sich der Einzelne selbstwirksam erleben kann (Montagstiftungen, 2011). Es liegt also an uns allen, in unserem Umfeld, in unserer Kommune, für einen inklusiven Dialog zu sorgen und die Vielfalt willkommen zu heißen.
Wege entstehen, indem man sie geht
Inklusion leben bedeutet, inklusive Werte wie Anerkennung von und Respekt gegenüber Vielfalt, selbstbestimmte Teilhabe, Gemeinschaft, Gleichberechtigung, Fairness, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Mitgefühl, Mut, Ehrlichkeit, Nachhaltigkeit und Freude mit Leben zu füllen.
werden – als Ressource, auf der man inklusive Qualität auf- bzw. ausbauen kann. Da gab es die 20-jährige Erfahrung im gemeinsamen Leben, Lernen und Spielen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung in allen Bildungseinrichtungen im Ort. Dies machte erstmalig deutlich, was Anerkennung von und wertschätzender Umgang mit Vielfalt bedeutet. Es führte zu mehr Sensibilität allen Kindern gegenüber und veränderte Haltungen, Strukturen und Praktiken nachhaltig. Für den Start war eine gehörige Portion Mut nötig, denn die damalige Direktorin startete den Schulversuch, ohne jemals eine schriftliche Genehmigung dafür erhalten zu haben. Die Kinder brauchten die Möglichkeit jetzt, die Eltern und Lehrerinnen waren einverstanden, das war für die Leiterin Legitimation genug.
Der jetzige Bürgermeister der Gemeinde war damals als Vater dreier nichtbehinderter Kinder Elternvereinsobmann und bereitete in dieser Funktion die Einrichtung der Klasse wesentlich mit vor. Der jetzige Vizebürgermeister ist zugleich Bezirksschulinspektor (Schulrat) und hat schon allein aufgrund dieser Funktion ein essentielles Interesse an Bildungsfragen. Als Hauptschullehrer bereitete er vor 18 Jahren federführend den Übergang der damaligen Integrationsklasse in die Sekundarstufe vor. Heute kann jedes Kind im Bezirk seine Schullaufbahn im integrativen Setting durchlaufen. Erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung sind im Gemeindeleben integriert – in der Arbeitswelt sowie auch im Vereinsleben.
In der Gemeinde gibt es traditionell ein hohes Engagement der Gemeindeführung für alle Bildungseinrichtungen sowie der Bildungseinrichtungen für alle Kinder. Auch in den örtlichen Vereinen sind alle Kinder willkommen. Motor für neue Überlegungen war schließlich der Wunsch der Kindergärten und der Horte, mehr mit der Schule zusammenzuarbeiten, die Übergänge gemeinsam zu gestalten sowie innerhalb der Schule der Wunsch nach mehr Austausch und interner Weiterentwicklung.
Mit dem Index für Inklusion, einer Materialiensammlung zur systematischen Reflexion der Praxis, war rasch eine gemeinsame Basis gefunden. Die Tatsache, dass der Index in seinen verschiedenen Fassungen – für Schulen, für Kindertagesstätten und nun auch für Kommunen – unterschiedliche Zugänge ermöglicht, schafft den Rahmen, Inklusion als ein gesamtgesellschaftliches Anliegen zu begreifen.
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Die Ziele für das gemeinsame Vorhaben waren rasch formuliert:
– Aufbau einer Kultur des Miteinanders auf Basis der inklusiven Werthaltungen
– Ermöglichung von stressfreien, entwicklungsförderlichen Nahtstellen
– Optimierung der Ressourcen zur Unterstützung für Inklusion durch effiziente, Institutionen übergreifende Zusammenarbeit
– Aufbau eines Netzwerks mit bestehenden und zukünftigen Einrichtungen im Ort
– Entwicklung inklusiver Kulturen, Strukturen und Praktiken im Schulalltag im Rahmen von Schulentwicklung
– Etablierung einer Kultur der Qualitätssicherung über Selbstevaluation auf Basis des Index für Inklusion
Alle sind und werden gefragt
Das Inklusionsprojekt ist ein Projekt der Basis. Es gehört den Menschen, die da leben oder arbeiten. Es ist daher selbstverständlich, dass alle gefragt sind und auch gefragt werden. Einer unserer Grundsätze für das Projekt – er ist bis heute gültig – lautet: Alle, die von einer Sache betroffen sind, gehören an den Tisch. Jede Meinung ist gleichwertig.
Aber wie bringt man alle an den Tisch? Wie startet man den inklusiven Dialog? Zunächst brauchte das Projekt ein Steuerteam. Da das Vorhaben in den Bildungseinrichtungen den Ausgang nahm, bildeten Vertreter(innen) jeder Einrichtung, der Eltern sowie der Gemeinde als Erhalter das Steuerteam, das Index-Team. Dieses Team hat die Projektleitung und Projektsteuerung in einem. Es trifft sich in regelmäßigen Abständen – etwa alle sechs Wochen – um das Projekt inhaltlich und organisatorisch weiter zu entwickeln. Mittlerweile hat sich der Kreis der Mitglieder erweitert. Eltern, deren Kinder bereits der Grundschule entwachsen sind, blieben teilweise als Bürger(innen) des Ortes. Vereinsvertreter(innen) kamen dazu und eine Vertreterin der örtlichen Musikschule. Mittlerweile zählt das Steuerteam an die 20 Mitglieder. Nicht immer sind alle da, aber ausreichend viele, dass das Team arbeiten kann. Das per E-Mail ausgeschickte Ergebnisprotokoll hilft mit, alle auf dem aktuellen Informationsstand zu halten.
Der Schulentwicklungsprozess wurde während der ersten beiden Jahre von einem Schulsteuerteam gelenkt. In diesem Team waren Vertreter(innen) der Pädagoginnen sowie der Eltern. Mittlerweile hat sich die Schule personell stark erneuert. Zahlreiche Kolleginnen gingen in Pension, neue kamen nach. Das Team musste sich neu finden und einarbeiten. Arbeitsgruppen in unterschiedlicher Zusammensetzung, Anzahl und von unterschiedlicher Dauer – je nach Bedarf – bemühen sich um inhaltliche oder organisatorische Fragen sowie um die Weiterentwicklung von Modellen der Zusammenarbeit an den Nahtstellen. Für die ersten drei Jahre wurde das Projekt auch wissenschaftlich begleitet. Frau Dr. Maria-Luise Braunsteiner von der Pädagogischen Hochschule für Niederösterreich übernahm die Leitung des Forschungsprojekts.
((Bild einfügen: Projektorganisation, fehlt in Onlineversion))
Zu Projektbeginn – im Mai 2006 – wurden dann tatsächlich alle befragt: alle Pädagog(inn)en und Mitarbeiter(innen) der Kindergärten, der Schule sowie der Horte, alle Eltern und alle Kinder ab dem letzten Kindergartenjahr. Über 1.400 Fragebögen auf Basis der Indikatoren des Index für Inklusion – abgestimmt auf Entwicklungsstufen der Kinder und Einrichtung – wurden ausgegeben. Der Rücklauf war mit 77,8 Prozent überraschend hoch. Die Menschen – Kinder wie Erwachsene – fühlten sich ernst und wichtig genommen. Es war ihnen ein Anliegen, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Die Auswertung bestätigte den hohen Willkommenfühlfaktor in allen Einrichtungen, machte aber auch auf die potentiellen Baustellen aufmerksam: Kommunikation und Konfliktmanagement. An diesen Arbeitsfeldern wird noch immer gearbeitet.
Beinahe sechs Jahre sind seither vergangen. Das Projekt hat längst den ganzen Ort erfasst. Die Sicherung von selbstbestimmter Teilhabe, der Austausch an den Übergängen, die Schaffung von Gelegenheiten zum gemeinsamen Lernen und gemeinsamen Feiern sowie die Vernetzung nach innen und außen haben das Projekt ständig weiter entwickelt, ihm Präsenz und Nachhaltigkeit verliehen. Mit der Auszeichnung als Dekadenprojekt der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ durch die Österreichische UNESCO-Kommission im Herbst 2006 wurde dies noch verstärkt.
Im Mai 2011 erreichte das Projekt mit der Auftaktveranstaltung zur Leitbildentwicklung für „Wiener Neudorf 2030“ einen neuen Höhepunkt. Wiener Neudorf war 2010/11 Pilotgemeinde für die Erprobung und Entwicklung des Handbuchs zum kommunalen Index „Inklusion vor Ort“ (Montagsstiftungen, 2011). Neben Wiebke Lawrenz und Barbara Brokamp von den Montagstiftungen trug auch eine Hamburger Moderatorin ganz wesentlich zum Gelingen der Veranstaltung bei: Yvonne Vockerodt von „Kindersicht“. Die Besucher(innen) der Veranstaltung waren bunt gemischt. Jedes Thema ermöglichte mehrere Zugänge, somit konnte sich jede und jeder einbringen, wie und wo sie oder er wollte. Jede Meinung wurde ernst genommen und dokumentiert. Die Veranstaltung wurde ein voller Erfolg.
In Folgeveranstaltungen und diversen Arbeitsgruppen sind nun wieder alle Bürgerinnen und Bürger gefragt, an der Umsetzung inklusiver Werte in den einzelnen Handlungsbereichen mitzuarbeiten.
Was bisher erreicht wurde
Teilhaben und Teil sein
Das Projekt bewirkte einen nachhaltigen Demokratisierungsschub in allen Bereichen: im internen Umgang miteinander aber auch in der Kommunikation zwischen den Einrichtungen und nach außen. Der erste große Meilenstein war wohl das Zustandekommen der ersten Sitzung des Index-Teams, da hier erstmalig Menschen aus unterschiedlichen (Bildungs-)Bereichen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und unterschiedlichen vorgesetzten Stellen zusammenkamen.
Diesem folgte gleich der nächste Meilenstein: die Öffnung der Konferenzen zu Schulgemeinschaftskonferenzen bei Entscheidungen, die für alle wichtig sind, wie beispielsweise die Erstellung des Schulleitbildes nach inklusiven Parametern oder die Entwicklung des Roten Fadens für das Zusammenleben in der Schule. In solchen Konferenzen sind neben allen Pädagog(inn)en und Mitarbeiter(inne)n der Schule auch die Klassensprecher(innen), die Elternvertreter(innen) sowie Bürgermeister und Vizebürgermeister anwesend. Sie diskutieren und arbeiten auf gleicher Augenhöhe miteinander. Die Ergebnisse tragen alle gleichermaßen mit.
((Bild einfügen: SCHUG Roter Faden, fehlt in Onlineversion))
Die Mitsprache der Schulkinder ist darüber hinaus auch durch das Kinderparlament gesichert. Einmal im Monat treffen die Klassensprecher zusammen, um gemeinsam diverse Anliegen zu besprechen. Das erste Vorhaben – gleich zu Beginn des Projekts – galt der Gestaltung des Schulgartens. Wie es die Kinder bei der großen Befragung durch die wissenschaftliche Begleitung gelernt hatten, gestalteten auch sie Fragebogen für alle Klassen, sammelten die Ergebnisse und werteten sie aus. Ihre Arbeit stellten sie auf großen Plakaten – für alle sichtbar – in der Aula aus. Die Vorschläge wurden auch dem Gemeinderat präsentiert und von diesem genehmigt. Heute ist der Plan längst Realität. Kindergarten und Horte nutzen den Garten mit. Er ist nach wie vor ein Highlight für alle Kinder!
Im Rahmen des Generationendialogs sind Seniorinnen und Senioren eingeladen, in Kindergärten, Schule und Horten ihre Erfahrungen und Stärken mit den Kindern zu teilen. Da wird vorgelesen, gewerkt, gebaut, gekocht, konstruiert, geplaudert und gelacht und in vielfacher Weise gelernt – voneinander und miteinander.
Zur Nachhaltigkeitskonferenz, im April 2009, waren erstmals auch Menschen von außerhalb eingeladen, das Projekt zu reflektieren und Ideen für die Zukunft zu entwickeln: Vorgesetzte aus Land und Bund, Angehörige der pädagogischen Hochschulen und die Teilnehmer(innen) des Hochschullehrgangs Kommunale Bildung. Gemeinsam mit den Kindern, Vertreter(inne)n der Bildungseinrichtungen, der Eltern und der Gemeinde wurde diskutiert und visioniert. Das Ergebnis dieser Konferenz machte deutlich: Das Inklusionsprojekt ist nicht nur ein Projekt der Bildungseinrichtungen, es betrifft den ganzen Ort in all seinen Bereichen.
Gestaltung von Übergängen
Den Kindergärten und der Schule war es ein Anliegen, den Kindern und ihren Eltern einen bestmöglichen Start in das Schulleben zu ermöglichen. Vertrauen und Sicherheit sollten aufgebaut, Kompetenzen erweitert werden. So entstanden im Rahmen der Arbeitsgruppe Kindergarten-Schule eine Reihe von kleinen Projekten wie das Bilderbuchkino und Lesepartnerschaften, bei denen Schulkinder und Kindergartenkinder einander gegenseitig besuchen und die Schulkinder die Lieblingsbücher der Kindergartenkinder vorlesen. Manchmal schreiben und zeichnen auch die Schulkinder selber ein Buch für die „Kleinen“. Diese Partnerschaft dauert zwei Jahre. Die Kindergartenkinder fühlen sich dann schon sicher in der Schule und freuen sich sehr darauf, selber lesen zu lernen. Die Schulkinder genießen die Bewunderung.
((Bild einfügen: Bilderbuchkino, fehlt in Onlineversion))
Für die Eltern entstand die Idee einer Elternschule mit sechs Vorträgen zu Themen, die sich rund um den Schuleintritt stellen. Drei Veranstaltungen finden noch im Kindergarten statt, drei im ersten Schuljahr. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Idee kam gut an, die Vortragsreihe wird in diesem Jahr wieder neu gestartet werden.
Austausch und Zusammenarbeit gibt es auch am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe. Lehrer(innen) unterschiedlicher Schulen der Sekundarstufe I kommen in regelmäßigen Abständen in die vierten Klassen der Grundschule und halten gemeinsam mit den Grundschullehrer(inne)n Unterrichtssequenzen aus dem naturwissenschaftlichen, sportlichen oder musischen Bereich. Für alle Beteiligten eine große Chance, einander näher zu kommen und viel voneinander zu lernen!
Die sensible, konstruktive Gestaltung von Übergängen bezieht sich auf alle Nahtstellen und Brüche im Leben der Kinder. Sie sind immer wieder Thema in Eltern- oder Round-Table-Gesprächen sowie in pädagogischen Konferenzen in der Schule aber auch zwischen Schule und Horten. Diese gemeinsamen Konferenzen sind ein Ergebnis der regelmäßig tagenden Arbeitsgruppe Schule-Horte. Sie werden zweimal im Jahr abgehalten. Um der Verschwiegenheitspflicht Genüge zu tun, holen sich die Horte zu Schulbeginn die Genehmigung der Eltern, mit der Schule über ihr Kind sprechen zu dürfen. Der Institutionen übergreifende Austausch macht es möglich, zugunsten der Kinder gemeinsame Konzepte zu entwerfen, an einem Strang zu ziehen. Immer öfter werden die Hortpädagog(inn)en auch zur kommentierten Leistungsvorlage eingeladen, bei der die Kinder ihren Eltern die Leistungen des letzten Semesters präsentieren. Ein intensives Erlebnis für alle Seiten, das innere Verbundenheit schafft!
Übergänge beziehen sich nicht nur auf den Wechsel von einer Einrichtung in die andere. Sie ergeben sich auch durch andere Ereignisse, wie z. B. Migration. Im Rahmen eines Comenius-Regio-Projekts ist die Zeit von September 2010 bis Juni 2012 ganz speziell diesem Thema gewidmet. Von den Bildungseinrichtungen bis zur Gemeindeverwaltung wurden Ideen entwickelt, diesen Übergang zu erleichtern. Zum einen geht es darum, sensibel zu machen für unterschiedliche Sprachen und Kulturen, um die Wertschätzung der eigenen Sprache und zum anderen um Hilfestellungen im Zurechtfinden in einer neuen Umgebung und einer neuen Sprache. Da werden Listen mit Mentor(inn)en und Übersetzer(inn)en zusammengestellt, muttersprachlicher Unterricht in verschiedensten Sprachen – u. a. auch in Chinesisch – angeboten und Texte und Mitteilungen in verschiedene Sprachen – auch in leichte Sprache – übersetzt. In der Schule sorgt eine interkulturelle Mitarbeiterin für Unterstützung der Schulgemeinschaft inklusive Eltern und darüber hinaus. Ein – unter der Leitung einer Theaterpädagogin – gemeinsam von Hortkindern, Kindergartenkindern und der Musikschule entwickeltes Musiktheaterstück ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Thema auf künstlerische Art.
Gemeinsam Lernen
Gemeinsames Lernen hat in diesem Projekt einen besonderen Stellenwert. Es schafft nicht nur eine gemeinsame Wissensbasis sondern – durch die meist sehr vielfältige und vielseitige Zusammensetzung der Lerngruppen – auch die Möglichkeit zu Lernerfahrungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. So fanden Schulungen und Coachings zu Gewaltfreier Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg statt, Workshops zur Arbeit mit dem Index für Inklusion sowie Vorträge mit Diskussion zu unterschiedlichen Themenbereichen. Das herausragende Erlebnis war aber wohl der Hochschullehrgang für „Kommunale Bildung“ – eine Kooperation zwischen der pädagogischen Hochschule für Niederösterreich und der Gemeinde Wiener Neudorf. Zu diesem Lehrgang gab es keine anderen Voraussetzungen als die Freude am gemeinsamen Forschen und Lernen. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten zählten zu den Teilnehmer(inne)n. „Jetzt endlich geht für mich das Tor zur Bildung auf!“, war der Kommentar während einer der ersten Reflexionsrunden. Der Lehrgang startete im Herbst 2009 und dauerte fünf Semester. Er machte alle – Studierende wie Vortragende – um viele wertvolle Erfahrungen und Einsichten reicher. 2010 wurde er mit dem Staatspreis für Erwachsenenbildung ausgezeichnet.
((Bild einfügen: Zertifikation, fehlt in Onlineversion))
Feste feiern
Feste sind der Kitt für die Entstehung tragfähiger Beziehungen. Spaß, Freude und gemeinsames Genießen lassen Menschen einander näher kommen. 2006 begann das Projekt mit einem Startfest. Mitglieder unterschiedlicher Vereine unterstützten die Kinder beim Bau eines Riesenmobiles. Es sollte als Symbol für das geplante Inklusionsprojekt dienen: für die Vielfalt, für Bewegung und für Balance, für Leichtigkeit und für Stabilität, für Individuelles und für Gemeinsames. Dieses bunte Miteinander ließ Inklusion erstmals spürbar und erlebbar werden.
Beim Inklusionsfest drei Jahre später waren sie wieder alle da: die Kinder, die Eltern, die Pädagog(inn)en der unterschiedlichen Einrichtungen, die Vereine, alle mit ihren vielfältigen Angeboten, und auch die Gemeindeführung sowie interessierte Bürger(innen). Mit Inklusion wurde nun schon das Entstehen einer Kultur des Miteinanders, der gegenseitigen Wertschätzung, des Willkommenheißens verbunden. „Inklusion als Lifestyle“ wurde als Motto für Wiener Neudorf ausgegeben.
Das „Fest der offenen Töpfe“ war als Auftakt für den Schwerpunkt „Sprachen und Kulturen“ gedacht. Es sollte Gelegenheit bieten, die Vielfalt der Wurzeln der Wiener Neudorfer(innen) kennen und wertschätzen zu lernen. Da wurden Speisen aus unterschiedlichen Regionen angeboten, es wurde musiziert und getanzt und in fremde Sprachen und Schriften geschnuppert. Das Fest war nicht – wie sonst üblich – als eine vom Veranstalter designte Veranstaltung gedacht, sondern als ein Fest von Menschen für Menschen. Was da war, wurde miteinander geteilt, miteinander und füreinander gestaltet. Es wurde so gut angenommen, dass es nun zu den fixen Veranstaltungen im Festereigen Wiener Neudorfs zählen soll.
Netzwerke bilden
Eines der Ziele im Projekt ist das Mobilisieren von Ressourcen zur Unterstützung von Inklusion über Zusammenarbeit mit Einrichtungen und Organisationen im engeren und weiteren Umfeld: unter den Bildungseinrichtungen sowie mit der Gemeinde, mit den Vereinen (Sportwoche, Angebote im Rahmen des Sportunterrichts, Naturführungen, Feste und Feiern…), mit der Musikschule (Bläserklasse, Musiktheater…), mit Künstler(inne)n des Ortes (Kreativwoche, Feste und Feiern…), mit den Senior(inn)en im Rahmen des Generationendialogs und nicht zuletzt mit der Pädagogischen Hochschule als wissenschaftliche Begleitung des Projekts und als Partnerin sowohl im Hochschullehrgang „Kommunale Bildung“ sowie in einem Comenius-Regio-Projekt mit Einrichtungen der Stadt Bonn. Schon der Projektstart wurde von prominenter Seite aus Deutschland unterstützt: Ines Boban und Andreas Hinz von der Universität Halle an der Saale, Herausgeber(innen) des deutschsprachigen Index für Inklusion, hielten den Eröffnungsvortrag bei der Startveranstaltung. Drei Jahre später moderierte Ines Boban gemeinsam mit Barbara Brokamp von den Montag Stiftungen die Nachhaltigkeitskonferenz. Jetzt gehören die Montag Stiftungen zu unseren Bonner Partnern im Comenius-Regio-Projekt. Gemeinsames Ziel in diesem Projekt ist die Weiterentwicklung der beteiligten Institutionen nach inklusiven Werten. Die gegenseitigen Besuche mit Hospitationen und gemeinsamen Reflexionen bereichern den Arbeitsalltag ungemein, schärfen den eigenen kritischen Blick, machen „blinde Flecken“ sichtbar, bringen Ideen und Anregungen und bieten Einblicke in unterschiedlich aufgebaute Systeme, unterschiedliche Herangehens- und Funktionsweisen sowie in die Verschiedenheit der Sprache, obwohl sie in beiden Ländern „Deutsch“ heißt.
((Bild einfügen: Comenius PA, nicht in Onlineversion))
Mit den Montag Stiftungen verband uns auch das Projekt „Praxishandbuch Kommunaler Index“. Die Stiftung erarbeitete das Handbuch in Anlehnung an eine in der Grafschaft Suffolk in Großbritannien entwickelte Version. Wiener Neudorf bekam als Pilotgemeinde die Chance, einerseits mit dem Handbuch den Zugang zum Thema Inklusion im Ort zu erweitern und andrerseits gleichzeitig vom breiten Erfahrungsschatz aus dem Netzwerk der Teilnehmer(innen) zu profitieren.
Seit August 2011 ist Wiener Neudorf Partner im Comenius-network CoDeS (Collaboration of Schools and Communities for Sustainable Development). Das Netzwerk besteht aus 28 europäischen Partnern aus 15 Ländern. Wiener Neudorf ist eingeladen, die bereits gesammelten Erfahrungen in der Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit der Kommune einzubringen. Die Einladung zur Mitarbeit kam von einer Abteilung des Unterrichtsministeriums, die nichts mit Sonderpädagogik zu tun hat. Menschen mit Beeinträchtigung sind selbstverständliche, gleichwertige, gleichermaßen respektierte und wertgeschätzte Mitglieder der Kommune, die ihren ganz spezifischen Beitrag zu einer lebenswerten Welt leisten. – Inklusion als Anliegen der Gesellschaft ganz allgemein.
Von „wunden Punkten“, „blinden Flecken“ und anderen Herausforderungen
„Inklusion ist politisch und konflikthaft“, steht in den Kernaspekten der Inklusion (Boban, Hinz 2004, S. 40). Auch das Inklusionsprojekt ist von Herausforderungen nicht verschont. Da sind z. B. die verschiedenen Zuständigkeiten übergeordneter Stellen mit ihren durchaus unterschiedlichen Sichtweisen in Kooperationsfragen. Inklusion ist eine Querschnittmaterie. Die nötigen Strukturen zur Herstellung der Querverbindungen fehlen allerdings. Das betrifft die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen untereinander ebenso wie jene in und mit der Kommune. Parteizugehörigkeit sowie Parteiinteressen und Parteipolitik spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle.
Ein „wunder Punkt“ ist die Kommunikation. Schon der Begriff Inklusion ist mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen belegt, meist abhängig vom individuellen Zugang. Jede Community hat ihre ganz spezifische „Fachsprache“. Das lässt Sprache eher als trennend statt als verbindend erleben. Eine Herausforderung bedeutet es auch, Kommunikationsstrukturen aufzubauen, die den inklusiven Parametern wie Teilhabe, Anerkennung von Vielfalt, Gleichberechtigung etc. standhalten. Jeder Personalwechsel – speziell in den Führungsebenen – bedeutet wieder Verunsicherung, Neuorientierung, neuerliche Konsolidierung. Alles Ehrenamt? – Auch diese Frage taucht immer öfter auf.
Immer wieder steht man im Spannungsfeld zwischen Ist-Zustand und Ideal. Der Faktor Zeit wirkt darin noch potenzierend. In all diesen Herausforderungen liegt aber auch eine große Chance. „Inklusion kann überall anfangen, hört aber nie auf“, ist im kommunalen Index zu lesen (Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 2011, S. 19). So zwingen die Schwierigkeiten und Hemmnisse zur ständigen Auseinandersetzung, zum laufenden Dialog und helfen damit, Barrieren ab- und Kooperation aufzubauen.
„Genauso wie man Sprechen nur in einer Sprachgemeinschaft durch Sprechen und Verstehen lernt, lernt man Sozialverhalten nur in einer Gemeinschaft, in und mit der man handeln darf und kann. Kooperation wird spielerisch gelernt, aber das Spiel heißt nicht Mensch ärgere dich nicht oder Monopoly. Es heißt Miteinander leben! Und es ist kein Spiel“ (Spitzer 2002, S. 314).
Irene Gebhardt ist Inklusionsbeauftragte in Wiener Neudorf, Österreich.
Literatur
Boban, Hinz (Hrsg.) (2003): Der Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in Schulen der Vielfalt entwickeln. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität.
Boban, Hinz (2004): Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische Entwicklungen in der „Schule für alle“. In: Heinzel, Geiling (2004): Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 37-48.
Booth, Ainscow (2012): Index for inclusion. Developing learning and participation in schools. Bristol: Centre of Studies on Inclusive Education (CSIE).
Ainscow, Kingston (2006): Index für Inklusion (Kindertageseinrichtungen für Kinder) – Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Originalfassung: CSIE, Bristol. Deutsche Fassung: GEW, Frankfurt am Main.
Booth (2008): Eine internationale Perspektive auf inklusive Bildung: Werte für alle? In: Hinz, Körner, Niehoff (Hrsg.) (2008): Von der Integration zur Inklusion: Grundlagen-Perspektiven-Praxis. Marburg: Lebenshilfe Verlag, S. 53-73.
Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (Hrsg.) (2011): Inklusion vor Ort. Der kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch. Berlin: Eigenverlag des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Spitzer (2003): Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag.
PH Niederösterreich: Hochschullehrgang Kommunale Bildung. Download unter: www.ph-noe.ac.at/ausbildung/lehrgaenge/lbk.html (Abruf 24.11.2011).
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