29 Jul fK 6/05 Schwan
Aufwachsen in Deutschland und Polen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
von Gesine Schwan
Kinder und Familien gehören zusammen. Aber Familie, das ist nicht alles für Kinder. Trotzdem müssen Kinder und Familien im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen – mit dem Kopf, aber auch mit dem Herzen, vielleicht noch mehr mit dem Herzen. Auch analytisch ist es eine ganz wichtige Frage, wie wir mit Kindern, mit Familien, mit Aufwachsen umgehen. In Deutschland, in Polen und auch anderswo. Nach einigen allgemeinen Anmerkungen werde ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Aufwachsens in Deutschland und Polen eingehen und abschließend ein Fazit versuchen.
Universale Kategorien des Aufwachsens
Es gibt ganz allgemeine, im Grunde universale Kategorien, in denen wir Aufwachsen sehen und interpretieren müssen. Das Lächeln eines Kindes ist universal. Wir haben oft den Eindruck, dass diese Gesten jedenfalls bei einem Kind universal schnell verstehbar sind. Je mehr dann ein Mensch geprägt ist, desto mehr müssen wir uns fragen, ob sein Ausdruck genau das meint, was wir darunter verstehen.
Für alle Menschen gilt erstens, dass ihr Aufwachsen immer in Kontexten geschieht. Wie ein Kind oder ein Jugendlicher aufwächst, hängt von den Kontexten ab, von der Umgebung, der materiellen, der örtlichen Umgebung, vor allem auch der mentalen, der psychischen Umgebung. Zweitens durchlaufen Kinder überall – entwicklungspsychologisch bedingt – gewisse individuelle Abläufe in gleicher Weise. Hier kann man auch vorsichtig an gewisse universale Gesetze denken, wenngleich die psychische Entwicklung immer auch kulturell sehr stark geprägt ist, und die Kultur wiederum historisch geprägt ist.
Zugleich aber gibt es Regelmäßigkeiten, und die Art, wie man sie interpretiert, hängt wiederum davon ab, was man sich allgemein als Bild vom Menschen vorstellt. Man kann nicht eine Entwicklungspsychologie aufbauen, ohne dass irgendwann eine solche a-historische Idee über die Natur des Menschen angesetzt wird. Und diese Vorstellungen vom Menschen sind natürlich auch wieder ein bisschen weltanschaulich und religiös geprägt. Insofern sind alle entwicklungspolitischen Interpretationen auch schon kulturell kontaminiert, angesteckt von dem, was kulturell geprägt ist.
Mehr und mehr wird gesehen und wir müssen darauf achten, dass die frühkindliche Phase ungemein wichtig ist, viel wichtiger als lange angenommen. Eine Kategorie, die ich nicht nur für Kinder, nicht nur für Erwachsene, sondern für die Gesellschaft insgesamt für zentral halte, ist die Kategorie des Urvertrauens. Das ist aus meiner Sicht die zentrale Kategorie. Es ist sehr schwer für Menschen, im allgemeinen ohne Vertrauen zu leben. Es ist sehr schwer für Kinder, ohne Vertrauen aufzuwachsen. Sie sind ja zunächst hilflos, sie sind darauf angewiesen, dass die Mutter, die ihnen die Hand reicht, es nicht so macht wie von Bert Brecht an einer Stelle seines Werks beschrieben, wo die Mutter den Sohn fallen lässt, nur damit er sieht, wie das Leben spielt. Sondern die Hand, die gereicht wird, soll Sicherheit bieten und das muss auch erfahren werden können. Das ist für alle zunehmend ein Problem.
Eine zentrale Frage ist daher, welche psychischen Sicherheiten ein Kind erwerben kann. Als berufstätige Mutter sage ich nicht, dass ein Kind nur dann glücklich aufwachsen kann, wenn die Mutter – und nur die Mutter – 24 Stunden am Tag für das Kind zuständig ist. Aber es muss eine zahlenmäßig begrenzte Anzahl von Bezugspersonen geben, auf die sich ein Kind verlassen kann und von denen ausgehend es dann mehr und mehr die Welt erwerben kann. Ziemlich eindeutig ist auch, dass man das Ermuntern, das Stärken von Kindern – Empowerment – diesen Keim des Urvertrauens besser fördern muss als einzuschüchtern, zu ängstigen und mit Verlassen zu drohen. Wichtig ist auch, dass der Übergang in das Erwachsenwerden noch einmal eine ganz wichtige Phase ist.
Drittens ergibt sich, dass alle diese Kontexte kulturell und historisch jeweils besonders sind, bei allen Universalien, die wir immer wieder suchen.
Gemeinsamkeiten des Aufwachsens in Deutschland und Polen
Wir haben sehr viele gemeinsame Herausforderungen. Wir können zunächst einmal sagen, dass beide Länder – obwohl die Produktionsstruktur, also das Verhältnis von Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor, lange sehr unterschiedlich war – seit dem 19. Jahrhundert in einem ständigen Progress der Differenzierung, der Individualisierung und auch der Pluralisierung leben. Und das ist nicht unwichtig für das Aufwachsen von Kindern. Wir haben eine immer größere Pluralisierung in Sachen Religionsstruktur, Berufsstruktur und Generationenmilieus. Die Kulturen der Generationen differenzieren sich immer weiter. Weiterhin haben wir global – in Europa weniger noch als in anderen Regionen – große Migrationen. Kulturell-ethnische Unterschiede werden immer komplexer, auch innerhalb von Migrantenmilieus. Das nenne ich, weil Kinder, die in einem stabilen Kontext aufwachsen, wegen ihrer Sicherheitsbedürfnisse es wenigstens scheinbar leichter haben. Wenn ihnen genügend andere Unterstützung widerfährt, kann es auch sein, dass ein pluraler Kontext für ihre Entwicklung besser ist. Aber sie müssen eine Portion Sicherheit haben, sonst sind sie von so viel Pluralität überfordert. Und wie alles sind das in den vergangenen 150 Jahren Herausforderungen und Chancen. Aber ihre Entwicklung kann auch scheitern.
Wir haben die Lockerung traditioneller Bindungen. Wir haben immer höhere Bildungsstandards und auch Bildungsstände, die ebenfalls zu Individualisierung und Differenzierung beitragen. Wir haben für viele Menschen sehr viel mehr Chancen aufzusteigen, oder vorsichtiger ausgedrückt, ihren unterschiedlichen Weg zu finden. Die Medien spielen eine viel wichtigere Rolle als zu früheren Zeiten, dies insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Akteure und die Milieus werden immer differenzierter. Die Akteure, die auf die jungen Menschen Einfluss nehmen, sind immer komplexer. Es ist nicht mehr nur die Familie, die inzwischen relativ früh als Haupteinflusssphäre aufhört. Sehr wichtig sind die Peergroups, und zwar umso wichtiger, je weniger die Familie selbst etwas zu bieten hat. Sehr wichtig sind dann innerhalb der Peergroups politische Gruppen, die unpolitisch anfangen aber politisch weitermachen.
Das heißt, das Aufwachsen differenziert sich immer mehr in beiden Ländern. Wir müssen sehen, dass weder die Familie, noch die Schule, noch die Peergroups, noch die politischen oder sportlichen Vereine für sich allein verantwortlich zu machen sind für das, was mit den jungen Leuten geschieht. Alle diese Strukturen haben ganz stark etwas mit der ökonomischen Entwicklung zu tun. Das Problem der Verselbständigung von Ökonomie, die nicht mehr oder nur noch schwer politisch gesteuert werden kann, ist in meiner Sicht die größte Herauforderung. Dabei geht es um anonyme Prozesse, die wir nicht verantwortlich machen können, weil Verantwortung in meinem Sinne personal ist, aber die unglaublich stark wirken, und wo wir uns viel einfallen lassen müssen, um sie in eine gute Richtung zu lenken.
Mit alledem hat sich auch die Familienstruktur sehr verändert. Die größte Herausforderung ist, dass das Modell „Vater geht in die Welt, Mutter ist zu Hause und sorgt für innen” – das bereits früher nicht immer stimmte, z.B. in Handwerksfamilien – jetzt einfach nicht mehr funktioniert. Ich bin daher eine Verfechterin der partnerschaftlichen Familie. Und mit Familie meine ich einerseits die traditionelle Form, aber auch, wenn diese nicht möglich ist, alle stabilen personalen Zusammenhänge, in denen Generationen aufwachsen.
In den Jahren seit 1989 – und das gilt für beide Länder – gab es eine riesige Zunahme von Arbeitslosigkeit. Das ist das Faktum Nummer eins, und das wirkt bis in die Psychostruktur des Zweimonatigen hinein. Es gibt größere gesellschaftliche Diskrepanzen innerhalb der Gesellschaften. Wir stellen eine Zunahme von Armut fest, insbesondere der Kinderarmut, die vor allem Alleinerziehende mit Kindern betrifft. Wir haben eine Unklarheit, wie die sozialen Sicherungssysteme weiter funktionieren können. Und wir haben deutliche demographische Entwicklungen. Auch in Polen ist die Zahl der Kinder seit 1989 deutlich zurückgegangen.
Insgesamt also haben wir für einen Teil der Gesellschaft und für einen Teil der Aufwachsenden erheblich bessere Chancen: bessere Aus- und Fortbildungschancen usw. Und wir haben für andere abgestuft erheblich schlechtere Chancen. Daher können wir nicht generell vom Aufwachsen sprechen, sondern wir haben in manchen Bereichen Erscheinungen, wie zum Beispiel eine grauenhafte Ausbeutung oder auch einen grauenhaften sexuellen Missbrauch, den ich noch vor einiger Zeit nicht für möglich gehalten habe. Dabei spreche ich gar nicht von den traditionellen, sondern von den kommerziell betriebenen Missbräuchen.
Ich sage nun nicht, dies ist der Preis der Freiheit. Ich sage, diese Erscheinungen sind mit der neuen Freiheit mitgekommen. Mein Freiheitsverständnis ist breiter. Dabei will ich auch ein liberales Freiheitsverständnis haben. Aber wir müssen sehen, dass wir dieses Freiheitsverständnis einbetten, so dass nicht an der deutsch-tschechischen Grenze ein so grauenhafter Kinderhandel und Kindermissbrauch stattfinden kann mit der Folge, dass man nur noch versinken möchte vor Scham über diese Zustände.
Fazit: für einen erheblichen Teil der Kinder in Deutschland und Polen besteht eine dramatische Situation. Denn wenn Kinder keine echten Chancen mehr haben, und wenn sie in Familien aufwachsen – und davon gibt es inzwischen in beiden Ländern eine ganze Menge, in denen Alkoholismus herrscht, in denen sich keiner richtig kümmert, dann ist es schon schwer, Chancen einer freiheitlichen Demokratie wahrzunehmen. Der Staat muss dann mit Nachdruck sehr klare Angebote geben, damit solche Kinder nicht in diesen Milieus bleiben, sondern andere Chancen haben. Das ist ein funktionales Problem für die Gesellschaft, und das ist natürlich menschlich eine riesige Problematik und eine Tragödie.
Unterschiede des Aufwachsens in Deutschland und Polen
Innerhalb dieser historischen und sozioökonomischen Entwicklung gibt es besondere Bedingungen. Ich fange mit Deutschland an. Da muss ich gleich sagen, man kann nicht gut von einem Deutschland sprechen. Wir haben nach wie vor große Unterschiede in Deutschland, auch Nord-Süd, aber vor allem Ost-West betreffend. Denn die Sozialisation vor 1989 – zwischen 1945 und 1989 – in den beiden Teilen Deutschlands ist nun einmal eine andere gewesen. Daraus sind Einstellungen und Erwartungen entstanden, die wir nicht vom Tisch wischen können. Dies bedeutet nicht, dass wir uns nicht verständigen können.
Ich beginne mit dem westlichen Deutschland. Dort sind die allgemeinen Entwicklungen eher langfristig gewesen. Westdeutschland hatte eine lange Zeit der Eingewöhnung in die demokratischen und freiheitlichen Entwicklungen. Es bestand zum Beispiel die Möglichkeit, viele Vereinigungen, Initiativen, zivilgesellschaftliche Organisation zu entwickeln wie zum Beispiel die Deutsche Liga für das Kind. Damit verbunden konnte gelernt werden, wie diese Initiativen auf den politischen Prozess einwirken. Dies alles entstand in der ersten Zeit unter sehr guten ökonomischen Bedingungen. Westdeutschland hat also einen ganz anderen Eingewöhnungsprozess in die Demokratie bekommen. Und das ist mental sehr wichtig. Auch für die ältere Generation, die mit den Nachwachsenden umgeht. Denn man kann an die nachwachsende Generation nur das weitergeben, was man selbst fühlt.
Aber auch wir erleben, dass die Arbeitslosigkeit, die strukturellen Verwerfungen ein großes Problem darstellen. Dass unsere Pluralisierung nicht einfach ist, dass wir Ghettobildung und eine große Diversifizierung des Aufwachsens der Kinder haben. Und wir haben lernen müssen, dass wir uns mehr kümmern müssen, damit junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft Chancen haben, sich in einem demokratischen Umfeld zu finden und ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Wir haben jetzt auch in Westdeutschland mehr Kinderarmut. Wir haben aber eine Art Unterfutter, das dazu führt, dass man sich dagegen wehrt, eigene Initiativen gründet, dass ein großes Stiftungswesen Geld bereit stellt, um dagegen vorzugehen. Es ist erstaunlich, dass nach wie vor etwa 80 Prozent der Kinder in Familien aufwachsen, die sozusagen der erste Zusammenschluss sind. Das sagt allerdings noch nichts darüber aus, was hinter den Kulissen passiert. Auch sollten wir die Schwierigkeiten, die wir mit den Arbeitslosen haben – auch mit der Rückwirkung der Angst vor Arbeitslosigkeit , nicht unterschätzen. Die informelle Weitergabe von Perspektiven und Gefühlen in Familien und Nachbarschaften ist viel wichtiger als das, was später kognitiv über die Schule läuft.
Ich komme zu Ostdeutschland. Diese Gegend hier zum Beispiel um Frankfurt (Oder) hat knapp 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Und sie kennt eine Geschichte im 20. Jahrhundert, die eine Menge Erfahrungen des Scheiterns hinter sich hat, materielle und auch moralische Erfahrungen des Scheiterns. Nach dem ersten Weltkrieg, dann die NS-Zeit, nach 1945, nach 1989, immer wieder Brüche im materiellen Erfolg und im Selbstwertgefühl. Die Menschen hier geben ihren Kindern zu Hause natürlich andere Sachen mit als eine erfolgreich blühende Landschaft. Hier hilft auch nicht der einfache Appell an die Verantwortlichkeit der Familie. Zwar ist richtig: Demokratie setzt auf Bürgersinn, Familien haben Vorrang. Aber wir können nicht einfach sagen, jetzt nehmt eure Verantwortung wahr. Das ist gegenüber bestimmten Milieus in den Wind gesprochen. Das geht nicht. Die Menschen müssen ihrerseits auch dazu in der Lage sein, wobei richtig ist, dass niemand prinzipiell von der eigenen Verantwortung freigesprochen werden kann. Das sind zwei Blickwinkel, die logisch nicht vereinbar sind. Sowohl, dass ich immer verantwortlich bin, als auch, dass es nun einmal Situationen gibt, in denen die meisten Menschen dazu tendieren, so oder anders zu reagieren. Diesen Gegensatz muss man aushalten.
In Ostdeutschland haben wir nach 1989 einen enormen Bruch gehabt. Zunächst einen Aufbruch, und dann Schwierigkeiten, sich in die neue Situation zu finden. Besonders gravierend ist das Problem, dass der Aufbau der Demokratie in Ostdeutschland das Handicap hatte, nicht mit ökonomischem Wohlstand einherzugehen oder zumindest mit der Perspektive dorthin. Und das Zusammenspiel von Ost- und Westdeutschland ist zumindest ambivalent. Materiell war und ist es ungemein hilfreich, das ist gar keine Frage. Psychologisch ist es ambivalent: Da gab es solche, die wirklich geholfen und sich voll eingesetzt und identifiziert haben. Und es gab andere, die durchaus ein bisschen triumphalistisch aufgetreten sind. Wenn man sich in die Situation der Ostdeutschen versetzt, muss man sich darüber klar werden, dass es manchmal schwer ist, die Entwertung des Systems von der Entwertung der eigenen Biographie zu trennen. Das ist auch etwas, was das Aufwachsen von Kindern beeinflusst. Ich denke allerdings, dass die Jüngeren langsam darüber hinwegkommen.
Weiterhin gibt es für viele Frauen die neue Situation, dass Kindergärten entweder bezahlt werden müssen oder nicht mehr da sind. Es wurde mir oft gesagt: Wie kann man denn verlangen, dass arbeitslose Frauen in Ostdeutschland ihre Kinder nun trotzdem in den Kindergarten bringen, die sollen doch für ihre eigenen Kinder sorgen. Das ist kurzsichtig, weil man nicht merkt, dass erstens diese Kinder dann noch weniger die Chance haben, in den allgemeinen Entwicklungsprozess hineinzukommen. Und weil man zweitens nicht merkt, dass diejenigen, die dann zu Hause sind, zwar die Zeit haben, sich um die eigenen Kinder zu kümmern, sich aber in einer psychischen Situation befinden, die nicht gedeihlich ist. Zumal sie aus einer Situation kommen, in der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbstverständlich zu sein schien.
Die Perspektive einer partnerschaftlichen Erziehung war in Ostdeutschland einerseits theoretisch mehr vorhanden, weil alle selbstverständlich in den Beruf gingen. Im praktischen Leben jedoch war sie keineswegs immer vorhanden. Insgesamt ist mein Eindruck, dass eine Reihe von Institutionen in der DDR, auch im Schulwesen, gar nicht so schlecht waren. Aber durch diese politische Überwölbung, durch die Einheitspartei, waren sie eben anders politisch imprägniert. Wenn Finnland institutionell dasselbe wie die DDR gemacht hat, wie zum Beispiel die Einheits- oder Gesamtschule, dann war es eben nicht dasselbe, weil der Geist, der dabei in Finnland herrschte – das Achten auf das Individuum, das Empowerment – in der DDR eben nicht vorhanden war.
Insgesamt meine ich, dass wir in Familie und Schule in Deutschland immer noch eine ziemlich starke autoritäre Tradition haben, auch in Westdeutschland. Es ist meiner Ansicht nach dieser Autoritarismus, der eher damit operiert, wie schlecht die Situation, wie gefährlich sie ist, wie wir kurz vor dem Abgrund stehen, was alles droht. Wichtig ist daher, dass wir institutionell und mental in Deutschland gemeinsame Perspektiven entwickeln, die auf Partnerschaftlichkeit im Aufwachsen in jeder Hinsicht gerichtet sind.
Ich komme zu Polen: Vor 1989 hatten wir in Polen nicht einfach eine homogene Gesellschaft. Es gab zwei Institutionen von großer Bedeutung: die katholische Kirche und die Partei. Das heißt, es gab keine institutionell und mental unangefochtene Autorität. Es gab immer zwei, und die kommunistische Partei war sehr viel weniger anerkannt als die Kirche, de facto bestand also ein Semi-Pluralismus. Es gab unterschiedliche Milieus, wie zum Beispiel die so genannten Clubs der katholischen Intelligenz, die eine Keimzelle für die Pluralisierung im polnischen Leben waren. Die haben sich nicht so sehr mit Politik befasst, sondern sie haben sich überlegt, wie christliche Erziehungsprinzipien in der Gesellschaft verwirklicht werden können. Aus diesen Clubs sind dann später die besonders motivierten Unterstützer von Demokratie hervorgegangen.
Gleichwohl hat der Staat offiziell einen Anspruch gestellt. Aus dieser Situation heraus haben die Polen nach 1989 eine starke Aversion gegen alles gehabt, was als staatliche Verantwortung für Erziehung galt und haben diese auch ziemlich stark abgebaut. Die Polen haben eine lange Tradition, ihre Gesellschaft abseits des Staates und gegen den Staat aufzubauen. Man ist lebenstüchtig, wenn man geschickt unterminiert, was von dort kommt. Das, was vom Staat kommt, sieht man erst einmal mit Skepsis an.
Die Reformen in Polen seit 1989 haben die Gesellschaft enorm durcheinander gewirbelt und noch viel stärker als bei uns zu diskrepanten Situationen geführt. Sie haben ganz große Gewinner hervorgebracht. Der Bildungsstand von polnischen Jugendlichen zum Beispiel und dann von Universitätsangehörigen ist enorm gestiegen. Auf der anderen Seite gibt es eine starke Verarmung der Kinder. Es gibt eine große Zahl von alleinerziehenden armen Familien.
Ein Unterschied neben der Staatsaversion ist die Stärke der katholischen Kirche, die in Polen, was die zivilgesellschaftlichen Tendenzen betrifft, eher diejenigen Gruppen gestärkt hat, die sozial-caritative Hilfe leisten als solche, die bürgerschaftliches Engagement in kritischer Kooperation mit Kommunen betreiben. Das ist durchaus positiv, aber es gibt auch einen Teil der katholischen Kirche, der sehr autoritär ausgerichtet ist und sehr wenig die modernen Überlegungen von der Eigenständigkeit der Kinder verkörpert.
Mein Eindruck ist, dass in Polen zugleich mehr Freiheit und mehr Hierarchie vorhanden sind. Es gibt das legendäre polnische Freiheitsbewusstsein, Unabhängigkeit gegenüber der Regierung, auch Individualismus. Auf der anderen Seite gab es im Schul- und Hochschulsystem bis vor kurzem immer noch eine sehr viel größere Bravheit. Ein großer Unterschied besteht auch darin, dass die jungen Menschen in Polen insgesamt – und man kann ja nicht immer alles soziologisch ausdifferenzieren – vitaler, lebenslustiger und fröhlicher sind als diejenigen in Deutschland, was ich nach wie vor mit der Erfahrung des Nationalsozialismus in Verbindung bringe.
Schlussfolgerungen
Analytisch und normativ gehe ich davon aus, dass Kinder in Kindheit und Jugend Sicherheit und Vertrauen brauchen. Gegenwärtig erleben wir jedoch eine radikale Liberalisierung in der ökonomischen Globalisierung. Es scheint mir daher für das Aufwachsen von Kindern in Polen und Deutschland – für die Rahmenbedingungen – entscheidend zu sein, dass wir politisch ein Gleichgewicht zwischen der ökonomischen Effizienz und der sozialen Sicherheit hinbekommen. Ein neues Gleichgewicht, das neu durchdacht und in den inhaltlichen Gewichtungen etwas anders sein muss, was die Zuordnung der Verantwortung zum Staat oder zur Kommune einerseits und zum Individuum andererseits angeht. Ohne eine gewisse soziale Sicherheit werden Kinder keine gute Zukunft haben. Denn die soziale Unsicherheit teilt sich den Eltern mit, und was von den Eltern kommt, das geht weiter. Die Angst, in einem Kampf nicht bestehen zu können, spüren Kinder sofort. Und das hemmt das Lernen. Man lernt mit Angst nicht besser, sondern mit Sicherheit.
Es hat mich sehr gefreut, als ich kürzlich in der Zeitschrift Economist gelesen habe, dass China nun festgestellt hat, dass es der Ökologie einen größeren Stellenwert geben und die soziale Sicherheit verbessern muss. Dies erwähne ich deshalb, weil ich es falsch finde zu sagen, die ökonomische Globalisierung verbiete es uns hier in Europa, noch etwas für soziale Sicherheit zu tun. Nein, die Perspektive muss anders sein. Auch aus ökonomischen Gründen müssen wir versuchen, eine Globalisierung hinzubekommen, in der die Perspektive der sozialen Sicherheit nicht einfach aufgegeben wird. Wo man nicht „Catch as catch can” als Lebens-Devise hat, sondern wo wir auch staatliche Verantwortung für soziale Sicherheit behalten – nicht mehr nur einzelstaatliche, das muss irgendwann anders organisiert werden , denn Kinder brauchen diese fundamentale Sicherheit, dann ist die Perspektive der Kinder besser. Und sie können sie nur gewinnen, wenn auch die Eltern eine fundamentale Sicherheit haben.
Wenn es uns gelingen soll, dass die Aufwachsenden in dieser Welt die Hoffnung auf eine bessere Welt behalten, dann dürfen wir die Liebe – die wohlmeinende Zugewandtheit – zu anderen nicht vergessen. Wir müssen die Liebe als Energieprinzip erhalten, für die kleinen Kinder, für die Eltern, und nicht immer bei ihnen die Sündenböcke finden, für die Schulen, und nicht bei den Lehrern die Sündenböcke finden, sondern ihre Lage mit Zuwendung anschauen und sehen, in welchen Dilemmata sie sich befinden und daraus Konsequenzen bis in die Gesetzgebung ziehen. Ich selbst glaube immer weniger erschütterlich daran, dass die Liebe wirklich die größte Kraft ist.
Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen.
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