24 Jun fK 6/09 Wehrmann
„Wir werden nicht Bildungsrepublik, wenn wir nicht unten nachbessern“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Dr. Ilse Wehrmann, Beraterin für frühkindliche Bildung und Leiterin eines Krippenaufbauprogramms für die Unternehmen Daimler und RWE
Maywald:Die Bundeskanzlerin spricht davon, Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu machen. Was bedeutet dies für die Altersgruppe der null- bis dreijährigen Kinder?
Wehrmann: Wenn es in der Diskussion um Deutschland als Bildungsrepublik geht, ist der Bereich der frühen Bildung nach meiner Auffassung nicht im Blick. Da geht es um Schule und Hochschule, aber nicht um frühe Bildung. Die Bundesregierung hat ein Ausbauprogramm für die Krippen beschlossen, das jedoch nach wie vor sowohl ein quantitatives als auch ein qualitatives Problem hat, weil die Länder und Kommunen angesichts der Finanzsituation aufgrund des Wegbrechens der Gewerbesteuer mit dem Ausbau gar nicht nachkommen. Je mehr wir uns dem Jahr 2013 nähern, umso mehr wird die vulnerable Tagesmutter aus der Tasche gezogen, und auch das Thema Herdprämie. Solange nicht der Bund Standards setzt und zum Beispiel über ein Gutscheinsystem oder ein Kinderbafögsystem in die Finanzierung eingreift, werden wir die Bildungsungerechtigkeiten in unserem Land weiter zementieren und auch das Thema Inklusion, also die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und von Kindern mit Behinderungen, nicht lösen. Ich beanstande am meisten, dass wir die Bildung gerade der kleinen Kinder nach wie vor vom Bildungsstand der Eltern, ihren finanziellen Möglichkeiten sowie von der Finanzkraft der jeweiligen Kommune und der Einsicht ihres Bürgermeisters abhängig machen. Hier fehlt die notwendige staatliche Steuerung. Wir haben ein Problem mit den Rahmenbedingungen und mit der Qualifizierung des Personals. Es gibt in diesem Land keinen bildungspolitischen Konsens im Hinblick darauf, was kleine Kinder brauchen.
Maywald: Sie haben das Stichwort staatliche Steuerung genannt. Ist der Bund dazu aufgrund der zersplitterten Zuständigkeiten in Deutschland überhaupt in der Lage?
Wehrmann: Ich habe immer gedacht, wir hätten kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Inzwischen bin ich der Meinung, dass wir doch ein Erkenntnisproblem haben. Wir haben ein Problem zu erkennen, wie entscheidend in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland – einem Land ohne Rohstoffe – die ersten Jahre für Kinder sind. Das erkennen wir nicht und darauf reagieren wir nicht. Es ist nicht damit getan, dass wir jetzt ein Krippenausbauprogramm beschließen und das an die Berufstätigkeit von Eltern koppeln. Es geht um ein Bildungsangebot für Kinder und das muss gerade bei Kindern aus bildungsfernen Familien ansetzen. Darauf reagieren wir überhaupt noch nicht. Zwar gibt es jetzt an über 50 Hochschulen Bachelorstudiengänge für Erzieherinnen auf internationalem Niveau, aber keiner hat mit den Kommunen geredet, wie diese Erzieherinnen eigentlich angestellt werden sollen, keiner erkennt die Curricula des jeweils anderen an. Wir haben ein Trägerlabyrinth und ein Zuständigkeitswirrwarr. Es gibt keinen roten Faden, wohin wir in Deutschland im Hinblick auf kleine Kinder eigentlich wollen. Alle Länder in Europa, die Anfang der 1990er Jahre Bildungspläne für die Null- bis Sechsjährigen entwickelten, haben eine Ausbildungsreform eingeleitet. Bei uns ist es dem Zufall überlassen, ob eine Hochschule diesen Bereich für sich als Schwerpunkt erkennt. Damit zementieren wir die Bildungsungerechtigkeit. Wir brauchen in unserem Land etwas anderes als Kindergeld. Wir muten unseren Kindern einen enormen Schuldenberg zu und rüsten sie im globalen Wettbewerb nicht für die Konkurrenz mit Kindern aus anderen Ländern.
Maywald: Ist angesichts dieser Herausforderungen der deutsche Föderalismus überhaupt noch zeitgemäß?
Wehrmann: Ich glaube, dass der Föderalismus im Bildungsbereich uns eher das Genick bricht. Es ist ja für Kinder häufig ein größeres Problem, von Nord- nach Süddeutschland zu wechseln als von der Bundesrepublik in ein anderes Land. Im Kleinkindbereich ist es besonders extrem, weil es von der Finanzkraft einer Kommune und der Bildungseinstellung eines Bürgermeisters abhängt, ob man das Geld zum Beispiel für den Straßenbau ausgibt oder für Bildung. Und das darf nicht sein. Für meine Begriffe kann die Bundesregierung sicht damit nicht zufrieden geben. Das hat sie beim Krippenausbau auch erkannt, da hat sie über eine Stiftung einen Sonderfonds eingerichtet, mit der das Ausbauprogramm bezahlt wird, was sie normalerweise verfassungsrechtlich ja auch nicht hätte tun können. Es wäre für mich ein Leichtes, jetzt einen Pakt für Kinder zu schließen, ein Bildungskonjunkturprogramm aufzulegen, bei dem Bund, Länder, Kommunen und auch die Wirtschaft in eine Kinderkasse zahlen, um daraus zum Beispiel ein einheitliches Gutscheinsystem mit einer Qualitätskontrolle zu finanzieren. Stattdessen geht jetzt die Wirtschaft vorweg. Fast alle großen deutschen Unternehmen richten Betriebskindergärten ein. Das etabliert aber eine Zweiklassengesellschaft, die wir ja eigentlich nicht wollen. Die Unternehmen machen es aus der Not, weil sie wissen, sie bleiben nur Wirtschaftsstandort, wenn sie auch Bildungsstandort sind. Sie sind für Fachkräfte aus dem Ausland sonst auch gar nicht interessant. Alle wissen, dass ab 2014 ein eklatanter Fachkräftemangel droht. Darauf stellt sich die Wirtschaft mit ihren betriebsnahen Einrichtungen ein. Das kann die Bundesregierung nicht weiter ignorieren. Wir brauchen ein großes Bündnis für Kinder und die Tür bei der Wirtschaft ist dafür noch nie so weit offen gewesen wie gerade jetzt. Wenn wir keine Zweiklassengesellschaft wollen, dann muss anders staatlich gesteuert und reguliert werden und so wie wir es mit dem Ausbauprogramm gesteuert haben, müssen wir es jetzt mit den Inhalten angehen.
Maywald: Bereits heute geben eher die bildungsnahen Eltern ihr Kind in eine Krippe. Wie würde sich in dieser Situation die Einführung eines Betreuungsgeldes auswirken?
Wehrmann: Es würde dazu führen, dass viele bildungsfernen Eltern ihr Kind lieber zu Hause behalten würden. Und dies würde uns mitnichten in der frühkindlichen Bildung weiterbringen. Das erhöht nicht die Chancengleichheit bei den Kindern. Die bildungsstarken Eltern werden mit ihren Kindern andere Wege gehen. Dass dies von der Politik nicht erkannt wird, dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Dabei ist es nahe liegend, dass jemand, der am Existenzminimum lebt und dann 20 Euro mehr bekommt, damit etwas anderes macht als seine Kinder zu fördern. Warum legt man nicht zum Beispiel 15 Euro Kindergeld zur Seite, richtet eine Kinderkasse ein und macht daraus ein Bildungssystem für alle Kinder. Es wird immer noch gewisse Chancenungleichheiten geben, das ist gar keine Frage. Aber zur Zeit zementieren wir gerade mit dem Thema Kindergelderhöhung die Bildungsungleichheiten. Und das können wir uns überhaupt nicht erlauben. Wir haben so wenige Kinder in unserem Land und wir können uns nicht erlauben, auch nur ein einziges Kind zu verlieren. Gerade bei den bildungsfernen Familien ist es wichtig, sie möglichst früh für die Bildungseinrichtungen zu gewinnen. Gute Krippen sind eine Frage der Qualität und je jünger die Kinder sind, desto besser muss die Qualität der Ausbildung sein, und desto besser auch die Rahmenbedingungen. Das haben wir in Deutschland immer anders gesehen. Wir müssen also die Pyramide andersherum aufbauen, eher nach oben ausdünnen als nach unten. Wir haben mit den Universitäten Schlösser auf Sand gebaut, wenn wir nicht zu einer anderen frühen Bildung kommen. Auch das Thema Beitragsfreiheit würde ich eher hinten anstellen. Es muss bezahlbare Kindergärten geben und wir dürfen das Ziel der Beitragsfreiheit nicht aus dem Auge verlieren. Aber wir haben gegenwärtig vor allem ein quantitatives und ein qualitatives Problem. 2013 ist nicht mehr so weit weg, wir haben noch ein gewaltiges Ausbaupotential vor uns und ich erlebe das Tempo sehr schleppend. Da würde ich mir wünschen, dass der Bund nochmals regulierend tätig wird und vor allem im Sinne einer Qualitätskontrolle eingreift.
Maywald: Wenn es um Qualitätsmindeststandards geht, wer hätte in Deutschland überhaupt die Autorität, darüber zu entscheiden? Wie könnte das praktisch geregelt werden?
Wehrmann: Ich könnte mir vorstellen, dass wir zusammen mit Bund, Ländern und Kommunen, die ja alle einzeln nach Lösungen suchen, über einen Staatsvertrag zu Verabredungen über Standards kommen. Der internationale Personalschlüssel liegt bei Kindern unter drei Jahren bei eins zu drei. Die deutsche Realität ist davon sehr abweichend, je nach Bundesland und Kommune, bis hin zu eins zu zehn oder eins zu zwölf. Da kann man sich vorstellen, was das für die Entwicklung der Kinder bedeutet. An dieser Stelle haben wir kein Forschungsdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Ich glaube, dass das nicht ohne einen Runden Tisch geht, der von Frau Merkel einberufen wird. Wir werden nicht Bildungsrepublik, wenn wir nicht unten nachbessern und bei den Kleinen anfangen. Bildung für alle von Anfang an muss die Devise sein.
Maywald: Eltern interessiert nicht nur, ob Mindeststandards eingehalten sind, sondern Eltern wollen die beste Einrichtung für ihr Kind. Befürworten Sie, ein Gütesiegel oder sogar ein Ranking einzuführen?
Wehrmann: Ja, im Prinzip bin ich für ein Ranking und für eine Qualitätskontrolle, für ein Gütesiegel unbedingt, aber erst wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Denn solange wir keinen Konsens über die Rahmenbedingungen haben, bleiben die Erzieherinnen im Ranking die Verlierer. Denn sie können nicht die politische Verantwortung dafür tragen, dass sie diese Arbeitsbedingungen haben. Und insofern dürfen wir den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun. Ich bin für ein einheitliches Gutscheinsystem in ganz Deutschland, für eine Platzpauschale mit verbindlichen Qualitätskriterien und einem verbindlichen Curriculum.
Maywald: Sie haben deutlich gemacht, dass die Politik an verschiedenen Punkten gleichzeitig tätig werden muss. Was sollte oberste Priorität haben?
Wehrmann:Oberste Priorität muss sein, dass wir zu einheitlichen Rahmenbedingungen kommen. Damit nicht die Finanzkraft einer Kommune darüber entscheidet, wie sich Kinder entwickeln. Also Personalschlüssel, Gruppengrößen etc. festlegen, das müsste der allererste Schritt sein. Und der zweite Schritt müsste sein, ein berufsbegleitendes Weiterbildungsstudium auf Hochschulniveau mit internationalen Anschlussfähigkeiten zu schaffen. Und das wird man nur über einen Pakt mit Bund, Ländern, Kommunen und der Wirtschaft gemeinsam in so etwas wie einem Staatsvertrag erreichen. Ich wünsche mir, dass die Bundeskanzlerin, die sehr deutlich die Probleme kennt, das Thema frühe Bildung zu einem Chefthema macht und die Hauptakteure zu einem Runden Tisch ins Kanzleramt einlädt.
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