fK 6/08 Friederici

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Entwicklung der Sprache

von Zvi Penner, Jürgen Weissenborn und Angela D. Friederici

Die Muttersprache zu erwerben bedeutet für das Kind jene Regeln zu erlernen, die das sprachliche Wissen der Erwachsenen ausmachen. Es gilt zwei Ebenen diese Wissens zu unterscheiden: (1) das sprachliche Wissen in engerem Sinne, nämlich Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon und Semantik, und (2) das kommunikative Wissen. Im Folgenden fokussieren wir auf eine Darstellung des Erwerbs des sprachlichen Wissens im engeren Sinne. Beschrieben wird die Entwicklung des Sprachverstehens und der Sprachproduktion in den ersten drei Lebensjahren sowie deren mögliche neuronale Grundlage.

Unabhängig von dem jeweiligen theoretischen Ansatz legen zahlreiche Untersuchungen zum Erwerb der unterschiedlichsten Sprachen in den letzten Jahren nahe, dass das Kind über spezifische Veranlagungen verfügt, die es ihm ermöglichen, seine Muttersprache schnell und auch unter sehr wechselnden und eingeschränkten Wahrnehmungsbedingungen (Blindheit, Taubheit) erfolgreich zu erwerben. Das heißt, bei ungestörtem Verlauf des Spracherwerbs werden die wichtigsten Regeln von Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexikon bis zum Alter von zweieinhalb Jahren erworben und zwar unabhängig davon, wie komplex einem Erwachsenen die Struktur einer Sprache erscheinen mag. Bemerkenswert ist die zu beobachtende Kontinuität im frühen Spracherwerb. Auch wenn das Kind zunächst noch unvollständige sprachliche Strukturen verwendet, so befolgt es doch die syntaktischen, phonologischen und lexikalischen Regeln und vermeidet Abweichungen von der Zielsprache.

Welche Prinzipien diesem Erwerbsprozess zugrunde liegen und was die neurale Basis dieses Erwerbsprozesses ist, ist bislang nur zum Teil verstanden. Neuropsychologische Studien geben jedoch erste Hinweise.

Die Entwicklung der Sprachwahrnehmung
5.-6. Schwangerschaftsmonat
Es mehren sich die Befunde, dass die Lautwahrnehmung schon im 5.-6. Monat der Schwangerschaft ausgeprägt ist. Dies zeigt z. B. die Beschleunigung des Herzschlags des Fötus bei Lautstärken über 105 Dezibel.

8. Schwangerschaftsmonat
Im 8. Schwangerschaftsmonat konnte eine Verlangsamung des Herzschlags bei der Vertauschung zweier Silben, „babi“ – „biba“, beobachtet werden, nachdem zunächst eine Weile die Silbenfolge „babi“ präsentiert worden war. Dies deutet darauf hin, dass das Sprachlernen schon intrauterin beginnt. Gleich nach der Geburt erkennt und präferiert der Säugling die mütterliche Stimme. Ebenfalls in den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt ist das Neugeborene in der Lage, Laute wie „b“ und „p“ in den Silben „ba“ und „pa“ zu diskriminieren. Das heißt, praktisch von Anfang an verfügt das Kind über die Fähigkeit zur kategorialen Lautwahrnehmung. Dies wurde mit Hilfe der „High-ampIitude-sucking“-Methode (HAS) festgestellt.

0.-3. Monat
Mit Hilfe der gleichen Technik sowie mittels elektroenzephalographischer Untersuchungen (EEG) hat man auch nachweisen können, dass die Kinder offensichtlich von Geburt an in der Lage sind, rhythmisch-intonatorische Regelmäßigkeiten der Sprache, wie die Abfolge von betonten und unbetonten Silben zu erkennen und damit auch schon imstande sind, den sprachrhythmischen Typus ihrer Muttersprache zu erkennen. Dies lässt auch die Annahme plausibel erscheinen, dass rhythmische Informationen, etwa die prosodische Prominenz innerhalb einer syntaktischen Phrase vom Kind schon sehr früh zur Erkennung der wichtigsten Wortstellungsregeln der Muttersprache benutzt werden können, d. h. etwa um herauszufinden, ob das Objekt dem Hauptverb vorausgeht oder folgt: man vgl. Deutsch „Hans hat Kuchen gegessen“ mit Englisch „John has eaten cake“ (für einen Überblick über die Entwicklung der Sprachwahrnehmung vgl. Höhle u. Weissenborn 1999; Jusczyk 1997).

4.-6. Monat
Zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat lässt sich schon eine klare Präferenz für zielsprachliche Laute („Segmente“) feststellen. So haben EEG-Untersuchungen ergeben, dass finnisch lernende Kinder die Vokale ihrer Muttersprache von denen des eng verwandten Estnischen unterscheiden können. Es wird generell angenommen, dass Kinder ihre universelle Diskriminierungsfähigkeit von Segmenten im Alter von ca. zwölf Monaten verlieren und nur noch sprachspezifische Unterschiede diskriminieren. So sind z. B. japanische Säuglinge sehr wohl in der Lage zwischen „l“ und „r“ zu unterscheiden, während dies zwölf Monate alte Kinder nicht mehr können. Dies bedeutet, dass die lautlichen Diskriminierungsfähigkeiten der Kinder anfänglich universell sind, sich im Laufe der Entwicklung jedoch mehr und mehr auf die muttersprachlichen Gegebenheiten verengen. In diesem Falle besteht also Lernen im Verlust bzw. dem Verlernen früherer Fähigkeiten.

Etwa mit vier Monaten erkennt das Kind seinen Namen im Redefluss. Wenige Wochen später versteht es auch „Mam“ und „Papa“. Wenn auch das Kind sonst noch keine weiteren Wörter erkennen kann, zeigt doch das frühe Erkennen des eigenen Namens und der zweisilbigen Verwandtschaftsbegriffe, dass Kinder besonders sensibel sein müssen für die lautlichen Eigenschaften dieser Wörter.

Im Alter von sechs Monaten können Kinder anhand von prosodisch-rhythmischen Eigenschaften von Äußerungen, wie Intonation (Tonhöhenverlauf), Betonung (Energieverlauf), Vokallänge und Pausen, Satzgrenzen identifizieren. Wenig später, mit neun Monaten, sind sie in der Lage, aufgrund von prosodischen Eigenschaften die Hauptkonstituenten von Sätzen, z. B. das Subjekt einerseits und das Verb mit dem direkten Objekt andererseits, zu identifizieren. So ziehen Kinder dieses Alters etwa einen Satz wie „Der starke Mann # trägt den großen Koffer“ mit einer Pause (#) nach dem Subjekt, dem gleichen Satz mit einer unnatürlichen Pause nach dem Verb „Der starke Mann trägt # den großen Koffer“, die die prosodisch-syntaktische Einheit Verb und Objekt zerstört, vor.

7.-8. Monat
Mit 7-8 Monaten sind die Kinder generell in der Lage, unter Ausnutzung der vorherrschenden Wortbetonungsmuster der Zielsprache, wie der Abfolge einer betonten und unbetonten Silbe („Trochäus“) im Deutschen, z. B. „Eimer“, Wortgrenzen zu identifizieren und somit Äußerungen in einzelne Wörter zu zerlegen. Die Worterkennung ist zunächst allerdings auf trochäische Einheiten beschränkt. Abfolgen von einer unbetonten und einer betonten Silbe („Jambus“), z. B. „Alárm“, werden noch nicht als Einheit erkannt.

Die rapide Entwicklung der Segmentierungsfähigkeiten des Kindes ermöglicht nun eine schnelle Zunahme des Wortverstehens, da das Kind dadurch in die Lage versetzt wird, sein konzeptuelles Wissen, d. h. konzeptuelle Einheiten mit spezifischen lautlichen Einheiten zu verbinden. Gegen den zehnten Monat umfasst so der rezeptive Wortschatz des Kindes etwa 60 Wörter. Diese Abbildung von perzeptuell-konzeptuellen Repräsentationen des Kindes auf lautliche Einheiten unterliegt dabei offensichtlich bestimmten Beschränkungen, die sicherstellen, dass das Kind nicht, wenn es zum ersten Mal in Gegenwart eines Hasen das Wort „Hase“ hört, meint, es würde sich z. B. nur auf die Ohren beziehen. Vielmehr ist es so, dass es die Lautfolge regelmäßig auf den ganzen Gegenstand bezieht. Man spricht deshalb in diesem Zusammenhang von der „Ganzheitannahme“ („whole object constraint“) (vgl. Markman 1994).

Es gibt Hinweise darauf, dass das erste Lebensjahr für den Spracherwerb von kritischer Bedeutung ist. So zeigten Untersuchungen der Hörbahnreizleitung mit Brainstem Evoked Response Audiometry (BERA) im sechsten Lebensmonat, dass Kinder mit verlangsamter Reizleitung ein erhöhtes Risiko für eine verzögerte Sprachentwicklung mit 24 Monaten aufwiesen, obwohl sich mit 14 Monaten die Reizleitung normalisiert hatte (vgl. hierzu Penner et al. eingereicht).

9.-12. Monat
Mit 9-12 Monaten erweitert sich das Wissen des Kindes über die Lautstruktur der Muttersprache in zwei zentralen Bereichen. Einerseits berücksichtigt das Kind in dieser Phase nur noch Laute, die für die Unterscheidung von Wörtern in seiner Muttersprache wichtig sind und verlernt die universelle Diskriminierungsfähigkeit von Lauten. Andererseits geht das Kind bei der Worterkennung über die rein rhythmischen Segmentierungsstrategien hinaus und benutzt nun für diese Aufgabe auch andere Informationsquellen, so unter anderem die segmentale Struktur des Wortes, d. h. die darin vorkommenden Konsonanten und Vokale sowie auch die sprachspezifischen Kombinationsregeln für Konsonanten, etwa dass „dl-“ im Wortanlaut im Deutschen nicht vorkommen kann. Diese Entwicklung erleichtert dem Kind die Analyse von unbetontem Sprachmaterial im Gehörten. Sie hat zur Folge, dass das Kind nun auch Wörter mit atypischem Betonungsmuster, wie unbetont – betont, vgl. „Alárm“ im sprachlichen Input identifizieren kann.

Darüber hinaus legen weitere Untersuchungen nahe, dass das Erkennen von Wörtern schon viel früher als zunächst vermutet nicht auf die so genannten Inhaltswörter wie Substantive, Verben und Adjektive beschränkt ist, die normalerweise betont sind, sondern dass z. B. deutsche Kinder schon im Alter von sieben Monaten unbetonte Wörter, so genannte Funktionswörter, wie Artikel und Präpositionen im Lautstrom identifizieren können. Dies ist um so erstaunlicher, als man bisher angenommen hatte, dass das Fehlen dieser Wörter in den ersten kindlichen Äußerungen, vgl. „Ball Kiste holen“ (= „(den) Ball (aus der) Kiste holen“), gerade darauf zurückzuführen sei, dass die Kinder diese Wörter aufgrund ihrer Unbetontheit anfänglich im Redefluss nicht wahrnehmen können. Dies bedeutet zwar, dass wir eine Erklärung für das anfängliche Fehlen in der kindlichen Sprachproduktion finden müssen. Andererseits hilft es jedoch zu verstehen, wie das Kind schon so früh und praktisch fehlerlos die grammatischen Regeln der Elternsprache erwerben kann. Funktionswörter zeigen nämlich charakteristische, sehr eingeschränkte Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Wörtern und nehmen eine feste Stellung im Satz ein. Diese Eigenschaften können dem Kind, sobald es Funktionswörter wahrnimmt, dabei helfen, etwas über die grammatische Struktur der Sprache, die es hört, herauszufinden. So signalisiert ein Artikel, dass das, was darauf folgt, ein nominaler Ausdruck (z. B. ein Substantiv) sein muss und Konjunktionen zeigen die Grenzen und die Art von Sätzen (Nebensatz gegenüber Hauptsatz) an (vgl. hierzu Höhle u. Weissenborn 2000, 2003; Höhle et al. 2004).

Kinder sind in der Einwortphase u. a. schon sensibel für die Konstituentenstruktur von Sätzen und die Wortstellung. Die entsprechenden Untersuchungen wurden mit der so genannten Blickpräferenzmethode durchgeführt (vgl. zum Folgenden Hirsh-Pasek u. Golinkoff 1996).

14. Monat
Diese Untersuchungen zeigen, dass 14 Monate alte Kinder von zwei Bildern, von denen das eine eine Frau zeigt, die einen Ball küsst, und das andere eine Frau, die Schlüssel küsst, das erstere präferieren, wenn der sprachliche Stimulus lautete: „Look, she is kissing the ball“. Die korrekte Interpretation dieses Satzes setzt voraus, dass das Kind die Verbalphrase „is kissing the ball“ als Einheit analysiert hat. Die korrekte Zuordnung von Satz und Bild ist nicht aufgrund des Verstehens des Wortes „ball“ allein möglich, da ein Ball auch auf dem nicht passenden Bild abgebildet ist.

17. Monat
In einem weiteren Experiment mit der gleichen Methode wurde das Verständnis von 17 Monate alten Kindern für die Wortstellungsregeln des Englischen getestet. Auch diese Kinder befanden sich mehrheitlich noch in der Einwortphase. Getestet wurde das Verständnis von Sätzen wie „See? Big Bird (BB) is washing Cookie Monster (CM)“ (BB and CM sind Charaktere aus der Fernsehserie Sesamstraße), wobei dem Kind gleichzeitig zwei Bilder präsentiert wurden, auf denen einmal BB CM wäscht und einmal CM BB.

Auch hier präferierten die Kinder das korrekte Bild, was darauf hinweist, dass sie in diesem Alter schon mit den Wortstellungsregeln des Englischen vertraut sind.

Mit 22-24 Monaten verfügt das Kind also schon über ein umfangreiches rezeptives Sprachwissen in allen grammatischen Bereichen. Dabei ist es vor allem die anfängliche Sensibilität des sprachlernenden Kindes für die rhythmisch-prosodischen Eigenschaften, sowie für die funktionalen Einheiten („Funktionswörter“) von Sprache, auf der die erstaunlich schnelle Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten während der ersten beiden Lebensjahre beruht (vgl. auch Weissenborn 2000).

Sprachproduktion: Die Entwicklung der Phonologie, des Lexikons und der Syntax
Parallel zur extrem frühen Entwicklung der Sprachwahrnehmung mehrt sich die Evidenz auch für eine starke Kontinuität in der Sprachproduktion. Schon in den Schreivokalisationen in den ersten Lebensmonaten sind wichtige Regelmäßigkeiten der Lautgebung erkennbar (Wermke et al. 1996). Dies betrifft in erster Linie die Kontrolle der Grundfrequenz und der Lautlänge sowie die Entwicklung der so genannten Stabilitätsparameter („pitch perturbation quotient“). Besonders relevant für den Erwerb der zielsprachlichen Phonologie scheinen in der Schreiphase die Relation zwischen dem Verlauf (z. B. Energiekurve) und der Länge der einzelnen Melodiebögen sowie das Prominenzverhältnis („Rhythmus“) zwischen den einzelnen Melodiebögen innerhalb einer Schreiäußerung zu sein. Neue Untersuchungen zu beiden Faktoren legen die Vermutung nahe, dass das Schreirepertoire Vorläufer der prosodischen Einheiten „Silbe“ und „trochäischer“ Fuß enthält.

Auf die Schreiphase folgt die Lallphase („babbling“), die sich primär durch die Etablierung der zielsprachlichen Silbenbildung auszeichnet und gewöhnlich die Zeit vom 6.-12. Lebensmonat umfasst. Im Mittelpunkt der Lallphase steht das „kanonische Lallen“, das sich durch die Bildung von Silben charakterisiert, die bezüglich der Parameter Formantenübergangsdauer, Silbenlänge, Grundfrequenz und Intensität zielsprachlich konform sind (Oller 1986). In der Phase des kanonischen Lallens werden zwei Stadien unterschieden, nämlich das reduplizierende und das bunte Lallen. Das reduplizierende Lallen (7.- 10. Monat) zeichnet sich durch die Wiederholung derselben Silbe aus (z. B. [dada]). Im Stadium des bunten Lallens (10.-12. Monat) werden hingegen mehrsilbige Lautketten mit unterschiedlichen Konsonanten produziert (z. B. [daba]). In dieser Phase ist der segmentale Bestand an das spezifische Lautinventar der Muttersprache angepasst.

In Anbetracht der hohen Sensitivität bezüglich der rhythmischen Regularitäten der Zielsprache in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres steIIt sich die Frage, welche prosodischen Parameter die Kinder schon während der Lallphase korrekt setzen (Jusczyk 1997). Eine Pilotstudie von Penner u. Fischer (2000) zeigt, dass mehr als 80 Prozent aller kanonischen Lalläußerungen mit den sprachspezifischen Regeln der zielsprachlichen Wortprosodie übereinstimmen. Dies betrifft in erster Linie die Parameter des Minimalwortformats sowie der Prominenz auf Fuß- und Wortebene. Feinere prosodische Regeln werden hingegen erst später in der lexikalischen Phase erworben (mit ca. zweieinhalb Jahren). Diese Lücken im Regelsystem führen dazu, dass die Sprachproduktion nach Sprechbeginn (mit 12 Monaten) sowohl segmentalen als auch prosodischen Restriktionen unterliegt. Diese Beschränkungen sind für die typischen segmentalen und prosodischen Prozesse wie beispielsweise Harmonisierung („bop“ statt „Brot“) oder Silbenauslassung („nane“ statt „Banane“) verantwortlich, die den frühen Wortschatz kennzeichnen.

Untersuchungen zur Wortschatzentwicklung (Fenson et al. 1993) belegen die erstaunliche Effizienz der Kinder im Erwerb des Lexikons. Die Befunde lassen sich folgenden Stadien zuordnen: (1) 11.-13. Monat: Produktion der ersten Wörter; (2) 16. Monat: 50-75 Items; (3) 18.-24. Monat: Wortschatzexplosion („vocabulary spurt“), 186-436 Items; (4) 6 Jahre: 14.000 Items.

Dies bedeutet, dass Kinder nach der Wortschatzexplosion durchschnittlich 9-10 neue Items pro Tag lernen. Um diese erstaunliche Lernleistung, die das Kind trotz notorischer Mehrdeutigkeit des Eingangs erbringt, erklären zu können, ist eine Reihe von Modellen entwickelt worden, die dem sprachlernenden Kind bestimmte Strategien zuschreiben. In diesem Zusammenhang spricht man primär von „Präferenzen“ („biases“ oder „assumptions“ bei Markman 1994 oder Landau 1994), die die Aufmerksamkeit des Kindes auf eine kleine Untermenge von eindeutigen Objektmerkmalen (z. B. Objektganzheit oder Form bei rigiden Objekten) beschränken und somit den induktiven Suchraum einengen. Aufgrund dieser anfänglichen Beschränkungen entstehen die typischen Übergeneralisierungen des frühen Wortschatzes wie z. B. „Ball“ als Bezeichnung aller kugelförmigen Gegenstände. Irreversible, falsche Verallgemeinerungen (wie beispielsweise „Pferd“ für „Gras“) werden hingegen durch diese Lernprinzipien ausgeschlossen.

Zu Beginn des Verblexikonerwerbs steht die so genannte „Ereignisstruktur“ im Mittelpunkt des Lernprozesses. In diesem Bereich lernt das Kind, welchen Ereignistypus ein gegebenes Verb bezeichnet: [Zustand], [Vorgang ohne Endzustand], [Vorgang mit Endzustand] etc. Die anderen Bedeutungskomponenten des Verbs, nämlich die Kernbedeutung und die Argumentselektion, werden erst später für den Erwerbsprozess aktuell. Untersuchungen in diesem Bereich (Penner et al. 1998; Schulz et al. 2001) legen die Vermutung nahe, dass die Kinder schon ca. im 13. Monat über eine explizite Repräsentation der Ereignisstruktur verfügen. Dabei lässt sich das Kind von einer starken Präferenz für komplexe, endzustandsorientierte Verben wie „aufmachen“, „wegmachen“ oder (das Licht) „anmachen“ „leiten“. Aus beiden semantischen Bestandteilen solcher resultativen Ereignisse [Endzustand und Vorgang] konzentrieren sich die Kinder anfänglich auf den Endzustand als das prominentere Teilereignis, der als. isoliertes Präfix ausbuchstabiert wird (z. B. „auf“ für das Zielwort „aufmachen“). Die Realisierung des untergeordneten Teilereignisses erfolgt erst, wenn das Kind die Repräsentation des Endzustandes semantisch korrekt etabliert hat.

Der Syntaxerwerb umfasst verschiedene Phasen. Für den Erwerb der Satzstrukturebene unterscheiden wir bis zum dritten Lebensjahr zwei Hauptstadien: (1) Erwerb der Wortstellung, d. h. der Regeln der Subjekt- und Objektplatzierung und Endposition des flektierten Verbs (Penner et al. 2000). (2) Erwerb der funktionalen „Satzschale“, d. h. der Verb-Zweit-Regel in deklarativen und Fragesätzen sowie der Grundregel der Nebensatzbildung (Clahsen 1988).

Analog verläuft der Erwerb der Nominalphrase mit dem Artikel als „funktionaler Schale“ (Penner u. Weissenborn 1996). Auf dem im Alter zweieinhalb Jahren etablierten syntaktischen Wissen aufbauend vervollständigt das Kind bis zur Einschulung die Syntax-Semantik-Schnittstelle. In diesen Bereich gehören vor allem die Mechanismen der „logischen Form“ wie beispielsweise die Diskurssemantik, durch die die Referenz eines Nomens determiniert wird und die Skopusregeln, die die Geltungsbereiche von Operatoren bestimmen (Fragepronomina, Quantoren etc.).

Der Syntaxerwerb zeichnet sich durch seine Kontinuität aus. Wie Weissenborn (1994) argumentiert, ist die Syntaxentwicklung eine durch sukzessive Merkmalsspezifizierung gesteuerte inkrementelle Erweiterung der Struktur, die der so genannten „local wellformedness condition“ unterliegt. Dieses Prinzip verlangt, dass jede Interimsrepräsentation der syntaktischen Struktur in der nächst höheren Phase in wohlgeformter Weise enthalten ist. Auf diese Weise entstehen im Verlauf des Syntaxerwerbs keine Interimsrepräsentationen, die zielsprachlich-inkonsistente Merkmalsspezifizierungen enthalten.

Zusammenfassung
Noch ist das Bild einer möglichen Organisation und Reorganisation der Sprachfunktionen im sich entwickelnden Gehirn ungenau. Die vorhandenen Daten ermöglichen jedoch die Formulierung einiger Hypothesen. Es scheint, als sei die rechte Hemisphäre für die frühe Phase der Sprachentwicklung besonders relevant. Bei Kleinkindern mit frühkindlichen unilateralen Läsionen haben rechtshemisphärische Läsionen einen größeren negativen Einfluss auf den Verlauf des Spracherwerbs als linkshemisphärische Läsionen. Während der ersten zwei Monate lernen Säuglinge die prosodischen Aspekte ihrer Muttersprache zu identifizieren, mit neun Monaten haben sie bereits ihr Wissen über prosodische Phrasierungsregeln ihrer Sprache. Diese Informationen werden beim Erwachsenen eher rechtshemisphärisch verarbeitet und es ist zu vermuten, dass dies auch bei Kleinkindern so ist. Prosodische Aspekte auf der Silben- und Wortebene könnten beim Kleinkind ebenfalls zunächst rechtshemisphärisch verarbeitet werden und erst zu dem Zeitpunkt, an dem diese Information lexikalisch gebunden ist, zu vornehmlich linkshemisphärischen Aktivationen führen. Phonemische Information wird dagegen zunächst bilateral und später primär linkshemisphärisch verarbeitet.

Die linke Hemisphäre gewinnt an Relevanz während des Erwerbs von Wörtern mit ihren morphologischen Strukturen und Bedeutungen sowie mit dem Erwerb der Syntax. Hier scheinen zunächst links temporale Regionen von größter Wichtigkeit. Erst zu einem späteren Zeitpunkt kommen links frontale Regionen, vor allem für schnelle syntaktische Prozesse ins Spiel.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung des Artikels „Sprachentwicklung“, erschienen in: H.-O. Karnath & P. Thier (Eds.) Neuropsychologie, 2. Aufl. (pp.632-639), Berlin/Heidelberg/New York: Springer. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media.

Der auf diesem Beitrag basierende Vortrag „Neuronale Basis der frühen Sprachentwicklung“ wurde am 11.10.2008 in Leipzig von Prof. Dr. Angela Friederici gehalten. Vom Abdruck eines Fotos der Co-Autoren PD Dr. Zvi Penner und Prof. Dr. Jürgen Weissenborn wird daher abgesehen.

PD Dr. Zvi Pennerist Privatdozent an der Universität Bern und Geschäftsführer der Kon-Lab GmbH in Troisdorf.

Prof. Dr. Jürgen Weissenbornist Honorarprofessor für Psycholinguistik an der Humboldt-Universität in Berlin.

Prof. Dr. Angela D. Friederici ist geschäftsführende Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und Direktorin der Abteilung Neuropsychologie.

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