fK 6/09 Hédervári Maywald

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Von der Eingewöhnung zur Erziehungspartnerschaft

von Éva Hédervári-Heller und Jörg Maywald

Teil 1: Eingewöhnung (Éva Hédervári-Heller)

Der Übergang von Kindern in den ersten drei Lebensjahren aus der Familie in die Tagesbetreuung erfolgte lange Zeit ohne Einbeziehung der Eltern oder anderer vertrauter Bezugspersonen. Diese aus heutiger Sicht nicht hinnehmbare Situation führte bei den Krippenkindern zu lang anhaltenden Perioden von Weinen oder Protest und zu hohen Erkrankungsraten (Laewen 1989). Die Frage, ob die außerfamiliäre Tagesbetreuung von Kleinkindern zu einem derartigen Risiko für die kindliche Entwicklung wird und ob zwischen den Eltern und dem pädagogischen Fachpersonal eine Erziehungspartnerschaft entstehen kann, hängt wesentlich von der Gestaltung des Eingewöhnungsprozesses ab.

Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass Kinder insbesondere in den ersten drei Lebensjahren beim Wechsel der Betreuungssituation leicht irritierbar sind. In diesem Alter reagieren sie auf die Trennung von primären Bezugspersonen in hohem Maße empfindlich. Trotz ihrer gut funktionierenden sozial-emotionalen Kompetenzen sind sie auf die Unterstützung von vertrauten Bindungspersonen angewiesen, um sich mit einer neuen Umgebung vertraut zu machen und zu anderen Erwachsenen und Kindern emotional tragende Beziehungen aufzubauen. Nur so kann vom Kind die kurze, täglich wiederkehrende Trennung von den Eltern als nicht bedrohlich erlebt werden.

Eingewöhnung aus Perspektive des Kindes
Belastungen: Der Übergang aus der Familie in die Tagesbetreuung ist für das Kind mit einer Reihe von Belastungen verbunden. Es muss sich mit einer fremden Umgebung, einem veränderten Tagesablauf sowie mit fremden Personen und Ritualen vertraut machen. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben erlebt das Kind eine täglich wiederkehrende Trennung von seinen Eltern. Der Beginn der Tagesbetreuung bedeutet daher eine besondere Herausforderung an die bisherigen Lebensgewohnheiten des Kindes und stellt große Anforderungen an seine Anpassungsleistung.

Während der kritischen Entwicklungsphase zwischen dem sechsten und dem 24. Lebensmonat reagieren Kinder besonders empfindlich auf einen Wechsel der Betreuungssituation und auf die Trennung von den Eltern. Die leichte Irritierbarkeit von Kindern in diesem Alter ist vor allem mit der Entstehung der Bindungsorganisation (Bowlby 1969) und möglicherweise mit dem Aufbau eines komplexen Gedächtnissystems (Entwicklung der Symbolisierung und der Mentalisierung) zu erklären. (Fonagy et al. 2004).

Ressourcen des Kindes: Untersuchungen im Rahmen der Bindungsforschung zeigen, dass bereits sehr junge Kinder dazu in der Lage sind, neben ihren primären Bindungspersonen auch zu anderen Erwachsenen ihrer engsten Umgebung Bindungen aufzubauen, das heißt auch zu ihren Krippenerzieherinnen. Welche Bindungsqualität Kinder zu ihren Erzieherinnen entwickeln werden, ist hauptsächlich von deren Feinfühligkeit gegenüber den Signalen des Kindes abhängig, sowie von ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Kinder sind früh dazu in der Lage, sich an Veränderungen anzupassen und auf Trennungen nicht in jedem Fall mit Trennungsangst oder mit Beeinträchtigungen ihrer psychischen Entwicklung zu reagieren. Bei entsprechender Unterstützung durch eine Bindungsperson können Veränderungen des Betreuungsmilieus sogar entwicklungsfördernd sein. Schließlich sind Kinder von Geburt an neugierig und zeigen Interesse an neuen Erfahrungen mit der sozialen und sachlichen Umwelt. Das Bekannte und Vertraute kann auch schnell langweilig werden.

Entlastungen des Kindes: Eine am Grundbedürfnis nach Bindung orientierte Eingewöhnungspraxis ist eine wichtige Voraussetzung für die gesunde psychische Entwicklung des Kindes. Sie ist zudem auch die Grundlage für altersangemessenes Explorationsverhalten und damit für Lern- und Bildungsprozesse in der Tagesbetreuung. In den ersten drei Lebensjahren ist nämlich Bildung das Ergebnis von Erfahrungen und Erkenntnissen im Austausch mit der sozialen und sachlichen Umwelt (Schäfer 1995).

Kinder brauchen feinfühlige Erwachsene, die dazu in der Lage sind, sich auf ihre Bedürfnisse einzustellen und im Sinne der Selbstreflexion das eigene Erzieherverhalten immer wieder in Frage zu stellen und zu verändern. Ein sicheres Dreieck in der Beziehung zwischen den Eltern, der Erzieherin und dem Kind führt zum Wohlbefinden des Kindes in der Einrichtung und wirkt sich insgesamt positiv auf die Gesamtbelastungen während der Eingewöhnung aus.

Eingewöhnung aus Perspektive der Eltern
Belastungen: Für viele Eltern ist es eine schwierige Entscheidung, ihr Kind in die Tagebetreuung zu geben. Sie haben selbst Trennungsängste und Schuldgefühle, ihr Kind durch die frühe Trennung zu überfordern und emotional zu belasten. Darüber hinaus befürchten sie, die Bindung zum Kind an die Erzieherin zu verlieren oder zumindest zu schwächen. Konkurrenzgefühle und Eifersucht schleichen sich ein und belasten ein kooperatives Miteinander mit der Krippenerzieherin. Unter diesen Umständen wird die anfängliche Krippenbetreuung im Erleben der Eltern zur hohen emotionalen Belastung. In Einzelfällen kann es sogar zum Scheitern des Eingewöhnungsprozesses kommen.

Mütterliche Trennungsangst: Die mütterliche Trennungsangst während der Eingewöhnungszeit stellt für alle Beteiligte (Kind, Erzieherin, Mutter) eine hohe Belastung dar. Die mütterliche Trennungsangst wird in einigen extremen Fällen von den Erzieherinnen zwar wahrgenommen, jedoch nicht oder nicht angemessen kommuniziert. Wenn der Eingewöhnungsprozess sich schwierig gestaltet, wird die Schuld meistens den Müttern gegeben, indem ihnen vorgeworfen wird, sie könnten das Kind nicht loslassen. Schuldzuweisung und das Ausreden von Angst verschärft nur die eher prekäre Situation der Mütter. Verständnis, Mitgefühl und ein besonders feinfühliger Umgang mit der Trennungsangst wäre angemessen für die Lösung des Problems.

Auf Ergebnisse zwei Berliner Studien zur mütterlichen Trennungsangst im Zusammenhang mit dem Verhalten und Wohlbefinden von Kindern möchte ich kurz hinweisen: Kinder von Müttern mit einem höheren Maß an Trennungsangst zeigten in der Krippe mehr negatives Verhalten (Ängstlichkeit, Scheu und Irritierbarkeit) als Kinder von Müttern mit weniger Trennungsangst (Laewen 1994). In einer weiteren Studie wurde ein Zusammenhang zwischen Trennungsangst der Mütter und Bindungssicherheit von Kindern im Krippenalter gefunden (Hédervári 1995): Mütter von unsicher gebundenen Kindern äußerten mehr Trennungsangst als Mütter mit sicher gebundenen Kindern. Sie äußerten mehr Kummer, Traurigkeit und Schuldgefühle, vom Kind getrennt zu sein. Die Trennungsangst der Mütter scheint ein wichtiger Aspekt während der Eingewöhnungssituation zu sein. Nicht immer ist es leicht, die Mütter von ihren Trennungsängsten zu entlasten. Versuchen sollte man es dennoch.

Entlastung der Eltern: Eine qualitativ hochwertige Krippenbetreuung kann aus Sicht der Eltern jedoch auch eine große Entlastung bedeuten, zum Beispiel bei einer belasteten Mutter-Kind-Bindung, psychischer Beeinträchtigung der Mutter, Überforderung der Eltern im Umgang mit dem Kind, bei allein erziehenden Eltern oder bei Berufstätigkeit beider Eltern. Die psychische und zeitliche Entlastung durch die Krippenbetreuung kann in vielen Familien kompensatorisch wirken und zu einer entspannteren Atmosphäre in der Familie bis hin zur Verbesserung der Mutter-Kind-Bindung beitragen.

Wichtig ist, die Eltern von ihren Schuldgefühlen und Trennungsängsten zu entlasten und ihnen ihre Funktion als eine emotional sichere Basis durch ihre Anwesenheit bei der Eingewöhnung des Kindes in die Krippe zu vermitteln. Eltern brauchen Erklärungsmodelle über ihre Rolle und Funktion während der Eingewöhnungszeit und über die psychische Belastung des Kindes, wenn es nicht von einer vertrauten Bezugsperson begleitet wird.

Eingewöhnung aus der Perspektive der Erzieherin
Belastungen: Die Eingewöhnungssituation ist für die Erzieherin in der Krippe emotional ebenso belastend wie für das Kind und die Eltern. Sie muss sich sowohl auf das neue Kind als auch auf seine Eltern einstellen, ihre Eigenarten, Gewohnheiten und ihre Beziehung zueinander kennen lernen. Sie muss sich außerdem als Ansprechpartnerin für das Kind anbieten und feinfühlig auf seine Signale reagieren. All dies geht mit einem zeitlichen Aufwand einher und erfordert eine besondere Aufmerksamkeit der Erzieherin in der Beobachtung des Kindes und verlangt viel Flexibilität, sich an jedes einzelne Kind anzupassen. Hinzu kommt ihre Bereitschaft, zu jedem einzelnen Kind eine emotionale Bindungsbeziehung aufzubauen. Verhält sich die Erzieherin im Hinblick auf Bindungssignale des Kindes emotional distanziert und betrachtet den Aufbau einer Bindungsbeziehung zum Kind als nicht notwendig, so besteht die Gefahr, dass das Kind eine unsichere Bindung zur Erzieherin aufbaut und überzufällig häufig desorganisierte Verhaltensmuster zeigt (Ahnert 2009). Eine weitere wichtige Aufgabe der Erzieherin während der Eingewöhnung ist es, eine emotional warme Atmosphäre zu schaffen, in der sich jedes Kind, jede Mutter und jeder Vater willkommen und angenommen fühlt.

Entlastung der Erzieherin: Die Anforderungen an die Belastbarkeit der Erzieherin sind hoch. Bei entsprechend guter Vorbereitung und Organisation jedoch ist die Eingewöhnungszeit gut zu bewältigen. Dazu gehören u. a. fundiertes Wissen über die frühe Bindungsorganisation (Entstehung von Bindung, Bindungsmustern, Bindungsorganisation), kindliche Entwicklung, Affektzustände und innerpsychische Prozesse sowie das Kennen und Anwenden eines wissenschaftlich begründeten Eingewöhnungsmodells.

Das Nachdenken über das eigene Selbst, über die inneren Zustände des Kindes und die der Eltern sind außerdem wichtige Bestandteile erzieherischen Handelns, was zur psychischen Entlastung der Erzieherin beiträgt. Eine umfassende und hohe fachliche Kompetenz (pädagogische Haltung, Handlungskompetenz und Feinfühligkeit) sowie die Unterstützung durch das Team und durch die Behörden sind ebenfalls von Bedeutung und führen zur Entlastung der Erzieherin.

Das „Berliner Eingewöhnungsmodell“
Eingewöhnungsmodelle, die sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch praktische Erfahrungen berücksichtigen, bieten grundlegende Unterstützung für die Vorbereitung und für die möglichst stressfreie Durchführung des Eingewöhnungsprozesses. Das bundesweit erprobte „Berliner Eingewöhnungsmodell“ (Laewen et al. 2009) berücksichtigt die Perspektive des Kindes, der Eltern und der Erzieherin, eingebettet in die institutionellen Rahmenbedingungen der Krippe.

Das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ basiert konzeptionell auf der Bindungstheorie und berücksichtigt die nationalen und internationalen Forschungsdaten zur Tagesbetreuung sowie Erfahrungen aus Italien (Dreier 2006) und der Praxis. Das Modell wird seit über 20 Jahren bundesweit mit durchweg positiven Erfahrungen angewandt. Es bietet neben theoretischen Erklärungen konkrete praktische Handlungsvorschläge an. Die Berücksichtigung des Grundbedürfnisses des Kindes nach emotional tragender Bindungsbeziehung steht im Mittelpunkt des „Berliner Eingewöhnungsmodells“. Eine an das Kind angepasste individuelle Eingewöhnungszeit in Anwesenheit der Eltern ist eine Vorbedingung dafür, dass das Kind seine neue Umwelt als schützend und stabil erleben kann. Der zentrale Punkt in der Eingewöhnungsphase ist der Aufbau einer Bindungsbeziehung zur Bezugserzieherin in der Krippe. Die Dauer der Eingewöhnung ist mindestens eine Woche. In den meisten Fällen ist sie nach zwei bis drei Wochen abgeschlossen. In Einzelnfällen kann sie länger als drei Wochen dauern.

Zusammenfassung
Der Verzicht auf die Einbeziehung der Eltern in die Eingewöhnung von Kindern in Krippen und Tagespflegestellen kann zur erhöhten Trennungsangst, zum verstärkten Bindungsverhalten und im Extremfall zur Beeinträchtigung der seelischen Entwicklung des Kindes führen.

Die Gestaltung der Eingewöhnungssituation mit Einbeziehung der Eltern und unter Berücksichtigung der individuellen Verhaltensweisen des Kindes ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal einer guten Tagesbetreuung. Der Verzicht auf die Eltern ist ein Risikofaktor für die kindliche Entwicklung. Die Einbeziehung der Eltern beim Übergang in die Tagesbetreuung sollte daher zum unverzichtbaren Standard aller Einrichtungen gehören.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Éva Hédervári-Heller ist Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind. Sie hat eine Vertretungsprofessur an der Fachhochschule Potsdam.

Teil 2: Erziehungspartnerschaft (Jörg Maywald)

Für eine gesunde Entwicklung und erfolgreiche Erziehung und Bildung des Kindes spielen die Eltern eine herausragende und unersetzliche Rolle. Dies gilt besonders für die Zeit der frühen Kindheit. Inwieweit ein Kind seine Anlagen entfalten und seine Begabungen entwickeln kann, hängt in erster Linie von den Einflüssen im Elternhaus ab. Eine zunehmend wichtige Rolle für die Entwicklung und Bildung nehmen Kindertageseinrichtungen bzw. Tagespflegestellen ein. In Ergänzung zur Familie macht das Kind hier neue und andere Erfahrungen und erweitert seinen Horizont. Besonders bedeutsam sind das Zusammensein mit anderen Kindern in einer überschaubaren Gruppe und die professionelle Förderung durch ausgebildete Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen.

Damit sich das private System Familie (Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte) und das öffentliche System der frühen Tagesbetreuung (Kindergruppe, Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen, Leitung, Träger) zum Wohl des Kindes optimal ergänzen, bedarf es einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen beiden Bereichen. Ziel der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindertageseinrichtung bzw. Tagespflegestelle ist eine erfolgreiche Erziehungs- und Bildungspartnerschaft.

Wenn diese Partnerschaft gelingt, findet das Kind die besten Entwicklungsbedingungen vor: Familie und Kindertageseinrichtung bzw. Tagespflegestelle öffnen sich füreinander, machen ihre Erziehungsvorstellungen und Bildungsangebote transparent, sind am Wohl des Kindes und aneinander interessiert und bereichern sich wechselseitig. Sie wertschätzen sich, erkennen die Bedeutung der jeweils anderen Lebenswelt für das Kind an und teilen die Verantwortung für die Förderung der kindlichen Entwicklung.

Rolle der Eltern und Aufgabe des Staates
Aufgrund gewachsener Bindungen kommt den Eltern bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder eine Vorrangstellung zu. „Für die Erziehung und Entwicklung des Kindes sind in erster Linie die Eltern (…) verantwortlich. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen“, heißt es in Artikel 18 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention. Ähnlich formuliert das Grundgesetz in Artikel 6 Absatz 2: „Pflege und Erziehung der Kinder ist das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuförderst obliegende Pflicht.“ Es sind also in erster Linie die Eltern, die über Grundrichtung und Ausgestaltung der Erziehung entscheiden, es sei denn, das Wohl des Kindes wäre dadurch gefährdet. Kinder gehören nicht ihren Eltern, aber sie gehören zu ihnen, und die wichtigste Aufgabe der Eltern besteht darin, „das Kind bei der Ausübung der (…) anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 UN-Kinderrechtskonvention).

Neben dem staatlichen Wächteramt in denjenigen Fällen, in denen das Wohl eines Kindes gefährdet ist, kommt dem Staat die Aufgabe zu, den Eltern die Erfüllung ihrer Aufgaben u. a. durch die Bereitstellung von Kindertageseinrichtungen und Tagespflegestellen zu erleichtern. Entsprechend lautet Artikel 18 Absatz 2 UN-Kinderrechtskonvention: Die Vertragsstaaten unterstützen die Eltern „in angemessener Weise bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, das Kind zu erziehen, und sorgen für den Ausbau von Institutionen, Einrichtungen und Diensten für die Betreuung von Kindern“. In Deutschland haben Kinder gegenwärtig ab Vollendung des dritten, ab 1.8.2013 ab Vollendung des ersten Lebensjahres einen Anspruch auf frühe Förderung in einer Kindertageseinrichtung bzw. in Kindertagespflege.

Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen die Erziehung und Bildung in der Familieunterstützen und ergänzen (§ 22 Absatz 2 SGB VIII).

Die Fachkräfte sollen mit den Erziehungsberechtigten und Tagespflegepersonen zum Wohl der Kinder und zur Sicherung der Kontinuität des Erziehungsprozesses zusammenarbeiten. Die Erziehungsberechtigten sind an den Entscheidungen in wesentlichen Angelegenheiten der Erziehung, Bildung und Betreuung zu beteiligen (§ 22a Absatz 2 SGB VIII).

Verhältnis Familie und Kita: Konzepte
Familie und Kita bzw. Kindertagespflegestelle als miteinander verbundene Bestandteile ein und derselben Lebenswelt des Kindes zu verstehen und die gemeinsame Verantwortung für das Kind zu betonen, ist keineswegs selbstverständlich. Strukturfunktionalistische Ansätze (z. B. Talcott Parsons) arbeiten gerade die Unterschiede der Institutionen Familie bzw. Kita heraus und unterstreichen deren sich unterscheidende Funktionen für die Gesellschaft. Auch die Entwicklungsphasenmodelle von Sigmund Freud und Jean Piaget gehen davon, dass sich die Entwicklungsaufgaben des Kindes nacheinander an aufeinander aufbauenden und nur wenig miteinander verbundenen sozialen Orten realisieren.

Der Ökosystemische Ansatz von Urie Bronfenbrenner demgegenüber betrachtet das Kind als Teil interagierender Systeme (Familie, Kita, Sozialraum, Gesellschaft). Familie und Kita werden als parallele und sich überschneidende Systeme verstanden, die aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind. Erfahrungen, die das Kind in einem System erlernt hat, sind auch in anderen Systemen anwendbar. Familie und Tagesbetreuung als sich wechselseitig ergänzende soziale Orte für Kinder zu verstehen, führt dazu, die Unterschiedlichkeit dieser beiden Bereiche als Chance für das Kind zu betrachten: Entwicklung wird gefördert, wenn die Lebensbereiche nicht allzu ähnlich sind.

Partnerschaft ungleicher Partner
Partnerschaft bedeutet Zusammenarbeit für einen gemeinsamen Zweck bzw. ein gemeinsames Ziel. Notwendige Voraussetzungen gelingender Partnerschaft sind Offenheit, Vertrauen, Kontaktfreude, Dialogbereitschaft, partnerschaftliche Umgangsformen, Respekt vor bestehenden Unterschieden und Rollenklarheit.

Bei der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft verbindet Eltern und Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen das gemeinsame Ziel, die Entwicklung des Kindes bestmöglich zu fördern. Bezugspunkt für beide Partner ist das Kindeswohl. Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln kann dabei als dasjenige verstanden werden, welches die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt.

Zur Erreichung dieses Ziels bringen die beiden Partner unterschiedliche Kompetenzen ein und nehmen verschiedene Rollen wahr: Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ist eine Partnerschaft gleichwertiger aber ungleicher Partner.

Eltern und Fachkräfte als Experten
Eltern sind Experten für ihr eigenes Kind. Niemand kenn das Kind so gut wie die Eltern. In den meisten Fällen wissen sie am besten, was ihr Kind braucht. Die Eltern können am besten Auskunft geben über die Geschichte des Kindes und seiner Familie, die Rolle des Kindes im familiären System und als Bestandteil der elterlichen Identität, den soziokulturellen Hintergrund der Familie und die aktuellen familiären Lebensbedingungen. Bisweilen allerdings ist Eltern nicht bewusst, was sie alles wissen. In diesen Fällen ist es Aufgabe der Fachkräfte, die Eltern zu ermutigen und sie dabei zu unterstützen, ihr eigentlich vorhandenes Wissen über das Kind auch tatsächlich zu nutzen und in die Partnerschaft einzubringen.

Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen sind demgegenüber Expert(inn)en für Kinder im Allgemeinen. Sie verfügen über eine pädagogische Ausbildung bzw. Grundqualifizierung. Sie haben berufliche Erfahrung im Umgang mit Kindern, kennen die Kinder als Mitglieder einer Gruppe von Gleichaltrigen und können Gruppenprozesse verstehen und einordnen. Außerdem haben sie einen guten Überblick über die Arbeitsbedingungen in der Kindertageseinrichtung.

Perspektive auf das Kind
Die Perspektive der Eltern auf das Kind ist vom Alltag rund um die Uhr geprägt. Die Eltern kennen ihr Kind frühmorgens ebenso wie am Abend, spät in der Nacht und am Wochenende, während Ferienzeiten genauso wie an Feiertagen.

Demgegenüber konzentriert sich die Perspektive der Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen auf das Setting Tagesbetreuung. Da sich Kinder in ihren Rollen und in ihrem Verhalten an unterschiedlichen sozialen Orten erheblich unterscheiden können, ist es wichtig, dass Eltern und Fachkräfte ihre notwendigerweise unterschiedlichen Sichtweisen auf das Kind in die Zusammenarbeit einbringen und zu einem Gesamtbild zusammenfügen.

(Un-)Parteilichkeit
Eltern treten parteiisch für ihr Kind ein. Aufgrund gewachsener Bindungen ist das eigene Kind im Unterschied zu allen anderen Kindern für sie etwas ganz Besonderes. Vor allem in Stress- und Konfliktsituationen neigen sie dazu, ihr Kind gegenüber anderen Kindern zu bevorzugen. Jedes Kind braucht das Gefühl, für die eigenen Eltern einzigartig und unersetzlich zu sein.

Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen dagegen bewahren eine professionelle Distanz zu jedem Kind. Zwar sind sie in der Lage, notfalls Partei für ein Kind zu ergreifen (z. B. wenn ein Kind gegenüber anderen benachteiligt wird oder sich nicht behaupten kann), aber von dieser Parteilichkeit kann unterschiedslos jedes Kind profitieren. Die Haltung professioneller Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen entspricht einer der jeweiligen Situation angemessenen Mehrparteilichkeit.

Lebens- und Arbeitsperspektive
Für Eltern verbindet sich mit ihrem Kind eine Lebensperspektive, die normalerweise bis ans Lebensende reicht. Auch wenn das Kind schon älter ist und sein eigenes Leben führt, bleibt die Beziehung zu den Eltern üblicherweise erhalten. Wenn die Eltern alt sind, ist es in vielen Fällen an den Kindern, ihrerseits für ihre Eltern zu sorgen. Keine andere Beziehung ist so stabil und dauerhaft wie die Eltern-Kind-Beziehung.

Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen demgegenüber verbinden mit den Kindern eine Arbeitsperspektive, die zeitlich begrenzt und prinzipiell austauschbar ist. Auch wenn sie sich mit Herz und Seele für die Kinder einsetzen, so ist dieses Engagement doch auf ein professionelles Maß beschränkt.

Un-(Kündbarkeit)
Elternschaft ist unkündbar. Zwar können sich die rechtlichen und sozialen Aspekte von Elternschaft ändern (z. B. im Falle von Stiefelternschaft), aber zumindest die leibliche Elternschaft ist lebenslang mit denselben Personen verbunden und kann nicht aufgekündigt werden.

Demgegenüber kann Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen gekündigt werden oder sie können von sich aus ihre Tätigkeit beenden. Ihr Verhältnis zu den Kindern ist nicht unverbrüchlich und u. a. von der beruflichen und biografischen Planung der Fachkräfte abhängig.

Bindung und Zuwendung
Kinder und Eltern verbindet eine intensive emotionale Bindung. Grund dafür ist die von Geburt an vorhandene Bindungsbereitschaft des Kindes und die intuitive Fähigkeit der Eltern, auf die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes feinfühlig zu reagieren. In aller Regel sind die Eltern für ihr Kind die primären Bindungspersonen.

In Ergänzung zu den Eltern entwickeln auch Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen – im Vergleich zu den Eltern deutlich weniger intensive – sekundäre Bindungen an diejenigen Kinder, denen sie sich im Alltag der Kindertageseinrichtung zuwenden und die ihnen vertraut werden. Während die Eltern-Kind-Beziehung Sicherheit und Stressreduktion unterstreicht, betont die Erzieher(innen)-Kind-Beziehung Assistenz und Explorationsunterstützung (Ahnert 2006).

Erfüllung und Entlohnung
Eltern-Kind-Beziehungen zeichnen sich durch wechselseitige Zuneigung, Liebe und Erfüllung aus. Trotz aller Widrigkeiten und Belastungen üben Eltern ihre Rolle in der Regel gern aus, ohne daraus einen unmittelbaren Nutzen zu ziehen.

Erzieher(innen) bzw. Tagespflegepersonen ernten für ihre berufliche Arbeit Anerkennung von denjenigen, die von ihrer Tätigkeit profitieren, sowie im weiteren beruflichen Feld. Außerdem werden sie für ihre Tätigkeit entlohnt.

Übersicht über die Rollen von Eltern und Erzieherinnen
Eltern:
Spezialisten für ihr Kind
Perspektive rund um die Uhr
Parteilichkeit
Lebensperspektive
Unkündbarkeit
Bindung
Liebe, Erfüllung, Gegenseitigkeit

Erzieherinnen:
Spezialisten für Kinder im Allgemeinen
Perspektive Tagesbetreuung
Un- bzw. Mehrparteilichkeit
Arbeitsperspektive
Kündbarkeit
Zuwendung (sekundäre Bindung)
Anerkennung, Zufriedenheit, Gehalt

Formen der Zusammenarbeit
Erziehungs- und Bildungspartnerschaft kann im Rahmen unterschiedlicher institutioneller Konzepte und auf verschiedene Art und Weise realisiert werden. Neben der traditionellen Kindertageseinrichtung bieten Eltern-Kind-Zentren, Familienzentren, Mehr-Generationen-Häuser (MGH’s), Zusammenschlüsse von Tagespflegepersonen oder Verbundsysteme zwischen Kitas und Tagespflegepersonen einen möglichen institutionellen Rahmen.

Als wichtigste Formen der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften sind zu nennen (vgl. Viernickel 2006):
– Austausch und wechselseitige Information über das einzelne Kind (u. a. Entwicklungsgespräche, Hausbesuche, Hospitationen, Hilfevereinbarungen);
– Allgemeiner Austausch über Bildungs- und Erziehungsfragen (u. a. Elternabende, Vorträge, Elterncafé);
– Bereitstellung (bzw. Lotsenfunktion) Familien unterstützender Angebote (u. a. Beratungs-, Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote);
– Mitwirkung durch Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme (u. a. Projekte, Ausflüge, Feste);
– Institutionalisierte Mitbestimmung (u. a. Elternvertretungen, Einbindung in Trägerverantwortung).

Da die Zusammenarbeit mit den Eltern als unverzichtbarer Bestandteil frühkindlicher Tagesbetreuung gelten kann, sollten die Anforderungen an die Kooperation verbindlich mit beiden Elternteilen vereinbart werden. Eine solche schriftliche Vereinbarung zu Beginn der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft sollte auch Aussagen zum Verfahren bei (möglichen) Konflikten einschließen.

Fachpolitische Konsequenzen
Kinder unterschiedlicher Herkunft verbringen einen wachsenden Anteil ihrer Lebenszeit in Kindertageseinrichtungen bzw. Kindertagespflegestellen. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erzieher(inne)n bzw. Tagespflegepersonen besonders in den ersten Jahren des Kindes wird daher immer bedeutsamer. Dies hat erhebliche Konsequenzen für Fachpraxis und Fachpolitik. Hierzu gehören u. a.: (1) die Aufnahme erwachsenenpädagogischer und familienbildnerischer Module in die Aus- und Weiterbildungen; (2) eine angemessene Berücksichtigung von Verfügungszeiten bei der Personalberechnung; (3) die Anwerbung männlicher Erzieher sowie (4) die interkulturelle Qualifizierung sowie verstärkte Einstellung von Erzieher(inne)n mit Zuwanderungsgeschichte.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Jörg Maywald ist Soziologe und Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind.

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