fK 6/05 Christiansen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Ihr habt eine Welt geschaffen, die ganz anders ist, als wir sie uns erträumen

Kinder in Osteuropa – Entwicklungen und Perspektiven

von Sabine Christiansen

Ich freue mich, dass durch diese Jahrestagung endlich einmal die Lage der Kinder in Osteuropa in den Focus der Aufmerksamkeit gestellt wird. Wir alle – und gerade wir Medienmacher und Journalisten – wissen doch nur allzu gut, wie schwer es ist, das Licht der Öffentlichkeit auf Probleme zu lenken, die am Rande der täglichen Nachrichten liegen. Die tieferer Betrachtung bedürfen als einer Meldung von 30 Sekunden. Die wenig zu tun haben mit den Bildern von Katastrophen, wie sie uns in den vergangenen Wochen fast täglich aus vielen Teilen der Welt erreichen und erschüttern. Vielleicht ist die Übermacht dieser Bilder zu groß, man weiß schon gar nicht mehr, wo und wie man am besten helfen kann. Die Sturm- und Hochwasseropfer werden von den Bildschirmen verdrängt von den toten und schwer verletzten Kindern in den Trümmern Pakistans.

In diesem Vortrag sollen die Schwierigkeiten im Mittelpunkt stehen, denen Kinder und Jugendliche in Osteuropa gegenüber stehen. Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, dass das Leben in diesen Ländern nur trist ist. Viele Kinder erleben hier wie anderswo eine schöne und glückliche Kindheit. Weil sie Familie und Freunde haben, weil sie zur Schule gehen können und einen Ausbildungsplatz haben, studieren, reisen und etwas von der Welt sehen, weil sie Aufbruch und große Chancen verspüren und nutzen.

Aber wir dürfen auch nicht die Augen vor den Problemen vieler Kinder verschließen. Ich zitiere aus einem offenen Brief Jugendlicher aus Ungarn, Polen, Rumänien und anderen Nationalitäten, die alle auf dem Weg zu einer Agenda für Kinder in Europa und Zentralasien vor einigen Jahren an der Vorbereitungskonferenz in Budapest teilgenommen haben. In diesem Brief beschreiben die Kinder den Wandel um sie herum als „eine Welt, die ihr geschaffen habt und die wir erleben und die ganz anders ist, als wir sie uns erträumen.”

Der Fall der Mauer vor 16 Jahren löste im Osten Europas gewaltige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen aus. Über 400 Millionen Menschen mussten sich einer veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Landschaft anpassen. Sie erlebten einen völligen Umbruch ihrer bisher fest gefügten, häufig autoritär geprägten Lebensverhältnisse. Die Konsequenzen waren für viele Menschen Orientierungslosigkeit und Entwurzelung. Kriege wie ethnische Konflikte auf dem Balkan haben die Entwicklung vieler Länder jahrelang behindert.

In der Phase der allmählichen wirtschaftlichen Erholung der Länder in Osteuropa besteht jedoch das Risiko, dass der Aufschwung an den Kindern vorbeigeht. Junge Menschen tun sich mit Veränderungen leichter. Aber sie spüren auch die Belastungen des Wandels, die sozialen Härten, besonders stark. Jedes dritte Kind lebt in den Ländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion in Armut – dies sind rund 14 Millionen Kinder allein in den neun Ländern, für die Armutsdaten vorliegen.

Das Durchschnittseinkommen in Georgien oder Moldawien beträgt kaum mehr als einen Euro pro Tag. Selbst in Ländern mit positiven Wachstumsraten wie der Ukraine zeigt sich, dass wirtschaftlicher Aufschwung allein noch nicht die Lebenssituation von Kindern verbessert. Hinter bröckelnden Prachtfassaden aus der Zarenzeit und den Geschäften mit westlichen Luxusprodukten für die Wenigen lauern Armut, Hoffnungslosigkeit, Aids und der gesellschaftliche Ausschluss von Millionen benachteiligter Kinder. Armut höhlt den sozialen Zusammenhalt dieser neuen Gesellschaften aus, so UNICEF Ex-Direktorin Carol Bellamy.

Das Ausmaß an sozialem Stress durch Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven in vielen Familien spiegelt sich in dramatischen Scheidungsraten wider. In Russland zerbrechen 83 von 100 Ehen. Das Auseinanderbrechen der Familie trifft die Kinder am Härtesten. Schätzungen gehen von 1,2 Millionen Kindern aus, die in Heimen oder ähnlichen Einrichtungen landen, weil die Eltern sich aufgrund des finanziellen, sozialen und persönlichen Drucks nicht mehr in der Lage sehen, sie zu versorgen. Häufig laufen sie im Jugendalter aus den Einrichtungen weg.

Viele Ausreißer werden zu Straßenkindern. Die Kinder schlafen in U-Bahn-Schächten, gehen nicht zur Schule und schlagen sich stattdessen mit Betteln, kleinen Arbeiten und Stehlen durch. Sie leben oft in Gruppen zusammen und teilen alles miteinander: ihre erbettelten Einkünfte, ihre Drogen, ihre Hoffnungslosigkeit. Anders halten sie den Überlebenskampf und die Ablehnung der Umwelt nicht aus. Ihre gemeinsame Erfahrung ist, dass sie niemand wirklich haben will!

Gewalt in der Familie kostet jährlich 1.300 Kindern in Europa das Leben. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Für jedes Kind, das stirbt, erleiden weitere Tausende Misshandlungen durch diejenigen, die ihnen am nächsten stehen. In den nächsten 24 Stunden werden vier Kinder in Europa infolge von Misshandlungen und Vernachlässigungen sterben. Das Risiko ist für Kleinkinder vor dem ersten Lebensjahr dreimal so hoch wie für ältere Kinder. Nach Untersuchungen in 14 europäischen Staaten schätzt man, dass neun Prozent aller Kinder die Erfahrung von sexuellem Missbrauch machen. Bei Mädchen liegt der Anteil noch deutlich höher.

Über eine Million Kinder und Jugendliche in Europa und Zentralasien leben in öffentlichen Einrichtungen wie Kinderheimen, Internaten, Jugendgefängnissen oder Notunterkünften. In diesen weitgehend abgeschlossenen Institutionen herrscht häufig ein Klima der Gewalt. Immer wieder sind Mengen von Alkohol mit im Spiel – Betäubung, Mutmacher, Verzweifelungsvertreiber.

Ein noch größeres Problem aber sind Drogen, die häufig aus Afghanistan kommen und auf ihrem Weg nach Europa die Staaten Osteuropas überschwemmen. Da die Drogen, darunter vor allem Opiate, leicht zugänglich und billig sind, ist ihr Konsum unter Kindern und Jugendlichen ebenfalls stark angestiegen. Manche Kinder, wie die Straßenkinder in der ukrainischen Stadt Odessa, brauen sich oft eine hochgefährliche Mixtur aus giftigen Pilzen, Tabletten und Mohnsamen, den sie gemeinsam spritzen.

Nirgendwo auf der Welt breitet sich AIDS zur Zeit so rasch aus wie in den Staaten Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion. In der Ukraine ist die Zahl der registrierten HIV-Infektionen allein in den letzten fünf Jahren um das Zwanzigfache gestiegen. Injektionsnadeln und Prostitution unter Jugendlichen sind die Hauptursachen. Immer mehr Kinder werden bereits mit dem HI-Virus geboren – und oft von ihren Müttern gleich nach der Geburt im Stich gelassen. Viele werden ein Leben am Rande der Gesellschaft führen – stigmatisiert, ausgegrenzt.

Dieses Schicksal teilen sie mit behinderten Kindern. Schaut man auf die Zahlen, entdeckt man eine große Steigerung, ja eine Verdreifachung der offiziell registrierten Kinder mit Behinderungen. Dieser Anstieg ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass der Behinderung von Kindern heute mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gleichzeitig sind nach Schätzungen von UNICEF noch mindestens eine weitere Million behinderter Kinder nicht erfasst und erhalten oftmals keine Förderung und Hilfe. Bis heute ist in den ehemals kommunistischen Staaten die Unterbringung behinderter Kinder in isolierten, staatlichen Großeinrichtungen stark verbreitet. Zwar hat sich durch internationale Hilfe die Situation in vielen Einrichtungen etwas verbessert. Doch die sozialen Folgen der Institutionalisierung sind für die Kinder dramatisch. Viele der Bewohner hatten schon seit dem Kleinkindalter keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen. Die meisten haben keine Chance, diese Einrichtungen jemals zu verlassen. Aufgrund wachsender Armut und fehlender Unterstützung für Familien ist die jahrzehntelang praktizierte Tradition der Abschiebung in staatliche Einrichtungen ungebrochen.

Armut und Ablehnung prägen auch das Leben der meisten Roma-Kinder in Südosteuropa. Die rund sieben bis neun Millionen Roma sind die größte und am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe in Europa. Am höchsten ist ihr Bevölkerungsanteil in Rumänien, Bulgarien und der Slowakei. Kaum einer der erwachsenen Roma hat Arbeit. In vielen Staaten werden Roma-Kinder bis heute ohne Grund in Sonderschulen für geistig behinderte Kinder gesteckt oder in schlecht ausgestatteten separaten Klassen unterrichtet. Die Hälfte kann nicht lesen und schreiben. Roma-Kinder sind auch in besonderem Maße Opfer des Kinderhandels auf dem Balkan. Viele werden von skrupellosen Erwachsenen zum Betteln oder Stehlen geschickt oder gar gezwungen, sich zu prostituieren.

Keiner dieser Missstände macht an Grenzen halt. Unsere Verantwortung auch nicht. Im Zusammenwachsen liegen große Chancen für alle. UNICEF nimmt in diesen Ländern eine andere Rolle wahr als in Entwicklungsländern. Denn in den Ländern Osteuropas gibt es gut ausgebildete Kräfte im Gesundheits- und Sozialwesen und es gibt eine funktionierende Infrastruktur, auf die zurückgegriffen werden kann.

Die Hilfe von UNICEF richtet sich in den kommunistischen Nachfolgestaaten auf besonders betroffene oder gefährdete Kinder. Es geht hier nicht um die Versorgung mit elementaren Gütern wie Essen und Impfstoffen, sondern um den Schutz von Kindern vor Drogen, Alkohol und Gewalt. UNICEF engagiert sich für Heimkinder und leistet Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu Themen wie HIV/AIDS, Drogen, Gewalt in der Familie.

Wir unterstützen ganz konkret Schutzhäuser, medizinische und Ausstiegshilfe für Straßenkinder ebenso wie wir Roma-Kindern einen Schulbesuch ermöglichen. Für uns geht es in unserer Arbeit mit den Partnern vor Ort um die

  • Vernetzung von staatlichen Stellen mit Nichtregierungsorganisationen (NGO´s)
  • Unterstützung von Selbsthilfeinitiativen, zum Beispiel für Familien mit behinderten Kindern
  • Anpassung und Überprüfung der Gesetzgebung für Kinder in den Bereichen Jugendstrafrecht, Adoption und Kinderhandel.

In den meisten südosteuropäischen Staaten gibt es zum Beispiel keinen Opferschutz für Jugendliche! In vielen Ländern werden Kinder ab zwölf Jahren behandelt wie Erwachsene, obwohl diese Länder die Kinderrechtskonvention und andere Kinderschutzabkommen unterzeichnet haben. Wir wollen, dass jugendliche Opfer des Menschenhandels besser geschützt werden. Letztendlich sind die Konsumenten, die Nutznießer, die Auftraggeber dieses Menschenhandels genauso hierzulande zu finden.

Wir brauchen ein neues Bewusstsein für den Wert der Familie und die Rechte der Kinder – in dieser Region wie bei uns auch. Die Probleme und Nöte der Kinder mögen sich unterscheiden, aber Not kann nicht gegen Not abgewogen werden.

Auch bei uns öffnet sich die soziale Schere immer weiter. Auch bei uns in Berlin beispielsweise gibt es durch Spenden finanzierte Küchen, die Kindern einmal am Tag eine warme Mahlzeit bieten, die sie zuhause nicht bekommen: weil beide Eltern zwei bis drei Jobs am Tag haben, weil sie alleinerziehend und überfordert sind oder einfach im reichen Deutschland mit dem wenigen, was bleibt, nicht zurechtkommen.

Was fordern und wünschen wir für die Kinder im erweiterten Europa:

  • Es muss dafür gesorgt werden, dass der wirtschaftliche Aufschwung in den Ländern Osteuropas nicht an den Kindern vorbeigeht.
  • Arbeitsplätze für die Eltern sind dabei ebenso wichtig wie Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.
  • Jugendliche müssen in ihren Ländern eine Zukunftsperspektive haben. Massive Abwanderungen junger Menschen kann sich kein Land leisten (auch kein deutsches Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder andere).
  • Staatliche Großeinrichtungen der Vergangenheit müssen überwunden und durch kleinere, gemeindenahe Hilfsangebote ersetzt werden.
  • Familien müssen noch stärker darin unterstützt werden, für ihre Kinder zu sorgen.
  • Um jede Form von Gewalt gegen Kinder zu unterbinden, bedarf es effektiver Maßnahmen auf allen Ebenen: Gewalt gegen Kinder – gerade auch innerhalb der Familie – muss in allen Ländern per Gesetz unter Strafe gestellt werden.
  • Misshandelte Kinder müssen die Möglichkeit haben, über Nottelefone Hilfe zu bekommen. Und schließlich braucht es eine präventive Sozialarbeit, damit Gewalt gegen Kinder frühzeitig unterbunden wird.
  • Besonders wichtig ist sicher zu stellen, dass Kinder und Jugendliche eine aktive Rolle spielen, dass sie teilhaben können an politischen Entscheidungsprozessen, die ihre Rechte berühren. Kinder und Jugendliche stellen eine große dynamische Kraft für den Wandel dar.
  • Politische Reformen, die darauf abzielen, alle Kinder und ihre Rechte zu schützen, sind der sicherste Weg, um das Leben der Kinder zu verbessern.

Mit dem nötigen Willen und entschlossenem Handeln lässt sich viel erreichen. Wir sind soweit zusammen gewachsen, dann müssen diese Ziele doch erreichbar sein. Ein vermehrter Austausch von Schülern – warum eigentlich nur nach England oder Frankreich – kann viel Verständnis wecken, kann aufwerten, kann Selbstbewusstsein schaffen und Barrieren überwinden.

Viele deutsch-polnische Initiativen haben Großes geleistet und das Verständnis füreinander und für eine Welt mit gleichen Problemen massiv gefördert. Neue und wichtige Partnerschaften sind im entstehen. Gemeinsam stellen sich auch neue Herausforderungen in Bezug auf den Schutz von Kindern und jungen Menschen, die in einer Welt mit großen Risiken und viel stärker auf sich selbst gestellt aufwachsen.

Nehmen wir diese Herausforderung doch gerne an und betrachten sie nicht schon wieder als Last. Entwickeln wir einen koordinierten Ansatz, der die Wechselwirkung zwischen den Problemen berücksichtigt, ähnlich einer ganzheitlichen Medizin, dann rüsten wir uns und unsere freudig aufgenommenen, neuen Nachbarn für eine gemeinsame Zukunft in einem Europa.

Sabine Christiansen ist Journalistin und UNICEF-Botschafterin in Berlin.

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