29 Jul fK 6/05 Jaros
Die Situation der Kinder in Polen
von Pawel Jaros
Die Einrichtung des Verfassungsorgans „Ombudsman für Kinderrechte” unterstreicht die Bedeutung, die Kindern in Polen beigemessen wird. Natürlich ist die Funktion des Ombudsman für Kinderrechte nicht mit der eines Ministers vergleichbar, aber es ist doch eine Funktion, die beispielsweise mit der des Vorsitzenden der Nationalbank gleichrangig ist. Das zeigt, welches Gewicht den Kinderrechten in Polen beigemessen wird. Die Institution „Ombudsman für Kinderrechte” ist ein spezielles Organ, das sich auf komplexe Weise mit den Kinderrechten in Polen befasst. Meine Hauptaufgaben sind Überwachung und Kontrolle der Kinderrechte sowie die Unterstützung derjenigen Organisationen, die sich mit Kinderrechten befassen. Im Einklang mit der Verfassung hat der Ombudsman für Kinderrechte in erster Linie die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention in Polen zu überwachen und darüber hinaus aller weiteren Gesetze, die Kinder betreffen. Aber er muss auch die Rechte und Pflichten der Eltern beachten.
Im Verständnis des polnischen Rechts ist das Kind ein menschliches Wesen vom Beginn der Befruchtung an bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Zu den wichtigsten Rechten des Kindes gehören das Recht auf Leben und Gesundheit sowie auf Erziehung in der Familie, das Recht auf würdige soziale Verhältnisse, ein Recht auf Ausbildung und Betreuung – in besonderer Weise betrifft dies behinderte Kinder – und ein Recht auf Schutz vor Gewalt und Demoralisierung. Bei der Ausübung meiner Funktionen muss ich mich vor allem am Wohl des Kindes orientieren. Im Interesse des Kindes muss ich mich an den Gleichheitsgrundsätzen orientieren, die aus der UN-Kinderrechtskonvention hervorgehen.
Der Ombudsman für Kinderrechte
Der Ombudsman für Kinderrechte in Polen ist eine in der Welt einzigartige Institution, denn sie ist das einzige Verfassungsorgan auf der ganzen Welt, das sich mit Kinderrechten befasst. Gemäß der polnischen Verfassung kann ich selbst initiativ werden, aber es können auch Initiativen an mich herangetragen werden. Ich kann Kontrollrechte und Initiativrechte ausüben. Beispielsweise habe ich die Möglichkeit, Anträge an das Parlament zu richten, in denen Gesetzesänderungen vorgeschlagen werden. Ich kann auch neue Gesetze anregen. Weiterhin habe ich Kontrollrechte, die denjenigen der Nationalen Kontrollbehörde ähneln. Ich kann Erklärungen von Organisationen anfordern und Einsicht in Dokumente nehmen, auch wenn diese persönliche Daten enthalten. Solche Rechte stehen nicht vielen staatlichen Organisationen in Polen zu. Meine Warnfunktion besteht darin, dass ich die Gerichte und auch die Regierung auf Bedrohungen hinweisen kann. Ich kann Schlüsse aus Handlungen anderer ziehen, daraufhin Initiativen ergreifen und diese an andere staatliche Organe weiterleiten.
Um alle diese Funktionen möglichst effektiv ausüben zu können, hat der polnische Gesetzgeber mir die Möglichkeit eingeräumt, ein Büro einzurichten. Es gibt nur ein solches Büro in Polen mit Sitz in Warschau. In dem Büro sind 43 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf 37 vollen Arbeitsplätzen beschäftigt. In unserem Büro arbeiten Spezialisten aus dem Bereich des Rechts, aber auch aus den Bereichen Psychologie, Pädagogik und Resozialisierung. Das Büro ist interdisziplinär tätig, weil sich auch das Kind in einem interdisziplinären Milieu bewegt. Unser Haushalt beträgt etwa eine Million Euro. Das ist nicht sehr viel Geld, aber für polnische Verhältnisse sind es auch nicht geringe Mittel.
Die Verwaltung teilt sich in drei Untergruppen: Neben der Verwaltungsabteilung gibt es eine Kontrollabteilung, der auch eine Informationsstelle und ein Beratungstelefon angegliedert sind. Das Telefon ist 24 Stunden am Tag erreichbar. Tagsüber zwischen acht und 20 Uhr ist das Telefon durch Mitarbeiter besetzt, in der übrigen Zeit gibt es einen Anrufbeantworter. Jeder Bürger Polens kann sich an diese Nummer wenden. Es melden sich sowohl Kinder als auch Erwachsene. Sie können auch persönlich bei uns vorbeischauen oder uns eine E-Mail schreiben und über ihre Probleme berichten. Die dritte Untergruppe ist eine Forschungs- und Analysegruppe, die Rechtsakte und Projekte untersucht, die aufgrund von Rechtsakten zustande gekommen sind. Diese Projekte werden auch unter dem Aspekt beleuchtet, welche Änderungen sie uns nahe legen.
Ein weiteres wichtiges Element meiner Tätigkeit ist die Vermittlung der Kinderrechte in der Öffentlichkeit. Deshalb führen wir einige Aktionen durch, mit denen wir die Kinderrechte bekannt machen. Wir geben Faltblätter und Informationen heraus, und wir arbeiten mit UNICEF in Genf zusammen und führen Plakataktionen durch. Gerade haben wir eine Aktion unter dem Motto durchgeführt: „Menschenrechte beginnen mit den Rechten des Kindes.” Es gibt zwei eigene Internet-Seiten: die erste ist eine Informationsseite über unsere Tätigkeit, und die zweite wird gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen redigiert. Sie heißt „Zone für Kinder”. Es gab eine Ausschreibung, die zusammen mit polnischen NGO´s und mit Lokalbehörden durchgeführt wurde, um mit unserer Tätigkeit möglichst weit in das Land und auch in die Lokalverwaltungen hinein zu wirken. Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit mit den lokalen Verwaltungsbehörden. Es gibt dort eine Zusammenarbeit im Rahmen von Beratungsbüros. Ein Büro befasst sich mit wissenschaftlicher Beratung. Eine zweite Form der Beratung geschieht durch Vertreter der NGO´s in Polen.
Es gehört zu meinen Pflichten, dem polnischen Parlament und dem Senat – der zweiten Kammer des Parlaments – jedes Jahr einen Bericht über meine Tätigkeit als Ombudsman für Kinderrechte vorzulegen. Der Ombudsman für Kinderrechte ist ein unabhängiges Organ, aber es gibt eine Abhängigkeit, die uns auferlegt ist: wir müssen den Haushalt, der uns vorgegeben wird, einhalten. Wir müssen diesen Haushalt dem Finanzminister vorlegen, der entscheidet, ob die Mittel ausreichen oder ob wir die Mittel ohne Grund überschritten haben. Ich halte das für eine gute Systematisierung meiner Rechenschaftspflicht, weil ich dadurch ein direktes Feedback vom Finanzminister erhalte.
Immer wenn das UN-Komitee für die Rechte des Kindes einen Staatenbericht aus Polen einfordert, muss ich meinerseits einen Bericht darüber anfertigen, was Polen unternommen hat, und ich muss die polnische Regierung in Genf vertreten. Die polnische Regierung hat Empfehlungen oder Anregungen vom UN-Komitee für die Rechte des Kindes bekommen, die mit den Ideen, die ich dort vorgelegt habe, weitgehend übereinstimmten. Ich freue mich natürlich über diese Übereinstimmung, weil meine Tätigkeit auf dies Weise bestätigt wird. Eine weitere wichtige Aktivität in meiner Funktion als unabhängige Verfassungsinstitution ist die Möglichkeit, wissenschaftliche Forschungen durchzuführen bzw. in Auftrag zu geben.
Auf meine Initiative hin wurde ein gesamtpolnischer Kindergipfel ins Leben gerufen, eine Versammlung aller NGO´s in Polen. Rund 800 Vertreter(innen) von NGO´s sowie aus Wissenschaft, staatlichen Behörden und Kirchen – nicht nur der katholischen Kirche – kamen zusammen. Innerhalb von zwei Tagen haben wir einen Vorschlag für einen Nationalen Aktionsplan erarbeitet. Dabei stützen wir uns auf die Initiative des Weltkindergipfels der Vereinten Nationen vom Mai 2002 in New York. Wir haben unser nationales Dokument „Ein kinderfreundliches Polen” genannt.
Die Institution, die ich repräsentiere, entspricht Standards der ENOC, das ist das Europäische Netzwerk der Ombudspersonen für Kinder. Ich bin in diesem Jahr der Präsident dieses Netzwerkes. Um den Anforderungen der ENOC gerecht zu werden, müssen wir uns nach bestimmten Grundsätzen richten. Alle Institutionen, die zu ENOC gehören, müssen unabhängige Institutionen sein. Sie müssen ein Recht zur Meinungsäußerung und zu Berichten haben und sie müssen sich an andere staatliche Organe wenden können. Und sie müssen eine unabhängige Überwachung der Kinderrechte ermöglichen und zu diesem Zweck über ein gewisses Instrumentarium zur Überwachung verfügen.
Die Lage der Kinder in Polen
Noch vor 16 Jahren lebten in Polen über zwölf Millionen Kinder. Heute haben wir nicht einmal neun Millionen Kinder. Wir haben in Polen kein gutes System, das der Gewalt in der Familie entgegenwirkt. Zwar gibt es entsprechende Bestimmungen im polnischen Strafrecht, aber das Strafrecht kann immer erst nach der Tat eingreifen. Am wichtigsten wäre es jedoch, über Mittel zu verfügen, damit Gewalt gar nicht erst stattfindet. Das Vorsorgesystem ist jedoch in Polen nicht allzu gut ausgebaut. Wir haben zwar viele staatliche und nicht-staatliche Institutionen, die sich bemühen, Kinder zu unterstützen, aber diese Institutionen sind untereinander nicht vernetzt. Oft kommt es vor, dass in einem Fall eine Hilfe von drei oder vier Institutionen ausgeht, während in anderen Fällen überhaupt keine Institution Hilfe leistet. Das System ist nicht harmonisiert. Vor diesem Hintergrund habe ich 2001 einen Vorschlag zuerst an den Senat und dann an das polnische Parlament gerichtet, der verschiedene Gesetzesakte vorsah, um ein einheitliches System der Vorbeugung von Gewalt ins Leben zu rufen. Es ging darum, die Zuständigkeiten für die Hilfe an Familien von der Wojewodschaft (der Länderebene) auf die Kreisebene zu verlagern, um dadurch näher an den Kindern dran zu sein. Ein weiteres wichtiges Element dieses Plans waren Veränderungen in der Strafprozessordnung. Es ging darum, dass das Kind im Strafprozess nicht zusätzlich dadurch leiden muss, dass es mehrmals verhört wird. Das Kind muss psychologisch auf ein Verhör vorbereitet werden, und es muss ein kinderfreundlicher Verhörraum vorhanden sein. Diese von mir angeregten Vorschläge wurden inzwischen in der neuen Strafprozessordnung berücksichtigt.
Wir wollen erreichen, dass in jedem Familienhilfezentrum jedes Kreises ein Sorgentelefon eingerichtet wird, bei dem jedes Kind anrufen und um Hilfe bitten kann. Ich möchte, dass diese Nummer jedem Kind in Polen bekannt ist. Außerdem will ich erreichen, dass die Schulen und Behörden über dieses Sorgentelefon informieren. Ich will, dass sich die Kinder sicher fühlen und sagen können, dass sie in Problemsituationen Hilfe von Erwachsenen erhalten. Kinder dürfen nicht dem Gutdünken ihrer Familie ausgeliefert sein.
Die Volljährigkeit beginnt in Polen mit 18 Jahren. Das Strafrecht schützt Kinder jedoch nur bis zum 15. Lebensjahr. Bei Verbrechen wie Pädophilie, Kindesmissbrauch, sexueller Ausbeutung und Gewalt müssen Kinder bis zum 18. Lebensjahr geschützt werden. Ich will erreichen, dass der Schutzrahmen entsprechend ausgeweitet wird. Ein Problem ist auch die Gewalt in den Medien. Es gibt Programme, welche das Kinderrecht auf Schutz vor Gewalt nicht einhalten.
Ein weiteres bedeutsames Problem besteht darin, dass in Polen immer noch circa 20.000 Kinder in Kinderheimen leben. Wir wollen die Zahl der Kinder in Heimen und auch die Zahl der Kinderheime reduzieren. Denn die Betreuung von Kindern findet am besten in Familien statt. Dies können auch Ersatzfamilien oder familiäre Kinderheime sein. Der Staat aber ist keine geeignete Institution, um Kinder zu erziehen. In keiner Familie gibt es einen Aufseher oder Leiter, es gibt keinen Buchhalter, Familien funktionieren unter völlig anderen Rahmenbedingungen. Einem Kind sollte Liebe und soziales Verhalten gelehrt werden und dies wird in staatlichen Kinderheimen gerade nicht gelehrt. Dort gibt es einen harten Drill und ein Untermaß an Solidarität und Liebe. Diese Werte können nur durch natürliche Mütter und Väter vermittelt werden. Natürlich weiß ich, dass auch manche Familien ihre Kinder schlecht erziehen und ihnen ihre Rechte vorenthalten. Wir können aber diesen Familien die Kindererziehung nicht einfach verbieten. Wir können nur daran arbeiten, diese Erziehung zu verbessern. Wir können daran arbeiten, dass das Leben dieser Kinder normale Bahnen annimmt.
Immer mehr Kinder in Polen leben in Armut. Besonders verschärft hat sich die Situation für Kinder mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Der früher bestehende Unterhaltsfonds für alleinerziehende Mütter und Väter wurde abgeschafft. Stattdessen wurde ein Scheidungsfonds eingerichtet, der dazu geführt hat, dass zusätzlich einige Tausend Scheidungen allein aufgrund der Erwartung stattfanden, auf diese Weise Geld vom Staat zu erhalten. Auf meinen Antrag hin hat das Verfassungsgericht inzwischen bestätigt, dass die Abschaffung des Unterhaltsfonds unrechtmäßig war und nicht im Einklang mit der Verfassung steht.
Sehr beunruhigend ist die Anzahl der Kinder in Polen, die nicht zur Schule gehen. Etwa 60.000 Kinder in Polen gehen aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Schule. Im Vorschulbereich gehen nur 36 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren in einen Kindergarten. Das sind im Vergleich zu Ländern der alten Europäischen Union sehr wenige Kinder. Auf dem Land gehen sogar nur 14 Prozent der Kinder in den Kindergarten bzw. in die Vorschule. In dem Nationalen Aktionsplan fordern wir, Schritte zu unternehmen, damit mehr Kinder zur Vorschule gehen.
Auch in Bezug auf das Recht der Kinder auf bestmögliche Gesundheitsfürsorge sieht es in Polen nicht zum besten aus. Etwa 70 Prozent der Schulkinder haben Karies. Auch Skoliose und andere Wirbelsäulenerkrankungen sind verbreitet. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass 1992 ein sehr gutes schulärztliches Programm aufgegeben wurde. Zuvor gab es in jeder Schule einen Arzt. Es gab ein Jod- und ein Fluor-Programm, das die Gesundheit der Kinder förderte. Damals hatten wir nicht so viele Fälle von Karies und Haltungsschäden. Wir fordern daher die Wiedereinführung eines schulärztlichen Systems. Das wäre ein sehr wichtiger Schritt in Richtung auf eine bessere Vorbeugung.
Ein weiteres Problem betrifft den Kinderhandel. Polen ist zwar kein Land, in dem der Kinderhandel zuhause ist, aber es ist ein Transitland für den Kinderhandel, und wir möchten auch dieses Problem angehen.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Institution des Ombudsman für Kinderrechte in Polen sehr wichtig ist. Zu Anfang erreichten mein Büro jährlich ungefähr 2.000 Meldungen. Nach fünf Jahren waren es bereits 12.000 Meldungen pro Jahr. Es scheint mir sehr nützlich und hilfreich für die Kinder, ein solches Organ zu haben. Auf der anderen Seite wird dadurch auch das Ausmaß der Probleme deutlich. Wir brauchen die Zusammenarbeit mit vielen anderen Organisationen, mit vielen NGO´s, die ausgezeichnete Partner sind. Wir brauchen die Regierungen, die lokalen Selbstverwaltungen. Und ich denke, dass wir auch mit den Organisatoren dieser Tagung, mit der Deutschen Liga für das Kind, zusammenarbeiten können.
Der Beitrag ist ein Auszug der nicht autorisierten deutschen Übersetzung des Vortrags von Pawel Jaros anlässlich der Jahrestagung „Kinder im erweiterten Europa” am 28./29.10.2005 in Frankfurt (Oder).
Pawel Jaros ist Ombudsman für Kinderrechte in Polen.
Sorry, the comment form is closed at this time.