29 Juli fK 6/05 Surall
Kindergarten und Kinderrechte
Zum 150. Geburtstag von Kate D. Wiggin – einer Pionierin der Kinderrechtsbewegung
von Frank Surall
„Kinder haben Rechte! Sie sind nicht auf die Gnade und Laune von Erwachsenen angewiesen”. Diese auch für die Arbeit im Kindergarten bedeutsame Einsicht hat sich nicht zuletzt dank der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 immer mehr verbreitet. Selbst heute ist sie aber alles andere als selbstverständlich. Vor mehr als 100 Jahren hingegen mussten es die meisten als äußerst befremdlich empfunden haben, als die Amerikanerin Kate Douglas Wiggin 1892 in ihrem Buch „Children´s Rights” zum vielleicht ersten Mal überhaupt programmatisch die Rechte von Kindern einforderte. Die ach so putzigen Kleinen, die man entsprechend ausstaffierte und wie in einem goldenen Käfig zum Vergnügen der Erwachsenen hielt (und wehe, wenn sie ihnen kein Vergnügen bereiteten!) – das entsprach nicht Wiggin´s Vorstellung von Kindheit. „Etwas weniger Sentimentalität, dafür mehr Rechte für Kinder!”, meinte sie.
Einer alteingesessenen Bürgerfamilie des amerikanischen Ostens entstammend, musste sich Wiggin (1856-1923) nach dem plötzlichen Tod ihres Stiefvaters 1877 ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung mit einem Mal danach umsehen, wie sie außer für sich selbst noch für ihre beruflich ebenso unerfahrene Mutter mit zwei jüngeren Geschwistern sorgen konnte. Wenige Jahre zuvor war die Familie nach Kalifornien gezogen. Dort machte Wiggin die Bekanntschaft der Frauen- und Bürgerrechtlerin Caroline M. Severance. Diese brachte ihr die Grundprinzipien Friedrich Fröbels nahe, der 1840 in Thüringen den ersten „Allgemeinen deutschen Kindergarten” gegründet hatte. Nach Fröbels „New Education” wurde im Osten der USA bereits an einigen Orten gearbeitet.
Von Severance erfuhr Wiggin, dass die aus Hamburg eingewanderte Emma Marwedel ihre Schule zur Ausbildung von Kindergartners – heute spricht man besser von nursery-school teachers wie im Deutschen von „Erziehern(inne)n” – von Washington nach Los Angeles verlegen wollte. Sie glaubte nämlich „im himmlischen Klima Südkaliforniens alle unerfüllten Träume Fröbels verwirklichen zu können”. In neun Monaten absolvierte Wiggin bei ihr eine Ausbildung. Neben praktischer Arbeit mit vier bis sechsjährigen Kindern am Vormittag erhielten die drei Frauen, die sich für den ersten kalifornischen Kurs angemeldet hatten, am Nachmittag theoretischen Unterricht in Psychologie, Geschichte der Pädagogik, Spielen und Geschichten-Erzählen, begleitet von umfangreicher eigener Lektüre von Fachliteratur.
Bald nach Ende ihrer Ausbildung wurde Wiggin im Juli 1878 beauftragt, in einem Vorort von San Francisco, den man heute als „sozialen Brennpunkt” bezeichnen würde, den ersten „freien”, d.h. nach Fröbels Methoden arbeitenden Kindergarten westlich der Rocky Mountains zu gründen. Finanziert wurde dieser von einer Gruppe wohlhabender Privatleute, so dass die Eltern der Kinder nichts bezahlen mussten. Der Andrang war riesengroß, und Wiggin musste die Anzahl der Kinder auf vierzig begrenzen, für die sie zunächst allein verantwortlich war. Schon 1880 eröffnete sie ein angegliedertes Ausbildungsinstitut, das in den folgenden Jahren die gesamte Westküste von der kanadischen bis zur mexikanischen Grenze mit Hunderten von Erzieherinnen versorgte. In den Sommerferien besuchte Wiggin häufig Kindergärten im Osten, um von diesen zu lernen und den Austausch zu pflegen. Nach ihrer Heirat und Übersiedlung nach New York gab sie die praktische Arbeit im Kindergarten zwar auf, behielt aber noch längere Zeit die Leitung des Ausbildungszentrums: Alljährlich reiste Wiggin im Frühjahr zur Durchführung der Abschlussvorlesungen und Prüfungen zurück nach San Francisco, während die Verantwortung für Kindergarten und Ausbildung vor Ort bei ihrer Schwester Nora A. Smith lag, die sie selbst in ihrem ersten Kurs ausgebildet hatte.
Zur finanziellen Unterstützung ihres Kindergarten-Projektes schrieb Kate Wiggin ihre ersten Kinderbücher, darunter die in den USA beliebte Weihnachtsgeschichte „The Birds´ Christmas Carol” (1886), denen sie ihre bis heute große Popularität verdankt. Schon zu Lebzeiten wurden ihre Bücher in 13 Sprachen übersetzt, ihr größter Erfolg unter dem Titel „Rebekka vom Sonnenbachhof” (1905) auch ins Deutsche (mehrfach verfilmt, z.B. 1938 mit Shirley Temple). Ebenso verfasste Wiggin zahlreiche pädagogische Schriften. Mit ihrer Schwester veröffentlichte sie das dreibändige Werk „The Republic of Childhood” (1895/96), in dem sie Fröbels Methoden (Bd. 1/2) sowie allgemein Grundsätze und Praxis des Kindergartens (Bd. 3) darstellte.
1892 erschien das erwähnte Buch „Children´s Rights”, dessen Untertitel ebenfalls auf ihre Erfahrungen im Kindergarten verwies: „A Book of Nursery Logic”, was man mit „ein Buch der Kindergarten-Logik” übersetzen kann. Vordenker der Aufklärung wie vor allem Jean-Jacques Rousseau in seinem Roman „Emile oder Über die Erziehung” (1762) hatten bereits früh den Eigenwert des Kindes entdeckt. Selbst die fortschrittlichsten Geister waren aber davor zurückgeschreckt, die Geltung der allgemeinen Menschenrechte auf Kinder (und übrigens auch auf Frauen) auszudehnen. Als Fröbel den ersten Kindergarten gründete, theoretisierte er nicht viel über Menschen- und Kinderrechte. Wiggin erkannte jedoch, dass seiner Konzeption in mancherlei Hinsicht ein praktisches Programm zum Schutz der Rechte von Kindern – Jungen wie Mädchen! – zugrunde lag. Fröbel habe die Kinder sich selbst zurückgegeben, insofern sie der Kindergarten davor bewahrte, entweder schon sehr früh zur Arbeit herangezogen oder aber ignoriert zu werden und zu „verwahrlosen”. Das Kind, so meinte Wiggin im Anschluss an Fröbel, sei kein Eigentum seiner Eltern und zu deren Nutzen oder Vergnügen da, sondern habe ein Recht auf ein Umfeld, das seinen kindlichen Bedürfnissen angemessen ist.
Bei einem ihrer Hausbesuche, die Wiggin sehr wichtig nahm, erkannte eine Mutter sie bereits von Weitem und kündigte durch das geöffnete Fenster lautstark der Nachbarschaft an: „Hey, da kommen die Kids´ Guards, die Kinder-Wächter!” So hatten die Leute das ihnen unbekannte Fremdwort Kindergarten aufgefasst und damit unfreiwillig Wiggin´s Selbstverständnis auf den Punkt gebracht: Im Kindergarten sollen die Kinder zwar keine „Aufpasser” im herkömmlichen Sinn, wohl aber Erwachsene finden, die über ihre Interessen und Rechte – im besten Sinn des Wortes – „wachen”.
Während Fröbel selbst am sozialen Kontext seiner pädagogischen Intentionen weniger interessiert war, sah Wiggin einen engen Zusammenhang zwischen Kindergarten und Gesellschaftsreform, dem sie ein ganzes Kapitel ihres Werks widmete. Entscheidend war für sie in dieser Hinsicht der Gedanke der Prävention, dem gegenüber dem alten Leitbild der Heilung bereits entstandener Schäden der Vorzug zu geben sei. Wenn über den Kindergarten hinaus auch in Familie und Schule ganzheitlich die physischen, geistigen und spirituellen Anlagen des Kindes ausgebildet würden, könnten viele der gesellschaftlichen Missstände an der Wurzel behoben werden. Den gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Kindern durch schmutzige, überfüllte Mietwohnungen in den Städten z.B. sei durch Ausgleichsmaßnahmen vorzubeugen, was mittelbar auch der moralischen Entwicklung diene.
Letztere zu fördern stellte Wiggin als Hauptziel des Kindergartens heraus, das alles andere bestimmen solle. Dabei verwahrte sie sich gegen eine Verwechslung von Moral mit blindem Autoritätsgehorsam. Nur eine freie, am Tun des Guten um des Guten willen orientierte Entfaltung des Gewissens könne zur Moral führen. Der Kindergarten soll verantwortlich und selbstbestimmt handelnde Menschen und keine Soldaten erziehen dies wurde Wiggin bereits bei ihrer ersten Begegnung mit den Gedanken Fröbels klar. Zur selben Zeit waren in Deutschland soldatische Tugenden die höchsten Erziehungsziele und galt der Militärdienst als „Schule der Nation”. Wenn Wiggin betonte, dass Kinder bei allen Tätigkeiten, die sie im Kindergarten ausführen, ihre individuellen Ideen verwirklichen sollen, setzte sie dabei die Werte der freiheitlich-demokratischen amerikanischen Gesellschaft voraus. Die moralischen Selbstbestimmungskräfte im Kind wachsen zu lassen sei „die einzig angemessene Erziehung für künftige Bürger einer freien Republik.”
Dies galt auch für die religiöse Erziehung, die Kate Wiggin auf eine praktische Religiosität beschränkte, statt autoritativ bestimmte Glaubensinhalte zu vermitteln. Dies sorgte für einige Aufregung: Eine Freundin, die sie durch Hospitationen und Gespräche für die Kindergarten-Idee gewonnen hatte, gründete in San Francisco einen zweiten Kindergarten, der organisatorisch mit einer Kirchengemeinde verbunden war. Dadurch sah ein misstrauischer Diakon die rechtgläubige Erziehung der Kinder gefährdet. Zu einem öffentlichen Tribunal in der Kirche wurde auch Wiggin als Zeugin vorgeladen. Der Diakon hatte bei Kontrollbesuchen zwar religiöse Morgengebete u.Ä. vernommen, spezifisch christliche Inhalte aber vermisst. Nun fragte er provozierend, ob Wiggin denn irgendein christliches Gebet kenne, in dem nicht wenigstens der Name Jesus Christus vorkomme. „Ja”, antwortete sie geistesgegenwärtig, „wie wäre es mit dem Vaterunser, Sir?” Darauf wusste niemand etwas zu entgegnen.
Gegen ein „Recht des Kindes auf Religion”, wie es heutige Religionspädagogen fordern, hätte Wiggin nichts einzuwenden gehabt. Sie hätte es jedoch nicht nur als Anspruchs-, sondern auch als Schutzrecht interpretiert. Wiggin war dagegen, Kinder mit christlichen Lehrinhalten zu konfrontieren, solange sie noch gar nicht in der Lage sind, diese zu verstehen und zu deuten. Vorher wären nur wirre Vorstellungen und Aberglaube die Folge, die eine Entwicklung reifer Religiosität gerade verhinderten. Zudem sollte ein Kindergarten ihrer Meinung nach offen für alle Kinder sein unabhängig davon, ob sie einer bestimmten oder auch gar keiner Religionsgemeinschaft angehörten.
Als seit Ende der 1960er Jahre neuer Schwung in die Pädagogik kam, wurde der kinderrechtliche Ansatz Kate D. Wiggin´s wieder entdeckt und „Children´s Rights” 1971 neu aufgelegt. Richard Farson, ein Vordenker der Kinderrechtsbewegung der 1970er Jahre, bezog sich 1974 in seinem Werk Birthrights (dt. Menschenrechte für Kinder) anerkennend auf Wiggins fortschrittliche Gedanken, die jedoch in Deutschland weitgehend unbekannt blieben. Dabei scheint vieles, darunter der Leitgedanke der Prävention oder der moralischen Entwicklung, gegenwärtig mindestens so aktuell wie damals. Die Bedeutung der Gesundheitsprävention etwa kommt in den laufenden Bemühungen um ein Präventionsgesetz zum Tragen; ihr von Wiggin herausgestellter enger Zusammenhang mit den Kinderrechten findet sich im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland” wieder, der im Februar 2005 verabschiedet wurde.
Ebenso nötig wie damals sind heute erwachsene Kids´ Guards, die darauf achten, dass Kindern die ihnen zustehenden Rechte auf möglichst selbstbestimmte Beteiligung, Förderung und Schutz auch tatsächlich gewährt werden. Wenn im Kindergarten und in anderen pädagogischen Institutionen ein solches Wächteramt immer mehr in das professionelle Selbstverständnis integriert würde, wäre viel gewonnen.
Literaturhinweise: Wer sich näher für Kate D. Wiggin interessiert, kann leider nicht auf deutschsprachige Literatur zurückgreifen. Empfehlenswert sind jedoch ihre humorvoll geschriebene Autobiographie „My Garden of Memory”, Boston 1923, sowie die Erinnerungen ihrer Schwester Nora A. Smith: „Kate Douglas Wiggin as her sister knew her”, Boston 1925, und die pädagogisch-biographische Darstellung von Helen F. Benner: „Kate Douglas Wiggin´s Country of Childhood”, Orono 1956. Neuauflagen der erfolgreichsten Romane sind im Buchhandel erhältlich; ferner können die Texte von 22 Werken, darunter Children´s Rights, kostenlos als Public Domain E-Texts heruntergeladen werden unter: http://www.gutenberg.net.
Dr. Frank Surall ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Sozialethik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
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