fK 6/06 Diller

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Gemeinsam an einem Strang

Eltern-Kind-Zentren und Mehrgenerationenhäuser

von Angelika Diller

„Familie allein genügt nicht“, dieses Leitthema der Veranstaltung lässt sich aus institutioneller Perspektive ergänzen: „Institution allein genügt (auch) nicht“. Beide Positionen markieren die Eckpunkte im Verhältnis von öffentlichen Institutionen und Familie, das durch die Auswirkungen des sozialen Wandels in eine neue Ära getreten ist. Ein Meilenstein ist die Weiterentwicklung bestehender Einrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren/Familienzentren oder auch Mehrgenerationenhäusern, die mit einer bedarfsorientierten, integrierten Angebotsstruktur Eltern, (kleine) Kinder und die ganze Familie fördern und unterstützen wollen.

Familienpolitischer Kontext
Eigentlich müsste eine vernetzte Angebotsstruktur, die den substanziellen Kern der Eltern-Kind-Zentren ausmacht, flächendeckend implementiert sein, denn im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sind Vernetzung und Kooperation der Institutionen konzeptionell verankert. Die institutionelle Entwicklung der letzen dreißig Jahre zeigt jedoch, dass diese Vorgabe nicht oder nur ansatzweise umgesetzt wurde. Die Gründe dafür sind komplex: Die fachliche Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsfelder hat die Versäulung der bestehenden Angebotsstruktur begünstigt und es fehlte der politische Wille, bzw. die Einsicht in die Notwendigkeit eines unterstützenden Netzwerkes für die ganze Familie.

Erst die breite, medienbegleitete gesellschaftliche Diskussion über die Auswirkungen des sozialen Wandels auf die familiären Lebensbedingungen einerseits und über die gesellschaftspolitischen Folgen einer weiteren Schwächung von Familien andererseits hat einen tief greifenden politischen Bewusstseinswandel eingeläutet und Familienpolitik zu einem zentralen, parteiübergreifenden Anliegen gemacht.

Insbesondere der 7. Familienbericht analysiert die Komplexität familiärer Lebenslagen. Aus der Vielzahl der Ergebnisse möchte ich drei Aspekte herausgreifen: (1) Die Leistungen der Familie sind keine naturwüchsig ablaufenden Prozesse, vielmehr ist Familie eine ständige Herstellungsleistung, d.h. die Gestaltung des familialen Zusammenhaltes ist aufwändig, risikoreich und muss ständig neu gelingen. (2) Die geforderte berufliche Flexibilität und Mobilität haben erhebliche Auswirkungen auf familiale Lebenslagen und erschweren die Balance zwischen Familie und Beruf. (3) Erziehung wird komplizierter, da Eltern sich nicht mehr auf die eigenen Erziehungserfahrungen verlassen können.

In der Konsequenz fordert der 7. Familienbericht einen Dreiklang von Geldpolitik, Zeitpolitik und sozialer Infrastrukturpolitik. Eine soziale Infrastruktur mit passgenauen Angeboten für alle Familien markiert einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von öffentlichen Institutionen und Familie. Denn deutsche Familienpolitik orientierte sich – bis in die 1990er Jahre – an einem idealisierten Familienverständnis. Demnach brauchte die „gute Familie“, – die nach dem Modell der Hausfrauenehe funktionieren sollte –, eigentlich keine institutionellen Unterstützungen. Der 7. Familienbericht und auch der 12. Kinder- und Jugendbericht machen deutlich, dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse die Lebensbedingungen aller Familien und das Aufwachsen der nachwachsenden Generationen erschweren. Um diese gesellschaftlich verursachten Probleme auszugleichen, bedarf es einer familienentlastenden Infrastruktur.

Der Bedeutungswandel öffentlicher Institutionen für Familien lässt sich eindrucksvoll an der Kindertageseinrichtung nachzeichnen: 1922 hatte der Kindergarten Bewahrungscharakter, der die „Versorgung der Aufsichtslosen, schwer erziehbaren und nicht vollsinnigen Kleinkinder in Tagesheimen, Krippen und Verwahranstalten“ sicherstellen sollte. In der Nachkriegzeit waren die Einrichtungen hauptsächlich für Familien mit erzieherischen Unerstützungsbedarf vorgesehen. Erst allmählich setzte sich die Kita als notwendige „familienergänzende“ Institution durch. Mit der Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz stieg die familienpolitische Bedeutung der Einrichtungen. Mittlerweile ist die Doppelfunktion der Kitas für die Bildung der Kinder und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unstrittig und im Tagesbetreuungsausbaugesetz festgeschrieben (vgl. Wiesner, 2003).

Entwicklungslinien und Organisationsformen
In diesem familienpolitischen Kontext steht die Entwicklung der Eltern-Kind-Zentren, die in der Praxis auch andere Namen haben, z.B. Familienzentren oder Elternkompetenzzentren. Das Deutsche Jugendinstitut hat im Auftrag des Bundesfamilienministeriums diese Entwicklung vor Ort recherchiert, die weiteren Ausführungen basieren auf den Ergebnissen der Recherchen.

Der fachliche Anstoß für die Praxisentwicklung kam aus unterschiedlichen Feldern. Vor dem Hintergrund familienpolitischer Diskurse wurde die Entwicklung der Zentren auf Bundesebene durch das familienpolitische Konzept der Ministerin a.D. Renate Schmidt forciert. Im Zusammenspiel der Allianz für Familien, den familienfreundlichen Betrieben, den Lokalen Bündnissen für Familie und den Eltern-Kind-Zentren sollte ein breites gesellschaftliches Bündnis zur infrastrukturellen Unterstützung und Förderung von Familien entstehen. Parallel zu den familienpolitischen Weichenstellungen hat an vielen Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander eine Weiterentwicklung der Praxis begonnen und dementsprechend auch zu unterschiedlichen Bezeichnungen geführt.

Die Basiseinrichtungen, aus denen sich Eltern-Kind-Zentren entwickelt haben, lassen sich in zwei Arbeitsfeldern verorten: die Arbeitsfelder der Tageseinrichtungen für Kinder bzw. der Familienbildung/Familienzentren. Den quantitativ größten Anteil an der Weiterentwicklung haben die Tageseinrichtungen für Kinder. Dies ist nachvollziehbar, da Kindertageseinrichtungen mit bundesweit ca. 50.000 Einrichtungen flächendeckend verbreitet sind. Es gibt keinen öffentlichen Einrichtungstyp, der mehr Einrichtungen vorhält. Die Anzahl der Institutionen innerhalb der Familienbildung liegt bundesweit bei ca. 600. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Angebote der Familienbildung auch in anderen Institutionen eine große Verbreitung haben.

In der Recherche wurden verschiedene Organisationsformen identifiziert: Am häufigsten anzutreffen sind Eltern-Kind-Zentren, die sich aus der Basiseinrichtung Kita entwickelt haben, die so genannte „Kita-plus“. Dieser Einrichtungstyp hat unterschiedliche Organisationsstrukturen: (1) Die Leiterin der Kita organisiert und verantwortet das gesamte Angebot für Kinder, Eltern und Familien. (2) Die Leiterin der Kita ist allein zuständig für die Angebote für Kinder und Eltern der Kindertagseinrichtung. Für das zusätzliche offene Angebot gibt es eine gemeinsame Verantwortung mit anderen Institutionen.

Eine andere, seltenere Variante ist das „Kooperationsmodell“, d.h. Einrichtungen unterschiedlicher Trägerschaft setzen auf kommunaler Ebene ein gemeinsam konzipiertes Konzept um. Die Organisationsform „Zentrum“, in der unter einem Dach eigenständige Bereiche in einem Gesamtkonzept integriert sind, konnte ebenfalls nur in wenigen Fällen ermittelt werden. In vielen Einrichtungen, die sich als Zentrum verstehen und eine integrierte Angebotsstruktur vorhalten, findet ein Teil der Angebote auch in benachbarten Einrichtungen des Stadtteils statt.

Leitorientierungen und Angebotsstruktur
Die fachliche Arbeit der Zentren kann in folgender Leitorientierungen verortet werden: Eltern-Kind-Zentren leisten einen innovativen Beitrag zur Anpassung der sozialen Infrastruktur an veränderte familiäre Bedarfe. Sie wollen eine bedarfsgerechte, integrierte Angebotsstruktur entwickeln, mit denen Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern gefördert und Eltern/Familien unterstützt werden. Mit dem Anschluss an zusätzliche regionale Angebote und eingebettet in lokale Strukturen kann ein breit gefächertes Unterstützungssystem aufgebaut werden.

Folgende qualitative Elemente kennzeichnen die fachliche Substanz der Eltern-Kind-Zentren:
– Das entscheidende Qualitätsmerkmal ist die Zusammenführung bisher getrennter Angebotssegmente mit dem Ziel, eine integrierte Angebotsstruktur für Eltern und Kinder zu entwickeln. Konkret bedeutet das, der KJHG-Auftrag Bildung, Erziehung und Betreuung wird (mindestens) mit Angebotssegmenten der Familienbildung und der Familienhilfe verknüpft.
– Darüber hinaus werden weitere Angebotssegmente angedockt, die sich zum einen an dem spezifischen Bedarf der Familien im Einzugsgebiet orientieren, zum anderen auch abhängig von der vorhandenen Angebotsstruktur des Sozialraums sind. Dementsprechend ist das Spektrum sehr breit. Dazu zählen beispielsweise Angebote der Familienberatung, die Vermittlung zusätzlicher Betreuungsangebote, Sprach- und Integrationskurse für Migranten und arbeitsmarktvermittelnde Angebote.
– Die Einrichtung öffnet ihr Angebot bzw. einen Teil des Angebots auch für Familien im Stadtteil, die keine Kinder (mehr) in der Einrichtung haben. Damit werden eine Öffnung zum Gemeinwesen und zusätzliche Kontakte und Begegnungen ermöglicht.
– Die Einrichtung ist kommunal bzw. jugendhilfepolitisch verankert, Mitarbeiter(innen) oder Träger sind eingebunden in die jugendhilfepolitischen Diskurse.
– Die Einrichtungen bzw. der Träger sind beteiligt am Aufbau eines Netzwerkes, mit dem die „Verinselung“ der fachspezifischen Angebotssegmente überwunden werden soll.

Zielgruppenspezifische Differenzierungen
Die Entwicklung eines möglichst passgenauen Angebots setzt ein differenziertes Verständnis sehr unterschiedlicher Lebenslagen voraus. Familien, d.h. Kinder und Eltern, sind keine homogenen Zielgruppen. Das Spektrum reicht von unterprivilegierten und verarmten oder von Armut betroffenen Eltern mit besonderem Unterstützungsbedarf bis zu Eltern mit hoher beruflicher Mobilität, „individualisierter Elternschaft“ und hohem Sozialstatus. In der Recherche interessierte, wie die unterschiedlichen Lebenslagen der Familien in bei der Gestaltung der Zusammenarbeit mit Eltern aufgegriffen und fachlich gestaltet werden können. Auf der Grundlage der Praxisbeispiele wird zwischen drei Kategorien unterschieden, die eine vorläufige Differenzierung ermöglichen:

(1) Einrichtungen in einem Sozialraum „mit besonderem Erneuerungsbedarf“. Dieser Einrichtungstypus arbeitet mit einer homogenen Gruppe von Familien, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Die Familien leben in relativer Armut oder sind von Armut bedroht und haben zum Teil einen Migrationshintergrund. Die Gesprächspartnerinnen berichteten, dass diese Gruppe der Eltern häufig arbeitslos ist, existenzielle Misserfolge zu verarbeiten hat, das Wohnumfeld selten verlässt und nicht gewohnt ist, sich in fremden Kontexten zu organisieren und zu präsentieren. Diesen Eltern gelingt der Zugang zu Institutionen nur über niedrigschwellige Angebote und über ihre Kinder. Offensichtlich sind die Kinder für die Eltern die Brücke zur Einrichtung. Im Umgang mit dieser Zielgruppe ist eine akzeptierende und wertschätzende Grundhaltung das entscheidende Schlüsselkriterium.

(2) Einrichtungen in einem „gemischten“ Sozialraum, in dem Familien in prekären Lebenslagen und Familien mit „normalen“ Lebenslagen wohnen. Auch die Gruppe der Eltern mit „normalen“ Lebenslagen erwartet eine positive und wertschätzende Haltung, sie will als Erziehungspartner gesehen werden und nicht „als Objekt pädagogischer Belehrung“. Sie gestaltet ihre Beziehungen zu den Mitarbeiter(inne)n der Einrichtungen anders. Sie stellt höhere Anforderungen an das pädagogische Konzept, setzt sich kritisch mit den Mitarbeiter(inne)n darüber auseinander und nimmt ihre gesetzlich verbrieften Mitbestimmungsrechte eher wahr. Diese Gruppe der Eltern nutzt die Einrichtung auch als eigenen Bildungsort, sie organisieren beispielsweise Sprachkurse oder auch andere Angebote. Darüber hinaus haben die Eltern häufig – unterstützt durch die Angebote der Kita – ein breites nachbarschaftliches Netzwerk aufgebaut, das auch nach dem Besuch der Kita bestehen bleibt.

(3) Einrichtungen in einem „gut situierten“ Sozialraum für Eltern mit hoher beruflicher Mobilität und hohem Bildungsstatus. Diese Gruppe ist selten die Hauptzielgruppe, häufiger bilden sie einen kleinen Teil der Elternschaft. Auch diese Gruppe ist interessiert an einer erweiterten Angebotsstruktur eines Eltern-Kind-Zentrums, das aber zugeschnitten ist auf ihre spezifischen zeitlichen Bedarfe. Eltern erwarten und fordern, dass die Einrichtung angedockte Angebote zur Verfügung stellt, wie z.B. die Vermittlung von Tagespflege. Einrichtungen, die rigide auf ihre Öffnungszeiten bestehen, sinken in der Wertschätzung der Eltern. Eine Leiterin berichtet, dass die Unzufriedenheit der Eltern mit den Öffnungszeiten leicht „überschwappe“ auf die Bewertung des pädagogischen Angebots. Die Beteiligung der Eltern an anderen Angeboten ist sehr unterschiedlich und abhängig von ihren aktuellen beruflichen Verpflichtungen. Bei einer intensiven beruflichen Beanspruchung beider Elternteile sinke die Möglichkeit, an Angeboten teilzunehmen. Einige Einrichtungen sind dazu übergegangen, Angebote auf das Wochenende zu legen, um den Eltern eine Beteiligung zu ermöglichen, oder auch Elterngespräche in die späteren Abendstunden zu verlegen. Diese veränderten Zeitstrukturen werden von den Eltern in der Regel sehr wertgeschätzt. Die Annahme, dass Eltern mit hohem Bildungsstatus mehr an theoretisch fundierten Bildungsveranstaltungen interessiert seien, hat sich in der Recherche nicht bestätigt. Auch diese Elterngruppe bevorzugt praxisbezogene Angebote, z.B. Training in Konfliktsituationen, berichten die Gesprächspartnerinnen.

Ein Beispiel: Angebote zur Förderung der Eltern-Kind-Beziehung
Angebote, die Eltern frühzeitig in die Bildungs- und Entwicklungsprozesse der Kinder einzubeziehen, sind wichtige konzeptionelle Elemente der Zentren. Sie fördern sowohl die Bindungen zwischen Eltern und Kindern als auch die Erziehungspartnerschaft zwischen Einrichtungsmitarbeitern und Eltern. Diese Zielvorgabe gilt für alle Eltern, unabhängig von ihren spezifischen Lebenslagen. Darüber hinaus haben die Angebote einen besonderen Stellenwert für Risikofamilien, bei denen durch frühe präventive Angebote Fehlentwicklungen und Gefährdungen abgewendet werden können. In der Recherche konnten dazu folgende „erfolgskritische Faktoren“ ermittelt werden:

Niedrigschwelliger Zugang zur Einrichtung
Ein bekanntes, selbstverständliches Kriterium ist die Wohnortnähe, weniger selbstverständlich dagegen ist der freie Zugang zur Einrichtung, d.h. die Eltern können jederzeit in die Einrichtung kommen. Dies ist zumindest für die Kindertageseinrichtungen ungewöhnlich, in der Regel können Eltern – abgesehen von den Hol- und Bringzeiten – nur nach vorheriger Absprache in die Einrichtung kommen.

Wertschätzende Beziehungsgestaltung
„Wertschätzung“ wird im fachlichen Kontext gleichermaßen gefordert wie vorausgesetzt. Die Umsetzung ist umso schwieriger, je weniger die Eltern den verinnerlichten Normen und Werten der Erzieher(innen) entsprechen und sich in Habitus, Kleidung und Auftreten deutlich von ihnen unterscheiden. Je größer die Diskrepanz zwischen Mitarbeiter(inne)n und Eltern, desto mehr an professionellen Reflexionsprozessen und sozialer und kommunikativer Kompetenz ist erforderlich. Dementsprechend erfordert die Arbeit mit Risikofamilien ein „Mehr“ an professioneller Kompetenz, das durch ein noch so gut gemeintes nachbarschaftliches Engagement nicht ersetzt werden kann.

Persönliche Ansprache, Ressourcenorientierung und Alltagsnähe
Der gut aufgemachte Flyer oder ein(e) bekannte(r) Referent(in) sind nicht entscheidend für die Anspruchnahme des Angebots. Eltern wollen persönlich, manchmal auch mehrfach angesprochen werden. Im Kern geht es dabei um die Überwindung psychologischer Hürden, beispielsweise um die Ermutigung der Eltern. Dementsprechend ist die Ressourcenorientierung der Angebote ein weiteres wichtiges Kriterium. Eltern wollen sich in den Angeboten nicht als defizitär erleben, sondern als kompetent. Anknüpfungspunkte sind der Alltag oder auch die aktuelle Situation, wie im bekannten Setting der Eltern-Kind-Gruppen. Ein weit verbreiteter und ergiebiger Anknüpfungspunkt sind alle Themen „rund um Ernährung“, an die sich viele praktische Projekte anknüpfen lassen.

Ausblick
Das Interesse an einer vernetzten Angebotsstruktur – im Fokus von Kita und Familienbildungseinrichtungen – ist bundesweit groß. So wurde in Nordrhein-Westfalen politisch beschlossen, bis Ende 2010 ca. 3.000 Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren weiterzuentwickeln. In Brandenburg ist ein vergleichbares Förderkonzept aufgelegt und auch andere Bundesländer, Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe sowie Stiftungen fördern den Aufbau vernetzter Strukturen. Vorstellbar ist, dass Eltern-Kind-Zentren/Familienzentren sich als eigener Angebotstypus neben den Mehrgenerationenhäusern etablieren, die zwar viele Gemeinsamkeiten mit den Eltern-Kind-Zentren aufweisen, aber auch deutlich umfassendere konzeptionelle Schwerpunkte setzen.

Das Konzept des Mehrgenerationenhauses
Aus fachlicher Sicht gibt es bisher keine eindeutigen Kriterien für das Mehrgenerationenhaus, vielmehr wird der Terminus für unterschiedliche Einrichtungstypen und Aktivitäten genutzt. Der Blick auf die soziale Infrastruktur zeigt, dass die Auswirkungen des sozialen Wandels auf Familien und die demografischen Veränderungen in vielen Institutionen, die sich nicht ausdrücklich „Mehrgenerationenhäuser“ nennen, berücksichtigt werden. Beispielsweise machen Einrichtungen „rund um die Familie“ wie Kitas, Eltern-Kind-Zentren, Familienbildungseinrichtungen oder Mütterzentren seit langem intergenerative Angebote für Kinder, Eltern und Großeltern. Diese Weiterentwicklung hat sich unbemerkt, eher selbstverständlich vollzogen und belegt die institutionelle Resonanz auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse.

Ein anderes Setting haben Einrichtungen mit einer komplexen Angebotsstruktur, in der Segmente aus ganz unterschiedlichen Angebotssäulen verknüpfen sind: z.B. Altenwohnen, Pflege, Bildung, Kultur, Ausbildungsprojekte für Jugendliche und Kinderbetreuung. Dieser Typus, der sich auch ausdrücklich „Mehrgenerationenhaus“ nennt, ist bisher bundesweit eher die Ausnahme. Durch die ungewöhnliche Verknüpfung unterschiedlicher Angebote entstehen neue Begegnungsorte und Aktivitäten für die verschiedenen Generationen.

Eine weitere Entwicklungslinie zeichnet sich in Niedersachsen ab, das offensichtlich Vorläufer des aktuellen Aktionsprogramms der Bundesregierung ist. Mit dem niedersächsischen Programm sollten insgesamt 50 Mehrgenerationenhäuser eingerichtet werden, zum jetzigen Zeitpunkt sind es ca. 25. Die Modellphase hat 2003 begonnen und sollte fünf Jahre dauern. Das Konzept ist im Ansatz der Nachbarschaftshilfe und Selbsthilfe verankert, in der Konzeption ist nachzulesen: „Im Mittelpunkt steht der offene Treff, der jeden Tag für Menschen aus der Nachbarschaft geöffnet ist, um Kommunikation, Zugehörigkeit, Austausch, Dienstleistung und Aktivitäten zu fördern. (…) Und über allem steht der Gedanke der Selbsthilfe, der das tragende Prinzip für das Gestalten und die Organisation ist. Zum gelingen werden sozial kompetente Menschen – jenseits professioneller Hilfe gebraucht“ (Informationen unter www.nds.ministerium.de; die Modellphase wird in Niedersachsen nicht in der vorgesehenen Laufzeit weitergeführt, die Einrichtungen können sich für das Aktionsprogramm der Bundesregierung bewerben).

Das Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ der Bundesregierung
Mit dem Aktionsprogramm leitet die Bundesregierung einen gesellschaftspolitisch wichtigen Paradigmenwechsel für die Neugestaltung der Generationenbeziehungen ein. Bisher wird in vielen öffentlichen, mediengestützten Diskursen die Überalterung der Gesellschaft beklagt und in „Untergangs- und Horrorszenarien“ diskutiert. Die Bundesregierung dagegen unterstreicht die Chancen der demografischen Veränderungen und lenkt den Blick auf die intergenerativen Austauschprozesse, von denen alle Altersphasen einen Gewinn haben können.

Im Koalitionsvertrag der die Bundesregierung tragenden Parteien ist verankert, dass bis 2010 in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt ein Mehrgenerationenhaus entstehen soll. Somit wurden die Akzente im Ausbau der sozialen Infrastruktur vom Eltern-Kind-Zentrum auf das Mehrgenerationenhaus verschoben. Die Konzeptionen haben Gemeinsamkeiten, sind aber nicht deckungsgleich. Bei den Eltern-Kind-Zentren steht im Fokus die Vernetzung von – am Bedarf von Familien mit kleinen Kindern orientierten – professionellen Angeboten, während das Konzept des Mehrgenerationenhauses als zentrale Priorität die Begegnung und den Austausch zwischen vier Generationen und die Einbindung freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements formuliert.

Das Mehrgenerationenhaus wird „als soziales Lebensmodell“ skizziert, in dem nach dem Prinzip des „öffentlichen Wohnzimmers“ Gemeinschaft aktiv gelebt werden kann und auch Ältere ihre vielfältigen Kompetenzen einbringen. Auf dieser konzeptionellen Grundlage soll das Mehrgenerationenhaus die bisherige Aufspaltung in Leistungs- und Sozialwesen überwinden und gesellschaftliche und wirtschaftliche Kompetenzen entwickeln. Die Interaktion zwischen vier Lebensaltern, die frühe Förderung von Kindern, Qualifizierung und Widereinstieg für den Beruf sind konzeptionelle Elemente für die gesellschaftliche Kompetenz der Mehrgenerationenhäuser. Darüber hinaus sollen Mehrgenerationenhäuser Dienstleistungsunternehmen in der Region werden, sowohl als eine Vermittlungsplattform für Leistungen als auch als Dienstleistungserbringer (Informationen unter www.bmfsfj.de).

Damit wird ein Einrichtungstyp mit einer sehr komplexen Angebotsstruktur konzipiert, den es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher nicht gibt und der die bisherige „institutionelle Logik“ bestehender Angebotssäulen sprengt. Es geht nicht darum, einen neuen Typus „top down“ zu kreieren, sondern vielmehr ist die Weiterentwicklung bestehender Einrichtungstypen das Förderprinzip, dementsprechend können sehr unterschiedliche Prototypen teilnehmen. Die Einrichtungen erhalten pro Jahr eine Bundesförderung von 40.000 Euro, mit der sie den konzeptionellen Ausbau der Einrichtungen initiieren können.

Die vorgesehenen Prototypen sind: (1) Eltern-Kind-Zentren – Kita plus, (2) Familien-Mütterzentren, (3) Familienbildung, (4) Schule/Sport Kultur, (5) Seniorenbildung – Seniorentreff, (6) Kirchengemeinde – Bürgertreff.

Das große Einrichtungsspektrum beinhaltet einerseits die Chance, möglichst viele mit auf den Weg zu nehmen, anderseits stehen die Einrichtungen vor unterschiedlich großen Herausforderungen. Die Differenz zwischen den Zielvorgaben des Aktionsprogramms und den Praxisbedingungen ist je nach Prototyp unterschiedlich groß, da die Prototypen sich deutlich unterscheiden:
– durch ihren Professionalisierungsgrad und des damit verbundenen Fachkräftegebotes;
– durch unterschiedliche Traditionen und Erfahrungen im Umgang mit mehreren Generationen;
– durch den unterschiedlichen Stellenwert im Umgang und Einsatz mit freiwilligem bürgerschaftlichen Engagement;
– durch die unterschiedlichen Erfahrungen hinsichtlich der Wirtschaftskompetenz.

Diese Unterschiede haben für die Einrichtungen eine große Bedeutung, wie beispielsweise an der Einbindung freiwilligen bürgerschaftlichen Potenzials deutlich wird: In Einrichtungen, die auf der Grundlage von Selbstorganisation und Nachbarschaftshilfe entstanden sind, tragen die „Ehrenamtlichen“ – häufig gegen eine geringe Aufwandentschädigung – wesentlich zum Kernangebot bei, sie sind die „tragenden Säulen“ des Angebotes. Einrichtungen mit hohem Professionalisierungsgrad sind gesetzlich verpflichtet, mit Fachkräften zu arbeiten. Hier sind die Ehrenamtlichen eine zusätzliche Ressource zum Fachpersonal, sie ersetzen es aber nicht.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Anspruch an fachliche Qualifikation in den Regeleinrichtungen „rund ums Kind“ deutlich gestiegen ist, die Reformen zur Ausbildung der Erzieherin fordern z.B. ein mehr an professioneller Qualifikation. Das gilt auch für die Arbeit mit Risikofamilien. Deswegen sollte bei der Umsetzung des Aktionsprogramms der Eindruck vermieden werden, es gehe um eine Nivellierung von lebensgeschichtlich erworbener Kompetenz und professionell erworbener Qualifikation. Vor diesem Hintergrund sind Nachbarn „per se“ keine Experten – wie es im Konzept des Aktionsprogramms zu lesen ist. Vielmehr geht es darum, den Einsatz von Ehrenamtlichen vor dem Hintergrund der institutionellen Unterschiede passgenau zu planen. Die Möglichkeiten dafür sind auch in den hoch professionalisierten Regeleneinrichtungen sehr groß. So könnte der pensionierte Chemielehrer – nach einer entsprechenden Vorbereitung – in der Kita naturwissenschaftliche Experimente durchführen und damit einen wichtigen Beitrag zur Bildungsarbeit leistet. Oder die pensionierte Geschäftsinhaberin das Angebot der haushaltsnahen Dienstleistungen rund um ein Zentrum aufbauen.

Die hochgesteckten Ziele des Aktionsprogramms werden erreicht, wenn unterschiedliche institutionelle Entwicklungsprozesse gefördert werden, die die Bedingungen des Sozialraums und die unterschiedlichen Lebenslagen der Nutzer berücksichtigen. Ein Mehrgenerationenhaus in einem Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf muss andere Akzente setzen als ein solches Haus in einem gut situierten Stadtteil. Mit Blick auf die demokratischen Grundwerte sollte das Aktionsprogramm auch zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit beitragen. Gleiche Bildungschancen und die Verringerung von Armutsfolgen sind nur zwei der zentralen Herausforderungen, die zu beachten sind.

Eine ausführliche Darstellung der Eltern-Kind-Zentren ist nachzulesen in: Diller A .(2005) Grundlagenbericht „Eltern-Kind-Zentren – eine neue Generation eltern- und kindfördernder Einrichtungen, DJI München (der Bericht wird zur Zeit ergänzt und neu aufgelegt).

Angelika Diller ist Diplom-Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Jugendinstituts in München.

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