fK 6/04 Hurrelmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Gesundheit – Krankheit – Lebenswelt

von Klaus Hurrelmann

Im ersten Teil dieses Beitrages gehe ich auf die Frage ein, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse wir über die Dynamik der physiologischen, psychologischen und sozialen Entwicklung von Kindern haben. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren immer stärker in Richtung einer interdisziplinären Orientierung gewandelt. So betont die Sozialisationstheorie, die ich seit Jahren verfolge, dass in der Kindheit ein lebenslang anhaltender Prozess beginnt, der durch die Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, der körperlichen und psychischen Konstitution (der „inneren Realität“) und der sozialen und physikalischen Umwelt (der „äußeren Realität“) gekennzeichnet ist. Auf diese Forschungen will ich etwas näher eingehen, um dann im zweiten Teil auf Störungen der Gesundheit und der Befindlichkeit zu sprechen zu kommen.

Wechselspiel von Anlage und Umwelt

Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern ergibt sich aus einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa die Hälfte der Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltenseigenschaften eines Kindes auf seine genetische Ausstattung, die andere Hälfte auf Umweltbedingungen zurückzuführen ist. Die Umwelt wirkt schon in frühen Stadien der Entwicklung auf die weitere Ausformung des genetischen Potentials ein. Umgekehrt entscheidet das genetische Potential darüber, in welcher Weise die Umwelt aufgenommen und angeeignet wird. Die soziale und physische Umwelt ist auch für das Anregungspotential verantwortlich, das die jeweilige Entfaltung und die weitere Richtung der genetischen Disposition bestimmt. Dabei zeigen sich Geschlechtsunterschiede in Persönlichkeit und Verhalten, insbesondere beim räumlichen Erinnerungsvermögen, den verbalen Fähigkeiten (die bei Mädchen stärker ausgeprägt sind) und im räumlichen Orientierungsvermögen (das bei Jungen besser ausgebildet ist).

Persönlichkeitsentwicklung ist der lebenslang anhaltende dynamische Prozess der Verarbeitung der inneren Realität von körperlichen und psychischen Impulsen und der äußeren Realität von sozialen und physischen (Umwelt-)Impulsen. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität wird oft als „produktiv“ im Sinne von „prozesshaft“ bezeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich hierbei nicht um eine passive Informationsverarbeitung, sondern um eine dynamische und aktive Tätigkeit handelt, auch wenn sie nicht immer im Bewusstsein präsent ist.

Einer der besonders umweltsensiblen theoretischen Ansätze in dieser Denkrichtung ist die ökologische Entwicklungstheorie. Sie betont den Anregungsgehalt der sozialen und physikalischen Umwelt. Kind und Umwelt beeinflussen sich in dieser Konzeption wechselseitig, so dass ein Kind Produkt und Gestalter seiner Umwelt zugleich ist. Nach Auffassung des Begründers dieser Theorie, Uri Bronfenbrenner, lebt ein Mensch in ökologischen Systemen, mit denen er sich auseinander setzen muss. Das bedeutendste System ist das Mikrosystem Familie, das alle wichtigen persönlichen Beziehungen und die räumlichen und ökonomischen Gegebenheiten der kindlichen Persönlichkeit aufnimmt. Um die Familie herum lagern sich weitere Systeme wie etwa Kindergarten, Schule, Freundeskreis und Nachbarschaft. Die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit wird durch die Aneignung von und Auseinandersetzung mit diesen sozialen Systemen geprägt.

Die kindliche Entwicklung erfolgt im handelnden Vollzug, wobei schon im frühesten Säuglingsalter das Kind mit Gegenständen aus der Umwelt erforschend und manipulierend umgeht. Alle sozialen Systeme (Settings), also Familie, Kindergarten, Spielplatz und Klassenzimmer stellen bestimmte räumliche Anforderungen und setzen soziale Regeln für das Handeln. Der Wechsel von einem Setting zum anderen erfordert deswegen auch eine Veränderung des Verhaltens. Entwicklung ist in dieser Theorie die Fähigkeit, sich immer neue Handlungskompetenzen in verschiedenen Settings zu verschaffen und die Anpassung an die veränderten Umweltanforderungen zu bewältigen. Das Kind tritt ständig in soziale Kontexte ein, macht dort neue Erfahrungen, verlässt diese Kontexte wieder und wendet sich anderen zu. Entwicklungsfördernd ist nach dieser Theorie die Teilhabe an möglichst vielen sozialen Umwelten, zwischen denen es möglichst Verbindungsglieder, zusammenführende Aktivitäten und gemeinsame Zielsetzungen geben sollte, um dem Kind den Übergang von einem Setting in das andere zu erleichtern.

Verbindung von biologischer, psychologischer und soziologischer Forschung

Die interdisziplinäre Sozialisationstheorie ist in der Lage, die neuen Erkenntnisse der ökologischen Expositionsforschung sowie der biomedizinischen, molekulargenetischen und hirnphysiologischen Forschung aufzunehmen, welche die These von der Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit in ständiger interaktiver Auseinandersetzung zwischen genetischer Anlage und Umwelt bestätigen.

Die biologische Verankerung menschlicher Merkmale zum Beispiel kann als eine Festlegung von Möglichkeiten, aber nicht als eine Determination der Entwicklung der Persönlichkeit verstanden werden. Wolf Singer betont aus der Perspektive der biomedizinischen Forschung, dass genetische Anlagen in die soziale und physikalische Umwelt eingebettet sind, auf deren Signale sie für ihre weitere Entwicklung angewiesen sind. So sind die Nervenzellen zum Zeitpunkt der Geburt im Wesentlichen angelegt, aber in bestimmten Bereichen des Gehirns noch nicht miteinander verbunden. Welche Verbindungen entstehen und später erhalten bleiben, hängt von der Art und Intensität der Aktivierung einzelner Hirnstrukturen ab. Hierbei spielen Sinnessignale aus der sozialen und physikalischen Umwelt eine entscheidende Rolle.

Die gesamte funktionelle Architektur des Gehirns eines Kindes wird in erheblichem Umfang durch Signale aus der Umwelt beeinflusst. Der Organisationsprozess des Gehirns und damit des Steuersystems für die Persönlichkeit des kleinen Kindes ist auf ein Wechselspiel zwischen Signalen aus der Umgebung und den Genen angewiesen, wobei ein stetiger Umbau von Nervenverbindungen erfolgt, der bis in das Jugendalter anhält. Singer spricht von einer „Selbstorganisation“ beim Aufbau des Gehirns kleiner Kinder, weil letztlich das Gehirn entscheidet, welche Impulse von außen den inneren Anlagen am besten entsprechen und Einfluss auf die Struktur der Wahrnehmung und des Gedächtnisses nehmen können. Signale der Sinne wirken offensichtlich nur dann strukturierend auf die Entwicklung des Gehirns ein, wenn sie Folge einer aktiven Interaktion mit der Umwelt sind. Der Dialog mit der Umwelt ist eine entscheidende Voraussetzung für den Aufbau der Verschaltungen von Nervenzellen im Gehirn und damit die physiologische Grundlage der Entwicklung einer ausgereiften Persönlichkeit. Im Ergebnis gleicht kein Kind dem anderen, zumal auch erhebliche Unterschiede in der Geschwindigkeit der Entwicklung zu verzeichnen sind.

Kombination von Förderung und Schutz

Die besten Impulse und Anregungen für die Entwicklung der kindlichen Wahrnehmung sind diejenigen, die das Kind sich aus einer reichhaltig strukturierten Umwelt selbst zusammenstellen kann. In der Regel spüren die Kinder intuitiv, welche Impulse jeweils in einer sensiblen Phase ihrer Entwicklung von Kompetenzen fruchtbar sind. Gefährdungen des kindlichen Entwicklungsprozesses können bei zwei Bedingungen auftreten:

– wenn ein Kind in einer begrenzten und wenig anregenden Umwelt lebt und den Dialog mit der Umwelt nicht in einer selbstgesteuerten Weise vornehmen kann;

– wenn ein Kind in einer sozial oder physisch zu stark belasteten („vergifteten“) Umwelt lebt und krankmachenden Impulsen für seine Entwicklung nicht entgehen kann.

>Was zählt, ist die „Gesamtexposition“. Dabei kommt es zu Interaktionen von genetischer Disposition, körperlicher Konstitution, Temperament, sozioökonomischen Bedingungen, psychosozialen Stressoren und physischen Umweltbedingungen, die in ihrer Kombination miteinander analysiert werden müssen. Oft haben wir es mit einer Kombination von genetischen Faktoren, Persönlichkeitsmerkmalen, Ernährungsbedingungen, körperlichen Rahmenfaktoren, sozialen Belastungen, seelischen Konflikten, infektiösen Agenzien, Allergenen, Strahlenbelastungen und Lärm zu tun.

Sozialisation als produktives Wahrnehmen

Das Konzept der „Selbstorganisation“, das in der biogenetischen und physiologischen Forschung immer stärker an Bedeutung gewinnt, ist auch für die Sozialisationstheorie zentral. Die „Selbstorganisation der Persönlichkeit“ ist kein Prozess, der nach vorgefertigten Gesetzmäßigkeiten deterministisch abläuft, sondern er hängt vielmehr von einem gut strukturierten Wechselspiel zwischen inneren und äußeren Ressourcen der Entwicklung ab. Dazu gehört auch die „gesunde“ soziale und physische Umwelt.

Kinder bringen schon mit der Geburt elementare Fähigkeiten mit, um Impulse aus der sozialen und physikalischen Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ist mit einem mehrdimensionalen Prozess der Wahrnehmung verbunden. Dieser erfolgt in drei miteinander zusammenhängenden Formen:

(1) Wahrnehmung über die Fernsinne Augen, Ohren und Nase. Hier zeigen die Forschungen aus der Neurobiologie, dass Wahrnehmung die Wirklichkeit nicht widerspiegelt, sondern mit den Mitteln des Gehirns nachempfindet. Dabei kann nur das an Informationen aufgenommen werden, was eine Korrespondenz in den Sinneszentren im Gehirn mit ihren jeweiligen Aufnahme- und Interpretationsmustern hat.

(2) Die zweite Form der Wahrnehmung ist die Körperwahrnehmung, also die Wahrnehmung der Wirkung, die ein Gegenstand auf den eigenen Körper ausübt. Hierzu gehört das Empfinden der Körpergrenzen, des Tastsinns und der Temperatur. Auch Empfindungen der inneren Befindlichkeit des Körpers gehören dazu, insbesondere Position und Lage im Raum, Gleichgewicht, Körperspannungen, Körperrhythmen und Wohl- oder Missbefinden der inneren Organe.

(3) Die dritte Form der Wahrnehmung ist die emotionale. Sie kann als eine Empfindung von Beziehungen verstanden werden, die zwischen einer Person und ihrer sozialen und physikalischen Umwelt besteht. Emotionen verleihen der Qualität dieser Beziehung Ausdruck und Form, indem sie als Liebe oder Hass, Wut oder Angst Zeichen der Einschätzung ausdrücken.

Möglicherweise lässt sich als eine vierte Form die unbewusste Aufnahme der physischen Umweltmedien hinzufügen. Ich halte diese Ergänzung für eine wichtige Herausforderung der künftigen Sozialisationsforschung.

Die Sozialisationstheorie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie die soziale und physikalische Umwelt beschaffen sein müssen, um die kindlichen Wahrnehmungs- und Entwicklungsprozesse so reichhaltig wie möglich zu gestalten. Die Selbstorganisation der kindlichen Persönlichkeit kann nur gelingen, wenn das Kind aus der Umwelt diejenigen Anregungen und Herausforderungen aufnehmen kann, die den inneren Anforderungen entsprechen. Selbstorganisation setzt die oben schon angesprochene Fähigkeit voraus, das Verarbeitungsprogramm für die Wahrnehmung und Aneignung der inneren und äußeren Realität eigentätig und schöpferisch zu entwickeln, so dass es den individuellen Voraussetzungen entspricht.

Schwierigkeiten der Umweltverarbeitung

Schon früh hat die „kinderpsychologische Feldforschung“ die Verhaltensweisen von Kindern in ihrer sozialen und physikalischen Lebensumwelt detailliert beobachtet. Die Forscherinnen und Forscher identifizierten jeweils bestimmte Muster des Verhaltens von Kindern in bestimmten Räumen und sozialen Situationen. Es wurden Strategien herausgearbeitet, mittels derer Kinder diese Settings (zum Beispiel eine Unterrichtsstunde in der Schule, eine Spielsituation in der Freizeit, eine Geburtstagsparty) für die Durchsetzung ihrer eigenen Handlungsziele nutzten. Die Settings wurden nach ihren Anregungsimpulsen und dem Grad ihrer Förderlichkeit für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung abgefragt.

Kultursoziologische Studien zeigen einen Trend von der „Entstraßlichung“ zur „Verhäuslichung“ des Kinderalltags. Von den vier- bis zehnjährigen Kindern haben etwa achtzig Prozent eigene Zimmer, die zusammen mit dem Familienwohnzimmer den Hauptort von Freizeitaktivitäten bilden. Die Straßen sind wegen der zunehmenden Verkehrsdichte für Draußenspiele auch in ländlichen Räumen nicht mehr geeignet. Deshalb ist es zu einer räumlichen „Verinselung“ von Freizeitaktivitäten gekommen. Kinder erfahren ihre Wohnumgebung nicht als einen einheitlichen Lebensraum, den sie nach Belieben erkundschaften, erobern und durchstreifen können, sondern als unüberschaubare und unzusammenhängende „Inseln“ aus für Kinder spezialisierten Plätzen. Neben dem eigenen Zimmer in der elterlichen Wohnung sind das Kinder- und Abenteuerspielplätze, Spielmobile und Sportanlagen, Restaurants und Aktionshallen, zu denen sie oft gebracht und gefahren werden müssen.

Alle diese Studien aus der sozialwissenschaftlichen Tradition machen darauf aufmerksam, dass Kinder heute vielfach nicht die Gelegenheit haben, ihre Umwelt als eine beeinflussbare und zusammenhängende Größe zu erfahren. Die Umwelt bietet sich nicht mehr als ein Ganzes dar, dessen Einzelteile zueinander in Beziehung stehen und miteinander vernetzt sind, sondern sie besteht aus Einzelelementen, die isoliert und unverbunden nebeneinander stehen. Kinder müssen „Syntheseleistungen“ vollbringen, wenn sie sich ihre Umwelt erschließen wollen.

Heute vorherrschende Gesundheitsstörungen

Vielen Kindern scheint es aus diesen Gründen nicht zu gelingen, die schwierige Balance zwischen den inneren Ressourcen und den äußeren Ressourcen auf Dauer herzustellen. Zwar haben wir es heute kaum noch mit akuten Krankheiten im Sinne von infektiösen Kinderkrankheiten zu tun, auch sind die chronischen Krankheiten bei Kindern im historischen Vergleich nur sehr gering verbreitet (Krebserkrankungen, Herzerkrankungen, Diabetes, Rheuma und Epilepsie haben nur einen Verbreitungsgrad von zusammen etwa 5%), aber es gibt neuartige Störungen des Gleichgewichtes der Systeme von Körper, Verstehen wir Psyche und Umwelt.

>Gesundheit als das Stadium des Gleichgewichtes von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Kind eine Bewältigung sowohl der inneren körperlichen und psychischen als auch der äußeren sozialen und physischen Anforderungen gelingt, dann ist die Bilanz heute ungünstig. Wir haben es mit vier neuralgischen Punkten der Gesundheitsentwicklung zu tun:

Fehlsteuerungen des Immunsystems sind heute stark verbreitet. Sie sind gewissermaßen an die Stelle der früheren infektiösen Krankheiten getreten. Dank eines hohen Standards von Hygiene und einer leistungsfähigen medizinischen Behandlung sind sie zurückgedrängt worden, dagegen breiten sich Krankheiten des allergischen Formenkreises stark und schnell aus. Der Hintergrund liegt wohl in der falschen Abschirmung von Belastungen und Anforderungen gegenüber der natürlichen Umwelt. Kinder können nicht genügend Abwehrkräfte entwickeln. Ein widerstandsfähiger und starker Organismus kann nicht aufgebaut werden.

>Störungen der Nahrungsaufnahme und des Ernährungsverhaltens sind ebenfalls im Vormarsch. Kinder und Jugendliche verzehren einen Überschuss an Kalorien und praktizieren gleichzeitig Bewegungsarmut. Entsprechend kommt es zu Problemen des Haltungsapparates, der Koordinationsfähigkeit und des Gewichtes. Auch hier ist zu sagen: Der Organismus wird nicht genug gefördert, die Anforderungen an den Körperrhythmus sind nicht aufgewogen.

Fehlsteuerungen der Sinneskoordination sind auf die heute vorherrschende sitzende Beschäftigung in Schule, Ausbildung und Freizeit ebenso zurückzuführen wie auch die einseitige Nutzung von elektronischen Medien. Hierdurch kommt es zu einer einseitigen Stimulierung des Hörsinns und des Sehsinns, während andere Sinne wie Riechen, Fühlen und Tasten, Atmen und Sprechen vernachlässigt werden. Wie bei der Ernährung ist eine unausgewogene Sinneskost zu verzeichnen. Die Folgen zeigen sich in mangelnden Verschaltungen der Zentren im Gehirn, was wiederum etwa eine Beeinträchtigung der Motorik zur Folge hat.

Unzureichende Bewältigung von psychischen Beanspruchungen und sozialen Anforderungen: Viele Kinder kommen mit sozialen Konflikten und seelischen Enttäuschungen nicht zurecht. Sie reagieren entweder nach innen, nach außen oder sie weichen aus. Zur ausweichenden Komponente gehört der Konsum von psychoaktiven Substanzen.

Allen vier neuralgischen Punkten ist gemeinsam, dass wir es heute mit einem mangelndem Training, einer schlechten Abhärtung und einer zu geringen Widerstandsfähigkeit von Kindern in den verschiedenen Teilsystemen ihrer Entwicklung zu tun haben.

Psychische Auffälligkeiten

Neben den chronischen körperlichen Krankheiten, die zumindest bei Allergien und Adipositas eine starke Umweltkomponente haben, spielen psychologische Auffälligkeiten eine große Rolle. Viele Kinder sind mit Konflikten und Schwierigkeiten konfrontiert und zeigen in Form von „Verhaltensauffälligkeiten“, dass ihnen die Bearbeitung dieser Probleme schwer fällt. Die Ursachen hierfür können sehr unterschiedlich sein und in innerpsychischen Konflikten, familiären Spannungen und problematischen sozialen Verhältnissen liegen. Nach repräsentativen Studien zeigen zehn bis zwölf Prozent der Kinder im Grundschulalter psychosoziale Auffälligkeiten. Hierunter fallen vor allem Störungen im Wahrnehmungs- und kognitiven Verarbeitungsbereich, Leistungsstörungen, Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche. Wie bei den körperlichen Krankheiten ist auch hier die Belastung von Jungen im Kindesalter deutlich höher als die von Mädchen.

Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass fast jedes zwanzigste Kind im Schulalter unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen leidet. Die Kinder träumen viel, lassen sich leicht ablenken, können nur schwer eine Aufgabe zu Ende bringen, ermüden rasch. In ihrer schwerwiegenden Ausprägung werden Konzentrationsstörungen als Hyperaktivität oder Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom bezeichnet. Dieses Syndrom ist bei Jungen häufiger als bei Mädchen, es tritt bei etwa zwei Prozent aller Kinder auf.

Eine dritte Gruppe von gesundheitlichen Störungen sind die psychosomatisch-affektiven. In der psychiatrischen Literatur wird zwischen neurotischen und reaktiven Störungen mit psychischer Symptomatik und körperlicher Symptomatik unterschieden. Zeigt sich die Leitsymptomatik vorwiegend im emotionalen Bereich, dann wird von einer psychischen Symptomatik gesprochen. Die wichtigsten Erscheinungsformen in diesem Bereich sind Angst- und Affektsyndrome, depressive Syndrome und Medikamenten- und Drogenkonsum. Letzterer verweist auf die unzulänglichen Fähigkeiten der aktiven Problembewältigung.

Umweltinduzierte Gesundheitsstörungen

Schauen wir auf die Belastungskomponente der physischen Umwelt, werden auch hier Probleme sichtbar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat darauf hingewiesen, dass die durch Umweltrisiken ausgelösten Gefährdungen heute für ein Drittel der globalen Krankheitslast verantwortlich gemacht werden müssen. Schätzungsweise 40% davon entfallen auf Kinder unter fünf Jahren, obwohl sie nur 10% der Weltbevölkerung ausmachen.

Besonders problematisch für Kinder ist die Luftverschmutzung, und zwar nicht nur alleine im Freien und im Straßenverkehr, sondern mehr und mehr in geschlossenen Räumen. Kinder verbringen 80% oder sogar 90% der Zeit in der Wohnung oder in Kindertagesstätten, später in Schulen. Deswegen spielen die Schadstoffe, denen sie hier ausgesetzt sind, eine große Rolle. Dazu gehören auch die kleinen Staubpartikel, ebenso wie elektromagnetische Störungen und Lärm. Weiterhin ist die Gefährdung im Straßenverkehr zu nennen, die durch kontaminierte Lebensmittel und Wasser und auch die Gefährdung durch die Klimaveränderung der letzten Jahrzehnte. So hat sich etwa, wie die WHO angibt, in den letzten 30 Jahren durch die veränderten Temperaturen die Pollensaison in Europa im Durchschnitt um 10 bis 11 Tage verlängert, was wahrscheinlich für die Zunahme von Allergiebelastungen mit verantwortlich ist.

Für die Erklärung der Zusammenhänge ist auch hier eine interdisziplinäre Sichtweise notwendig. Ganz offensichtlich ist die Kombination aus genetischer Konstellation und Umwelteinflüssen in jedem Einzelfall anders gelagert. Eine genetische Disposition bei Asthma zum Beispiel führt nicht mechanisch zum Ausbruch des Krankheitsbildes. Vielmehr kommt es darauf an, welche genauen Persönlichkeitsfaktoren und Umweltbedingungen gegeben sind, um die genetische Disposition zum Ausbruch zu bringen oder zu kompensieren.

Asthma ist ein (seltenes) Beispiel für eine stärkere Belastung bei ökonomisch und sozial bevorzugten Kindern. Insgesamt richten sich die verschiedenen heute bei Kindern vorherrschenden Krankheiten vor allem in den Familien ein, in denen soziale und ökonomische Nachteile auftreten. Die kindliche Mortalität und Morbidität erhöht sich im Falle einer relativen Armut des Elternhauses eindeutig. Die Rahmenbedingungen für das Wohnumfeld und die Wohnqualität für Freizeitverhalten und Bildungsstand, für die gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen und auch die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems werden immer schlechter, je weiter wir in der sozialen Rangleiter nach unten gehen.

Ansätze für Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung

Für Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung ergeben sich aus dieser Bestandsaufnahme neuartige Herausforderungen. Neben die gezielte Vorbeugung gegen die Ausgangsbedingungen von Krankheiten muss auf eine gut abgestimmte und konzeptionell überzeugende Gesamtlinie der Gesundheitsförderung für Kinder geachtet werden. Es bietet sich an, nach einem gemeinsamen Nenner für die bio-, psycho-, öko- und sozio-bedingten Störungsbilder der Gesundheit zu suchen und sich nicht in krankheits- und symptombezogenen Einzelstrategien zu verzetteln.

Dieser gemeinsame Nenner liegt in den zentralen Ausgangsfaktoren „Dystress“, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Sie stehen in einem zumindest indirekten Zusammenhang mit vielen der Gesundheitsbeeinträchtigungen und Krankheiten, die heute bei Kindern zu verzeichnen sind. Über eine Beeinflussung des Bewältigungs-, Bewegungs- und Ernährungsverhaltens lassen sich die meisten Probleme ansprechen und bearbeiten, auch die des schlecht trainierten Immunsystems, der fehlenden Anregung und Schulung der Sinne, der Verbesserung der motorischen Koordination, des Abbaus von Aufmerksamkeitsdefiziten und der Stärkung von Konfliktfähigkeit und Frustrationstoleranz.

Der Bewegungsmangel ist ein besonders ernstes Kernproblem. Er hängt mit den wenigen räumlichen Möglichkeiten des freien und offenen Spielens zusammen, die sich in den durch Straßenverkehr und Zersiedelung geprägten Wohnvierteln beobachten lassen. Hinzu kommt eine teilweise übervorsichtige und ängstliche Haltung der Mütter und Väter, die ihren Kindern nicht den Freiraum für die selbstständige Erkundung der Umwelt lassen, den sie für ihre Entwicklung eigentlich benötigen. Hintergrund hierfür sind die Sorgen um eine vergiftete Umwelt und die veränderten häuslichen Lebensbedingungen mit einer starken Konzentration des Familienlebens auf die Wohnung, verstärkt durch Massenmedien wie Fernsehen, Radio und Computer. Auch die Motorisierung der Familienhaushalte trägt das ihre dazu bei, dass sich Kinder viel zu wenig bewegen. Sie werden in vielen Familien mit dem Auto zu Kindertagesstätten, Kindergärten, Musikschulen und später Grundschulen gefahren und haben dadurch nur wenig Gelegenheit, sich selbst im Wohnviertel und darüber hinaus aus eigener Kraft zu bewegen.

Bewegung reguliert einerseits die Nahrungszufuhr und den Kalorienverbrauch, sie trägt andererseits aber auch zum Stressabbau und zur Abfuhr innerer Spannungen und Aggressionen bei. Angemessene Bewegung ist so gesehen das wichtigste Medium der körperlichen und psychischen Entwicklung, es ermöglicht die Erkundung und Aneignung der sozialen und physikalischen Umwelt, sorgt für die Koordination aller Sinneserfahrungen und ist der Motor für die gesamte körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes.

Bewegungsförderung als Herausforderung der Sinne
Die Konsequenz aus diesen Erkenntnissen ist, in Kindergärten und Grundschulen, aber auch in anderen öffentlichen Räumen das freie und naturnahe Spielen zu fördern. Dabei müssen Kindern gezielte Risikomöglichkeiten eingeräumt werden. Es geht nicht darum, ihnen nur mehr organisierte Bewegungsspiele vom Typus des Mannschaftssports anzubieten, sondern vor allem darum, ein nachhaltiges und abenteuerliches Freispiel zu ermöglichen. Die persönlichen und sozialen Ressourcen von Kindern können nur entwickelt werden, wenn sie auf wohl dosierte Widerstände stoßen.

Gesundheitsressourcen sind Fitness, Stärkung des Immunsystems und der Herz-Kreislauf-Leistungsfähigkeit im körperlichen Bereich sowie Zuversicht, Optimismus, positives Selbstkonzept und Selbstvertrauen im persönlichen Bereich. Im sozialen Bereich müssen Unterstützung und Anerkennung in der Gruppe hinzukommen. Ein stabiles Selbstkonzept von Kindern kann nur durch Aktivitäten gefördert werden, bei denen Kinder ihre eigenen Stärken erkennen und sich ihrer bewusst werden können, Eigenaktivität und Selbsttätigkeit herausgefordert werden, eine vorschnelle Hilfeleistung vermieden und jeder auch noch so kleine Erfolg positiv bewertet wird. Wenn Kinder in ihren Familien diese Herausforderungen nicht in genügendem Ausmaß erfahren, dann ist es die Aufgabe der öffentlichen Erziehungseinrichtungen Kindergarten und Grundschule, ausgleichend tätig zu werden.

>Wegen der eingeschränkten Möglichkeiten von Kindern, sich frei und ungefährdet zu bewegen, sollte der wichtigste Anspruch der „Freizeitpolitik für Kinder“ darin liegen, ihnen mehr soziale und physikalische Räume zu erschließen, die sie sich nach eigenen Bedürfnissen aneignen, erschließen und gestalten können. Im Idealfall sollte sich jedes Kind die Kombination aus erwachsenengesteuerter Anregung und selbstgestalteter Aktivität zusammenstellen können, die den persönlichen Interessen gerecht wird.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist Direktor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld und Leiter des Collaborating Center Jugendgesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

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