24 Jul fK 6/06 Elschenbroich
Man sieht, was man fragt
Perspektiven auf Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit
von Donata Elschenbroich
Die Natur anzuschauen ist keine natürliche Tätigkeit, und Kinder anzuschauen ist keine natürliche Tätigkeit. Es ist immer auch Hin-Sicht (Martin Wagenschein), ein im Abendland über zweitausend Jahre entwickelter spezifischer Blick. Dieser Blick ist höchst voraussetzungsreich.
Wenn wir uns neuerdings für die elementaren Eingänge ins Naturforschen interessieren, fragen wir weniger: wie wird das Kind zum Forscher, sondern beobachten, wo ist es bereits einer. Die Erwachsenen geben sich Mühe, die unausgesprochenen Fragen der Kinder mit neuem Respekt zu lesen und die Überschwemmung im Badezimmer als eine inszenierte Frage an das Element Wasser zu verstehen. „Wir hätten Schweinerei sagen können. Aber wir haben es Experiment genannt.“ Doch wenn sie sich solchermaßen über Kinder Gedanken machen, verfolgen sie dabei ihre eigenen Fragen, die Fragen, die ihnen ihre Zeit aufgibt. „Das Beobachtete führt immer wieder auf den Beobachtenden zurück“, in den Worten des ersten deutschen Experimentalphysikers Georg Christoph Lichtenberg.
Wenn Erwachsene zu wissen behaupten, was Kinder brauchen, sei es eine starke Hand oder einen vorgewärmten Pyjama, sprechen sie von sich selbst in ihrer Zeit. Das ist nicht nur unvermeidlich, es ist auch legitim, indem es den Kindern die Fragen und Diskurse ihrer Epoche vermittelt.
Zwei Beispiele zum Perspektivwechsel auf das Bildungsverhalten von Zweijährigen. Eine Generation liegt zwischen beiden Beobachtungen.
Johanna: Machtkampf oder preliteracy?
Siebziger Jahre 20. Jahrhundert. Die Mutter liest vor, die zweijährige Tochter Johanna auf dem Schoß. Da legt die Tochter ihre Hand mitten auf die Buchseite und blickt die Mutter gespannt an. Triumphierend, empfindet die Mutter. Ein Machtkampf? Ich, Tochter, unterbreche Deinen Monolog. Ich bin auch auf der Bühne! Damit entsprach das Kind dem emanzipatorischen Auftrag an ihre Kinderladengeneration: den selbstzufriedenen Redeschwall der Älteren zu unterbrechen.
Fünfundzwanzig Jahre später beobachtet die Mutter eine Zweijährige beim Schreiben von Kritzelbotschaften und beim Blättern in Büchern in der Haltung einer selbständigen Leserin – „preliteracy“ nennt man das im 21. Jahrhundert. Und nun fragt sie sich: Ging es der Tochter damals um etwas anderes? Wollte sie etwas herausfinden über die geheimnisvolle Verbindung zwischen Mutters Augen und den schwarzen Zeichen auf dem Papier? Würde der Monolog der Mutter unterbrochen werden, wenn sie diese geheime Verbindung mit ihrer Hand unterbrach? War es also nicht Selbstbehauptung einer Zweijährigen gewesen, war es vielmehr ein kognitives Experiment in preliteracy?
Erziehungsgespräche sind Selbstgespräche der Erwachsenen. Was, fragt sich die Mutter heute, wird sie wohl in zwanzig Jahren, wenn der Blickwinkel auf die Kindheit wieder ein anderer sein wird, aus dieser Geste der Zweijährigen herauslesen?
Lucia: Geschwisterrivalität oder Naturforschung?
Herbst 2004. Die zweijährige Lucia hat vor zehn Tagen einen Bruder bekommen. Die Großmutter ist angereist, um während der ersten Tage ganz für Lucia da zu sein. Von einem Tag auf den anderen zur älteren Schwester geworden, soll sie das neue Familienmitglied nicht nur als Rivalen empfinden. Im Nachmittagslicht auf der Terrasse stillt die Mutter, die Omi schaut zu. Heilige Anna Selbdritt.
Wo ist Lucia geblieben? Sie hockt abseits auf ihrem Dreirad vor der Hauswand und kehrt den Dreien den Rücken zu. Stumm, bewegungslos, wie versteinert sitzt sie und starrt auf die Wand.
Die Großmutter erschrickt: Lucia fühlt sich ausgeschlossen, und sie schließt sich selber aus. Auch Lucias Mutter teilt diese Schrecksekunde. Aber dann, sie ist näher dran – näher an Lucia, oder näher an den heutigen Bildungsdiskursen? – versteht sie: Lucia blickt fasziniert auf ihren eigenen Schatten auf der Hauswand! Das drückt ihr Rücken aus, konzentrierte Aufmerksamkeit, nicht einsame Erstarrung und Rückzug.
Da nähert sich die Großmutter von hinten auf Zehenspitzen, gespreizte Zeigefinger und Mittelfinger zaubern einen Vogel, der sich auf Lucias Schattenschulter niederlässt. Lucia schwingt leicht auf ihrem Dreirad und der Vogel auf der Hauswand wird gewiegt…
Schattentheater, mit Lucia in der Mitte.
Die Großmutter lag mit ihrer psychozentrischen Interpretation aber nicht nur falsch. Lucia muss durchaus auf sich aufmerksam machen, das wird für eine Erstgeborene immer so sein. Doch auf dieser Terrasse im Herbst 2004 nahm die Urszene eine zeitgenössische Wendung. Lucia hat erfahren: ich muss mich nicht zum Problem machen, und ich muss nicht laut werden. Immer wenn ich selbst aufmerksam bin, kann ich in dieser Familie auf mich aufmerksam machen. Dann liegt der Ball bei mir. Was mich interessiert, interessiert auch andere. Und wenn ich mich für etwas interessiere, bleibe ich nicht lange allein.
Der Text ist dem Buch von Donata Elschenbroich entnommen: Weltwunder. Kinder als Naturforscher, München 2005, S. 34 ff.
Dr. Donata Elschenbroich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Jugendinstituts in München.
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