fK 5/10 Meier-Gräwe

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Es geht um die Stärkung von Zeitkompetenzen bei beiden Geschlechtern“

Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe, Hochschullehrerin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Erste Vizepräsidentin der Deutschen Liga für das Kind

Maywald: In unserer schnelllebigen Gesellschaft wird Zeit mehr und mehr zur Kostbarkeit. Dabei sind Eltern vermutlich diejenige Bevölkerungsgruppe, in der Zeitnöte am stärksten sind. Woran liegt das?

Meier-Gräwe: In unserem subjektiven Empfinden wird Zeit zu einer Kostbarkeit und zwar als Folge der deutlichen Verschiebungen in der zeitlichen Architektur unserer heutigen Gesellschaft, die auf Flexibilität, Mobilität, Beschleunigung und Diversifizierung setzt. Objektiv betrachtet allerdings hat jeder Tag nach wie vor 24 Stunden und zwar anders als bei der Ressource Geld für ausnahmslos jedes Mitglied der Gesellschaft. Wir haben aufgrund der längeren Lebenserwartung im Durchschnitt sogar mehr Zeit als jede Generation vor uns. Allerdings müssen wir die Zeitlogiken der zahlenmäßig ständig größer werdenden Taktgeber mit ihren vielfältigen Anforderungen an uns wie Betrieb, Bildungseinrichtung oder Behörden mit eigenen Zeitbedürfnissen nach Ruhe, Entspannung und sozialen Kontakten in eins bringen. Das wird immer schwieriger und erzeugt Zeitnot und Stress. Nach der Geburt eines Kindes entstehen elementare Zeitbindungen, die Müttern und Vätern in der Tat zusätzliche Koordinierungsleistungen abverlangen. Viele Mütter sind wahre Jongleurinnen des Alltags, indem sie die verschiedenen Zeiten der Familienmitglieder austarieren und gemeinsame Familienzeiten organisieren, allerdings oft um den Preis des Rückzugs aus dem Erwerbsleben. Familie ist heute zu einer anspruchsvollen Herstellungsleistung geworden, die ohne die Ressource Zeit nicht gelingen kann.

Maywald: Das subjektive Zeitempfinden von Kindern kollidiert nicht selten mit den Zeitvorstellungen und Zeitvorgaben der Erwachsenen. Ein Beispiel dafür ist die Lust des Kindes am Trödeln, beispielsweise auf dem Weg zum Kindergarten. Wie können Eltern damit umgehen?

Meier-Gräwe: Darin liegt die Chance, dass Mütter und Väter selbst kurz inne halten und sich darüber klar werden, dass weder sie noch ihre Kinder tagein, tagaus nach einem durchgeplanten Zeitraster perfekt funktionieren können. Kinder zeigen ihren Eltern durch ihr unverstelltes Verhalten an, das alles seine Zeit braucht, das Begreifen der Welt und das Staunen über die Dinge des Alltags. Wenn es Eltern gelingt, diese Situationen selbst als kleine Fluchten aus den Alltags- und Organisationsroutinen zu deuten und solche Momente bewusst zu genießen, haben sie selbst etwas zur Entschleunigung ihres Alltags beigetragen und werden den Tag entspannter angehen. Natürlich weiß ich, dass das mitunter schwer umzusetzen ist. Aber: Mit einer solchen Haltung schützt man sich und sein Kind vor Überforderung und krank machendem Stress.

Maywald: Kinder verbringen immer mehr Zeit in Institutionen mit der Folge, dass Kinder ihr Tun deren Zeitregimes unterwerfen müssen. Bereits Kindertageseinrichtungen haben häufig eng getaktete Stundenpläne. Wird dies den Kindern gerecht?

Meier-Gräwe: Wenn die Stundenpläne der Kindertagesstätten an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet sind, das heißt, wenn das Lernen mit allen Sinnen erfolgt, wenn vielfältige Anregungen in wertschätzenden Settings gegeben werden, die ihre Selbstwirksamkeitskompetenzen fördern, aber auch Phasen der Entspannung und des freien Spiels vorsehen, ist das durchaus kindgerecht. Auch eine gute Erziehungspartnerschaft mit den Eltern gehört dazu. Ich bin nicht der Meinung, dass wir derzeit ein Problem der institutionellen Überversorgung von Kindern haben. Viel schwerer wiegt, dass sich zu viele Kinder aus sozial benachteiligten Herkunftsmilieus zu Hause selbst überlassen bleiben, weil ihre allein erziehenden Mütter als Altenpflegerin oder Verkäuferin im Schichtdienst arbeiten bzw. sogar zwei Jobs aufnehmen müssen, um finanziell einigermaßen zurecht zu kommen, ohne dass ihre Kinder in dieser Zeit institutionell gut versorgt wären. Andere Mütter und Väter hatten noch nie oder seit Jahren keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt, so dass es ihnen schwer fällt, eine Struktur in ihren Alltag zu bringen. Wir beobachten in diesen Harzt IV-Familien sehr oft ein Entgleiten von Zeitstrukturen. Viele Kinder haben einen viel zu hohen Fernsehkonsum und erhalten in finanziell und personell unterausgestatteten Erschwerniskindergärten eben keineswegs die Förderung und zeitintensive Zuwendung, die von Geburt an notwendig gewesen wäre, damit sich auch diese Kinder gut entwickeln können. Wie groß der Handlungsbedarf in dieser Hinsicht ist, zeigen die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen in vielen Problemquartieren deutscher Großstädte: Es ist keineswegs die Ausnahme, dass zwischen 60 und 80 Prozent der Schulanfänger(innen) als „auffällig“ bzw. „grenzwertig“ eingestuft werden, was ihren körperlichen Gesundheitszustand, ihr sprachliches Entwicklungsniveau oder ihre psychosoziale Verfassung angeht. In privilegierten Stadtteilen hingegen kommen solche Probleme kaum vor. Hier wirkt sich die wachsende Einkommensungleichheit in Deutschland und eine zunehmende Segregation der Lebenswelten von Kindern und Eltern aus unterschiedlichen Milieus meines Erachtens verheerend aus. Es wäre Aufgabe der Politik, entschieden gegenzusteuern, etwa dadurch, dass die Qualität in städtischen Kindergärten und Schulen überdurchschnittlich angehoben wird, so dass Mittelschichteltern keine Veranlassung mehr hätten, ihre Kinder in Privatkitas und Privatschulen zu geben. Nur so ließe sich eine gesunde sozialstrukturelle Mischung wieder herstellen.

Maywald: Familiäre Stundentafeln gleichen heutzutage vielfach komplizierten Wechselschichtdienstplänen. Oftmals sind die Eltern gehetzt oder sie geben sich nur noch die Klinke in die Hand. Wie können Familien mehr Zeitsouveränität und damit Zeitwohlstand erreichen?

Meier-Gräwe: Hier genügt es bei weitem nicht, von den Eltern individuell ein besseres Zeitmanagement abzuverlangen. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels haben Wirtschaft und Gesellschaft das weibliche Beschäftigtenpotential nun auch in Deutschland entdeckt. Schon in wenigen Jahren wird ein Arbeitskräftemangel von circa drei Millionen zu bewältigen sein und das vor allem in den Sozial- und Gesundheitsberufen. Dafür kämen viele gut ausgebildete Frauen und Mütter, die derzeit aber noch weit unter ihren beruflichen Möglichkeiten bleiben, durchaus in Frage. Allerdings müssen sich die Zeitpolitiken von Unternehmen und familienrelevanten Institutionen im Wohnumfeld von Familien dann vollkommen verändern. Derzeit überwiegen immer noch geschlechtersegregierte Alltagszeiten: Hinter jedem engagierten Arbeitnehmer steht idealtypisch eine Partnerin, die als „Backup-office“ funktioniert, ihm den Rücken von generativer Sorgearbeit frei hält und den Alltag mit den Kindern organisiert: Die „Hausfrau“ im Kopf vieler Arbeitgeber und Personalchefs wird der Realität jedoch längst nicht mehr gerecht. Unternehmen werden sich in Zukunft auf Arbeitnehmerinnen einstellen müssen, die ihre zeitlichen Bedürfnisse viel selbstbewusster als heute artikulieren, weil sie am Arbeitsmarkt dringend gebraucht werden. Es ist der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der für mehr Work-Life-Balance sorgen wird. Familienfreundlichkeit von Unternehmen, Städten und Gemeinden wird im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte und Bewohner mehr und mehr zu einem harten Standortfaktor. Als ich mich Ende letzten Jahres für drei Monate zu einem Gastforschungsaufenthalt in Japan aufhielt, wurde mir das so richtig deutlich. Der Mangel an Ärzten und Krankenschwestern führt dort bereits dazu, dass Klinikdirektoren persönlich bei den jungen Müttern zu Hause mit Geschenken und Blumen vorbei fahren und sie danach fragen, was sie benötigen, damit sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Wer hätte das noch vor wenigen Jahren gedacht? Vergleichbare Entwicklungen werden wir bald auch in Deutschland konstatieren.

Maywald: Der Siebte Familienbericht der Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass sich Familienpolitik auf den Dreiklang von Zeit, Geld und Infrastruktur beziehen muss. Bei der monetären Förderung und dem Ausbau der Kinderbetreuung ist inzwischen einiges passiert. Wie müsste eine familien- und kindergerechte Zeitpolitik aussehen?

Meier-Gräwe: Als Mitglied der Sachverständigenkommission für den Siebten Familienbericht kann ich dazu sagen, dass uns vor allem der wechselseitige Bezug der drei Dimensionen Geld-, Infrastruktur- und Zeitpolitik sehr wichtig war. So trägt die Einführung des einkommensabhängigen Elterngeldes nach schwedischem Vorbild ja nicht nur zur materiellen Absicherung der jungen Familie in den ersten 14 Lebensmonaten des Kindes bei, sondern sichert einen Zeitraum für das intensive Miteinander von Eltern und Kind, für den Aufbau verlässlicher Bindungsbeziehungen, die eine elementare Voraussetzung für gelingende Bildungs- und Lebenschancen darstellen. Zugleich ist diese Maßnahme ein Treiber für den Ausbau der U3-Betreuung, denn die Rückkehr beider Eltern in den Beruf setzt voraus, dass verlässliche und qualitativ hochwertige Krippenplätze verfügbar sind. Allerdings bin ich bestürzt über die beabsichtigte Streichung der 300 Euro für Mütter im SGB II-Bezug, die ein Kind bekommen. Auch diese Mütter benötigen dringend eine finanzielle Entlastung ihres Alltags mit ihrem neugeborenen Kind. Die geringfügige Erhöhung der Regelsätze um fünf Euro kann es einfach nicht sein.

Maywald: Ein zeitpolitischer Vorschlag sieht vor, dass Erwerbstätige mittels so genannter Zeitkonten „Ziehungsrechte“ erhalten, die es ihnen ermöglichen, über den Lebenslauf verteilt bezahlte und unbezahlte Freistellungen zum Beispiel für Bildung, Betreuung, Pflege oder auch für Muße und Erholung in Anspruch zu nehmen. Was halten Sie von dieser Idee?

Meier-Gräwe: Das ist ein innovativer Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Gedacht ist an den Anspruch auf einen bestimmten Umfang an erwerbsarbeitsfreier Zeit in der Berufsphase, die auf Grundsicherungsniveau abgefedert oder auf Langzeitkonten angespart werden kann. Darüber hinaus geht es um die Etablierung eines niedrigeren Arbeitszeitstandards für Männer und Frauen, die sich in Lebensphasen intensiver Fürsorgearbeit befinden, so dass Zeiten für Kinder und eine berufliche Teilhabe für beide Geschlechter miteinander vereinbar sind. Das erfordert eine sozial- und arbeitsrechtliche Absicherung, also die Normalisierung unterschiedlich langer Arbeitszeitstandards als Arbeitszeitobergrenze für bestimmte Lebensphasen. Schließlich wird über die volle Optionalität der Arbeitszeitdauer nachgedacht, indem jede(r) Arbeitnehmer(in) bei Abschluss eines Arbeitsvertrages auch von der lebensphasenspezifischen Arbeitszeitnorm individuell nach unten abweichende Arbeitszeiten vereinbaren kann bzw. – nach Ankündigungsfristen – auch bei bestehenden Beschäftigungsverhältnissen die Option hat, von der lebensphasenspezifischen Arbeitszeitobergrenze abgesenkte Arbeitszeiten zu vereinbaren und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzustocken.

Maywald: Viele junge Frauen und vor allem die jungen Männer schieben ihren eigentlich vorhandenen Kinderwunsch biografisch immer weiter nach hinten. Welche Rahmenbedingungen wären nötig, damit nicht nur Beruf und Familie, sondern auch Ausbildung oder Studium und Elternschaft simultan leichter möglich werden?

Meier-Gräwe: Es braucht einen fundamentalen Einstellungswechsel aller Akteure, die den Lebensalltag von potentiellen Müttern und Vätern in Ausbildung beeinflussen. Es geht um die biographische Öffnung des Zeitfensters für Elternschaft, indem man in beruflicher Ausbildung befindlichen oder studierenden Müttern und Vätern – und solchen, die es werden wollen – mental wie faktisch „einen roten Teppich“ ausrollt und die Schaffung von adäquaten Infrastrukturen vor Ort als einen wichtigen Beitrag zur regionalen Standortsicherung begreift: Individuell zugeschnittene Ausbildungs- und Studienverlaufspläne, bezahlbarer Wohnraum, aber auch flexible und verlässliche Angebote der Kinderbetreuung gehören in diesen facettenreichen Ermutigungskanon ebenso hinein wie sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen zur Beratung, zum Austausch und zur Begleitung dieser jungen Mütter und Väter während ihrer Berufsausbildung oder während ihres Studiums bis hin zu ihrer gezielten Unterstützung beim Berufseinstieg. Es geht darum, Ausbildungs- und Studienbedingungen so zuzuschneiden, dass junge Eltern als ganze Personen wahrgenommen werden, die in ihrem Ausbildungs- und Studienalltag auch bestimmte familiale Verpflichtungen übernehmen können, ohne deswegen auf eine anspruchsvolle Berufsperspektive verzichten zu müssen.

Maywald: Mit Blick auf die Planung von Zeit lässt sich häufig ein Paradox feststellen: Je genauer Menschen ihre Zeit planen, umso weniger Zeit haben sie. Was kann getan werden, um zumindest vorübergehend Zeiten der Entschleunigung zu ermöglichen?

Meier-Gräwe: Aufgrund der Tendenzen zur Fragmentarisierung, Entgrenzung und Verdichtung von Erwerbs- und Familienzeiten im Alltag und im Lebensverlauf ergibt sich die Notwendigkeit zur Stärkung von Zeitkompetenzen bei beiden Geschlechtern mit dem Ziel, ihre Selbstsorge im Alltag und bei ihrer Biographieplanung zu erhöhen. Dazu gehört die Stärkung ihrer Reflexions- und Abgrenzungsfähigkeit gegenüber zeitlichen Zumutungen der Arbeitswelt, die sich mit den Erfordernissen von Fürsorgeaufgaben in bestimmten Lebensphasen nicht vereinbaren lassen, die Fähigkeit zur Entwicklung von Aushandlungsstrategien mit relevanten Akteuren wie Lebenspartner, Arbeitgeber, Kita, Schule, Behörden etc., aber auch der Erwerb von Kompetenzen, um die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen bestimmter Entscheidungen im Lebensverlauf abschätzen zu können. Wir müssen lernen, verantwortungsvoll mit unseren Kräften und ihrer Endlichkeit umzugehen. Es ist schon paradox, wie häufig momentan bei vielen Menschen Symptome wie Traurigkeit, Erschöpfung oder Antriebslosigkeit als depressive Reaktionen auf die allgemeine Überforderung durch Zwang zur Selbstregulierung, Autonomie und auf reale Überforderungen diagnostiziert werden, die dem Idealbild des mobilen, leistungsfähigen und flexiblen Individuums der Moderne widersprechen.

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