12 Aug fK 6/03 Kinderrechte aktuell
Am 20. November 1989 wurde in der 44. Vollversammlung der Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte des Kindes einstimmig verabschiedet. Sie ist insofern einmalig, als sie die bisher größte Bandbreite fundamentaler Menschenrechte – ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische – in einem einzigen Vertragswerk zusammenbindet.
Die in den 54 Artikeln dargelegten völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards haben zum Ziel, weltweit die Würde, das Überleben und die Entwicklung von Kindern und damit von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung sicherzustellen.
Inzwischen wurde die Konvention von 192 Staaten ratifiziert. Dies sind mehr, als die Vereinten Nationen Mitglieder haben. Sie ist damit das erfolgreichste Menschenrechtsabkommen überhaupt. In Deutschland trat die Konvention 1992 in Kraft.
In loser Folge stellen wir einzelne Artikel der UN-Kinderrechtskonvention vor und kommentieren ihre Bedeutung auf dem Hintergrund aktueller Debatten um die Rechte des Kindes.
Recht auf Leben und Entwicklung
von Jörg Maywald
Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention (Recht auf Leben)
(1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat.
(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 heißt es in Artikel 3: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention nimmt hierauf Bezug und verkündet das uneingeschränkte Recht jedes Kindes auf Leben und bestmögliche Entwicklung als ein fundamentales Kinderrecht.
Zusammen mit den Artikeln 2 (Diskriminierungsverbot), 3 (Vorrang des Kindeswohls) und 12 (Berücksichtigung des Kindeswillens) gehört Artikel 6 zu den allgemeinen Prinzipien der Kinderrechtskonvention. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat daher den Vertragsstaaten empfohlen, dass sich diese Artikel in ihren Verfassungen widerspiegeln.
Das Konzept von „Überleben und Entwicklung in größtmöglichem Umfang“ ist ein zentrales Prinzip für die Umsetzung der gesamten Konvention. Der Kinderrechteausschuss versteht „Entwicklung“ als ein ganzheitliches Konzept, auf das sich zahlreiche andere Artikel der Konvention (u.a. das Recht auf Gesundheitsfürsorge in Artikel 24, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard in Artikel 27, das Recht auf Bildung in Artikel 28 und das Recht auf Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben in Artikel 31) beziehen.
Die Umsetzung von Artikel 6 erfordert von den Vertragsstaaten über die bloße Rechtsgewährung hinaus aktive Maßnahmen zum Lebensschutz und zur Entwicklungsförderung von Kindern. Dazu gehören Maßnahmen zur Steigerung der Lebenserwartung und zur Verringerung der Säuglings- und Kindersterblichkeit ebenso wie die Bekämpfung von Krankheiten und die Sicherstellung einer kindgerechten Ernährung.
Unbestritten ist, dass sich das Recht auf Leben und bestmögliche Entwicklung auf Kinder von der Geburt bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres bezieht. Vorgeburtliche Fragen des Lebensschutzes wie z.B. Methoden der Familienplanung und Abtreibung werden demgegenüber ausgeklammert, da Artikel 1 der Konvention (Begriffsbestimmung) den Zeitpunkt des Beginns der Kindheit (Zeugung, Geburt oder irgendein Zeitpunkt dazwischen) bewusst offen hält und eine Regelung dieser Fragen den Mitgliedsstaaten überlässt. In Abweichung von dieser absichtlich gewählten Abstinenz hat sich der Kinderrechteausschuss allerdings gegenüber Ländern mit besonders hohen Abtreibungsraten bzw. mit einer hohen Zahl heimlicher Abtreibungen und in Fällen, in denen Abtreibung als gebräuchliches Mittel der Familienplanung oder zur Aussonderung eines bestimmten Geschlechts (zumeist von Mädchen) eingesetzt wird, mit kritischen Kommentaren an die Regierungen der Vertragsstaaten gewandt. Ähnliches gilt für den Fall der Verbreitung eines frühen Heiratsalters, hoher Raten von Teenager-Schwangerschaften und minderjähriger Mütter, wo der Ausschuss auf die hohen Risiken und besonderen Gefährdungen für Mutter und Kind hingewiesen hat.
Besonders umstrittene ethische Fragen mit Bezug auf das Recht des Kindes auf Leben wie z.B. die Rechtsstellung von Embryonen oder die Handlungsorientierungen im Falle einer Feststellung schwerer Behinderungen des Kindes im Mutterleib wurden vom UN-Ausschuss bisher nicht behandelt.
Das in Artikel 6 festgeschriebene Recht des Kindes auf Leben wird in weiteren Artikeln der Konvention näher ausgeführt. Hierzu gehören insbesondere Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung), Artikel 37 (Verbot der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) und Artikel 38 (Schutz bei bewaffneten Konflikten).
Die Umsetzung von Artikel 6, Absatz 1 erfordert von den Vertragsstaaten auch, die Ursachen des Todes von Kindern zu erforschen und Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, diese Ursachen präventiv zu verhindern. Dies betrifft u.a. das Auftreten von Kindstötung und Kindesaussetzung mit Todesfolge, Selbstmord von Kindern, aber auch das Auftreten tödlicher Kinderunfälle im Straßenverkehr bzw. im Haus- und Freizeitbereich sowie die Ansteckung von Kindern mit tödlich verlaufenden sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV/AIDS.
Der zweite Absatz in Artikel 6 geht über die Gewährung des Rechts auf Leben hinaus. Die Vertragsstaaten verpflichten sich darin, das Überleben und die Entwicklung des Kindes in größtmöglichem Umfang zu gewährleisten. Dieser Absatz zielt nicht allein auf die Vorbereitung des Kindes auf das Erwachsenenalter, sondern fordert die umfassende Schaffung positiver und kindgemäßer Lebensbedingungen. In den Richtlinien des UN-Ausschusses für die gemäß Artikel 44 regelmäßig zu erbringenden Berichte werden die Vertragsstaaten daher aufgefordert über Maßnahmen zu berichten, die „Lebensbedingungen schaffen, die dazu führen, in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes zu gewährleisten, einschließlich der körperlichen, geistigen, spirituellen, moralischen, seelischen, und sozialen Entwicklung, in Übereinstimmung mit der menschlichen Würde und mit dem Ziel, das Kind für ein individuelles Leben in einer freien Gesellschaft vorzubereiten.“
Entgegen den Forderungen der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und trotz der Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes hat Deutschland Kinderrechte und insbesondere das Recht des Kindes auf Leben und kindgemäße Lebens- und Entwicklungsbedingungen bisher nicht in seine Verfassung aufgenommen. Die Begründung der Bundesregierung, dass das Grundgesetz in der bestehenden Form Kindern bereits ausreichenden Grundrechtsschutz bietet, kann nicht überzeugen, da Kinder im Unterschied zu Erwachsenen spezifische kindliche Bedürfnisse haben, die es auch rechtlich abzusichern gilt.
Dr. Jörg Maywald ist Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
Literatur:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.)
Übereinkommen über die Rechte des Kindes.
UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien
Bonn 2000
UNICEF (Hg.)
Implementation Handbook
for the Convention on the Rights of the Child
(2. völlig überarbeitete Auflage)
Genf 2002
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