25 Jun fK 5/09 Wagner
Werte vermitteln und Bildungsprozesse unterstützen
Vorurteilsbewusste Erziehung in Kindertageseinrichtungen
von Petra Wagner
Um gut lernen zu können, sind Sicherheit und Orientierung gebende Bindungsbeziehungen von entscheidender Bedeutung. Eine Sicherheit gebende Bindung steht für Schutz, für Interesse an dem, was das Kind bewegt, für positive Resonanz auf seine Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken, für Ermutigung beim Explorieren sowie für verlässliche Fürsorge, Pflege und Trost. Eine Orientierung gebende Bindung steht darüber hinaus für Klarheit in Bezug auf wertebezogene Botschaften, für Informationen von richtig und falsch, angemessen oder unangemessen, möglich oder unmöglich, „anständig“ oder „unanständig“. Diese Botschaften übermitteln Kindern die moralischen Grundwerte einer Gesellschaft und die Konventionen, die bestimmten Gepflogenheiten und Sitten unterliegen.
Diese Informationen geben Kindern wichtige Hinweise auf die Beschaffenheit und Qualität von Phänomenen in dieser Welt, die zu erkunden sie sich auf den Weg machen. Das krabbelnde Kleinkind, das beim Erforschen der Wiese auch Hundekot in den Mund stecken will, entnimmt dem angewiderten und entsetzten Gesichtsausdruck seiner Bezugspersonen, dass damit etwas nicht in Ordnung ist. Die Reaktion der Bezugspersonen gibt dem Hundekot eine negative Bedeutung: „Bäää, scheußlich! Nicht essen! Raus aus dem Mund! Iss das nicht!“ Während das Kleinkind beim Erforschen der Dinge feststellt, dass sie sich nach Konsistenz und Geschmack unterscheiden, macht es zugleich die Erfahrung, dass seine Bezugspersonen es manches gar nicht untersuchen bzw. in den Mund stecken lassen wollen. Es sind erste Erfahrungen mit Verboten, mit Tabus, mit den vielen „Neins“ aus der Erwachsenenwelt. Zu der eigenen Erfahrung „Das schmeckt nicht!“ oder auch „Das schmeckt anders!“ kommt die Botschaft der Erwachsenen „Das isst man nicht!“ und „Das ist eklig!“
Das „Nein“ der Erwachsenen gibt Kindern also Orientierung beim zunächst unbefangenen Zugehen auf die Welt. Und ebenso das „Ja“, die Zustimmung zu bestimmten Handlungsweisen. Das gilt auch für die Regeln des Umgangs unter Menschen, für das, was in moralischer Hinsicht erwünscht und was unerwünscht ist.
Vorurteile, Stereotypien, Stigmatisierung und Diskriminierung kennzeichnen einen unerwünschten Umgang mit den Unterschieden zwischen Menschen, der nicht respektvoll und wertschätzend, sondern abwertend und ausgrenzend ist. Weil ein solcher Umgang schädlich ist für die Entwicklung des Einzelnen in einem Gemeinwesen und in der Folge ein Schaden für die ganze Gesellschaft, ist Diskriminierung geächtet und verboten (vgl. Antidiskriminierungsgesetze in der EU, Allgemeines Gleichstellungsgesetz in Deutschland). Dennoch gibt es Diskriminierung, als diskriminierendes Handeln von Individuen gegen andere und als strukturelle Ungleichbehandlung, die bestimmte Menschen bzw. Gruppen beim Zugang zu Ressourcen benachteiligt. Die strukturelle Diskriminierung ist eingebaut in die Funktionsweise einer Gesellschaft und ihrer Institutionen und funktioniert unabhängig von diskriminierenden Absichten Einzelner. Anti-Diskriminierungs-Maßnahmen fordern Individuen und Organisationen dazu auf, unmittelbare und strukturelle Diskriminierung zu bekämpfen und Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ein Leben ohne Diskriminierung möglich ist.
Auch Kindertageseinrichtungen müssen sich dieser Aufgabe stellen, als erste öffentliche Institution, die ein Kind besucht und als ein Lernort, der junge Kinder zusammen bringt, die ja eben erst dabei sind zu begreifen, nach welchen Gesetzen und Regeln die Gesellschaft funktioniert. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung setzt hier an. Dieser pädagogische Ansatz wurde in Kalifornien für Kinder ab zwei Jahren entwickelt und im Rahmen des Projekts KINDERWELTEN auf der Grundlage des Situationsansatzes für Deutschland adaptiert (Preissing/Wagner 2003). Der „Anti-Bias Approach“ (Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung) von Louise Derman-Sparks und Kolleg(inn)en (1989) setzt auf die bewusste Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten und gleichzeitig auf eine deutliche Positionierung gegen Vorurteile, Diskriminierung und Einseitigkeiten.
Im Projekt KINDERWELTEN wird mit Erzieher(inne)n und Leiter(inne)n eine vorurteilsbewusste Praxis entwickelt, die sich insbesondere in der Gestaltung der Lernumgebung und der Interaktion mit Kindern zeigt. Es ist eine Praxis, die sich zwischen Anleitung und Selbstbildung positionieren muss: Es geht darum, Kinder in ihren Bildungsprozessen zu unterstützen und dabei wechselseitigen Respekt und eine klare Absage an Herabwürdigung und Ausgrenzung als moralische Orientierung zu vermitteln. Geht das überhaupt zusammen? Bedeutet eine klare moralische Orientierung, die ja von den Erwachsenen ausgeht, nicht zwangsläufig Gängelung oder Manipulation von Kindern und steht damit im Widerspruch zu unserem Verständnis von Bildungsprozessen als subjektiven Aneignungstätigkeiten, in denen sich Kinder aktiv und selbsttätig ein Bild von der Welt machen?
Vorurteilsbewusste Bildung und kindliche Moralentwicklung
Kinder nehmen früh Unterschiede zwischen Menschen wahr und unterscheiden vertraute von unvertrauten Personen. Etwa ab dem dritten Lebensjahr zeigen sie Unbehagen gegenüber äußeren Merkmalen und Besonderheiten von Menschen. Und sie verweisen auf solche Merkmale bei Aushandlungen um Spielpartner und Spielideen: Sie wollen zum Beispiel nicht neben bestimmten Kindern sitzen, sie nicht an der Hand halten oder schließen sie von ihrem Spiel aus, weil sie dick sind, „komisch reden“, „komisch aussehen“, ein Junge bzw. ein Mädchen sind usw.
Kinder bauen die Bezugnahme auf äußere Merkmale in die Durchsetzung ihrer Spielinteressen ein. Sie übernehmen dabei nicht einfach, was Erwachsene sagen, sondern experimentieren mit einem Argumentationsmuster, das Vorurteile kennzeichnet: Ein Merkmal wird bewertet, für die ganze Person genommen und „begründet“ ihre Sonderbehandlung oder ihren Ausschluss. Zeigen Kinder solche Vor-Vorurteile, so sind Erwachsene einerseits aufgefordert, vorurteilsbewusst einzugreifen. Andererseits sollen sie über das akute Eingreifen hinaus eine Alltagskultur gestalten, die von Respekt, Wertschätzung und dem Streben nach Gerechtigkeit geprägt ist.
Das Praxiskonzept vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung für Kindertageseinrichtungen orientiert auf vier aufeinander aufbauende Ziele.
(1) Alle Kinder in ihrer Identität stärken
Das Recht aller Kinder auf Schutz und Sicherheit ist glaubhaft einzulösen, denn Wohlbefinden ist grundlegend, damit Kinder lernen können. Kinder fühlen sich wohl im Kindergarten, wenn sie hier Sicherheit und Schutz erleben. Zu ihrer Sicherheit und zu ihrem Wohlbefinden trägt bei, wenn sie eine positive Resonanz auf ihre Vorerfahrungen, ihre Fähigkeiten, ihre Interessen, auf ihre Herkunft und Familie bekommen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zielt daher auf die Stärkung jedes Kindes in seiner Identität, ein Vorgang, der ohne Anerkennung der Familienkultur(en) eines Kindes nicht gelingen kann.
(2) Allen Kinder Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
Auf der Grundlage von Respekt und Wertschätzung für die eigenen Besonderheiten und einem sich vertiefenden Wissen darum, was die eigenen Besonderheiten ausmacht und wie sie zu erklären sind, erleben Kinder aktiv die soziale Vielfalt in ihrem Nahraum. Sie begegnen Menschen, die anders sind als sie selbst, anders aussehen, sich anders kleiden, sich anders verhalten usw. Indem die Unterschiede aktiv thematisiert und benannt werden, erweitern Kinder ihre Empathie und ihr Weltwissen. Kindergärten sind Orte für Kinder, die viele unterschiedliche Familienkulturen zusammen bringen. Damit hieraus wirklicher Dialog und Kennenlernen wird, sind bewusste Schritte seitens der Fachkräfte notwendig, denn alleine aus der heterogenen Zusammensetzung von Gruppen ergibt sich noch kein kompetenter Umgang mit den Unterschieden.
(3) Kritisches Denken über Gerechtigkeit und Fairness anregen
Kinder sollen im Kindergarten erfahren, dass es gerecht und fair zugeht. Alle Kinder haben ihren Platz, alle können spielen und lernen, kein Kind wird drangsaliert, gehänselt, verletzt, beschimpft oder ausgegrenzt. Für die Verdeutlichung dieser Werte sind die Erwachsenen zuständig. Normen und Werte übermitteln sich Kindern darüber, was ihre Bezugspersonen sagen und tun, und auch darüber, was sie nicht sagen oder tun. Mit etwa vier Jahren unterscheiden Kinder unmoralisches Handeln und Verstöße gegen soziale Konventionen. Unmoralisches Handeln wird für schlecht befunden. Hierzu zählen: etwas wegnehmen, schlagen, kaputt machen, beschimpfen, auslachen, etwas ungerecht verteilen. Verstöße gegen Konventionen (wie z. B. Tischmanieren, Begrüßungen, Anrede von Erwachsenen) werden akzeptiert, wenn Autoritäten dies erlauben oder wenn veränderte Umstände es nahe legen oder wenn andere Konventionen gelten. Im fünften Lebensjahr ist das moralische Wissen der Kinder so weit, dass sie die Regeln kennen. Was nicht heißt, dass sie sich sozial erwünscht verhalten. Dies tun sie mit der Entwicklung ihres „Moralischen Selbst“. Mit wachsender Fähigkeit zur Perspektivenübernahme verstehen Kinder, dass ihre Handlungen negative Auswirkungen auf andere haben können. Sie sehen ihre Handlungen aus der Sicht der anderen. Und verstehen, dass sie von ihnen bewertet werden. Weil sie möchten, dass ihr Verhalten positiv bewertet wird, sind sie zunehmend bereit, sich in Übereinstimmung mit den Wünschen ihrer Bezugspersonen zu verhalten – wenn diese ihre Regeln klar machen und bei deren Einhaltung Hilfestellung geben.
(4) Aktiv werden gegen Unrecht und Diskriminierung
Kommt es zu diskriminierenden Äußerungen und Handlungen im Kindergarten, so müssen die Erwachsenen eingreifen. Sie sagen „Stopp“ und signalisieren damit, dass sie mit solchen Umgangsformen nicht einverstanden sind. Dann wenden sie sich beiden Seiten zu. Die eine Seite braucht Trost, die andere braucht die Erinnerung an gemeinsame Normen und die Zusicherung, weiterhin dazu zu gehören. Das ist wichtig, damit sie für weiteres Nachdenken über Fairness offen sein können.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung hat eine klare Wertorientierung: Unterschiede sind gut, diskriminierende Vorstellungen und Handlungsweisen sind es nicht. Respekt für die Vielfalt findet eine Grenze, wo unfaire Äußerungen und Handlungen im Spiel sind. Es gehe darum, so Louise Derman-Sparks (1989), die Spannung zwischen dem „Respektieren von Unterschieden“ und dem „Nicht-Akzeptieren von Vorstellungen und Handlungen, die unfair sind“, jeweils kreativ auszutragen. In jedem Einzelfall muss also überprüft werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Die Lernumgebung wird entsprechend verändert: Stereotype und einseitige Darstellungen von Menschen haben hier keinen Platz, die Ausstattung wird um fehlende Aspekte von Vielfalt ergänzt. Einseitigkeiten und Diskriminierung werden mit den Kindern thematisiert.
Unterschiede respektieren
Fachkräfte sind aufgefordert, immer wieder kritisch zu überprüfen, wie weit sie in der Lage sind, Menschen eine Lebensgestaltung zuzugestehen, die sich von ihrer eigenen unterscheidet. Es ist ein Vorgang der „Dezentrierung“. Man versucht, seine eigenen Norm- und Wertvorstellungen nicht absolut zu setzen, sie nicht als die einzig wahren Grundlagen sinnvoller Lebensgestaltung zu behaupten. Das heißt, Respekt zu entwickeln für unterschiedliche Antworten auf die Grundfragen menschlichen Daseins.
Dazu gehört die Reflexion des eigenen Umgangs mit Unterschieden: Wie steht man zu bestimmten Unterschieden? Wie findet man es, dass in einer Familie nicht gemeinsam gegessen wird – ist es kein „richtiges“ Familienleben? Diese Mutter mit Gehbehinderung – will man ihr ein zweites Kind ausreden? Der Vater, der nicht arbeitet – meint man, er bemühe sich nicht wirklich? Die allein erziehende Mutter, tut sie einem Leid? Findet man, die katholische Mutter übertreibe es mit ihrer Religiosität? Und dass dem Sohn des lesbischen Elternpaars letztendlich doch der Vater fehle?
Die eigenen Irritationen sind wichtig: Sie geben wertvolle Hinweise auf das eigene Normen- und Wertegefüge und können der Anlass sein, sich dieses zu vergegenwärtigen. Wie bin ich zu dieser Überzeugung gekommen? Und warum denke ich, dass sie wichtig ist, wie begründe ich sie? Das eigene Wertesystem gehört in der Regel zu den nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die man in seinem „kulturellen Gepäck“ mit sich herumträgt. Unter „Seinesgleichen“ besteht auch kein Anlass, es auszupacken und zu erklären. Man tut dies nur, wenn andere es nicht verstehen oder dadurch in Frage stellen, dass sie etwas ganz anderes richtig finden.
Weder das Leugnen von Unterschieden noch das Zuschreiben von „typischen“ Merkmalen und Gepflogenheiten an bestimmte Gruppen helfen, die vorhandenen Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in den Familienkulturen zu verstehen und kompetent mit ihnen umzugehen.
Für pädagogische Fachkräfte besteht eine zentrale Herausforderung darin, Perspektivenvielfalt anzuerkennen und gleichzeitig Stellung zu beziehen, d. h. seine moralische Orientierung dazu einzubringen, was für ein gutes Zusammenleben der Menschen akzeptabel oder inakzeptabel ist. Gelingt es ihnen, Perspektivenvielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Tatsache zu sehen und von blinden Flecken in ihrer eigenen Wahrnehmung auszugehen, so begeben sie sich in einen dialogischen Prozess des Nachfragens, Klärens, Zur-Kenntnis-Nehmens und erneuern ihre Wert- und Normvorstellungen auf einer weiterentwickelten Grundlage.
Ungerechtigkeit nicht akzeptieren
Erzieher(innen) sind aufgefordert, Vorstellungen und Handlungen, die unfair sind, zurückzuweisen. Gefragt ist eine klare „Positionierung“ in dem Sinne, dass Äußerungen, Ideen und Verhaltensweisen aktiv entgegengetreten wird, die menschliche Würde verletzen. Um dieses tun zu können, brauchen Erwachsene eine klare Vorstellung von Gerechtigkeit. Die kritische Auseinandersetzung mit Einseitigkeiten, Vorurteilen und Diskriminierung fordert zu einer Klärung des eigenen moralischen „Navigationssystems“ auf: Welche Werte sind mir aus welchen Gründen wichtig – und wodurch werden sie verletzt? Wo greife ich zu Rechtfertigungen und Abwiegelungen, mit denen ich die Folgen von Diskriminierung und Unrecht abschwächen möchte – und warum tue ich das? Will ich mir das Eingreifen ersparen? Weil es mühsam ist?
Schlussfolgerung
Kinder bei ihren Bildungsprozessen unterstützen und dabei moralische Werte deutlich machen ist kein Widerspruch. Schwierig für Kinder ist wahrscheinlich, wenn Erwachsene so tun, als könnten sie beides voneinander trennen. In einem kurzschlüssigen Verständnis von „Bildung als Selbstbildung“ verschleiern oder leugnen Erwachsene, dass ihr Erziehungshandeln immer gewissen moralischen Leitlinien folgt – auch wenn diese inkonsistent oder ihnen nicht recht bewusst sind. Kinder konstruieren ihre Bildungsprozesse eigensinnig, aber nicht in einem luftleeren Raum. Sie bauen auch die impliziten Botschaften ihrer Bezugspersonen über gut und böse, richtig und falsch in ihr soziales Wissen über die Menschen und die Regeln des Zusammenlebens ein. Erzieher(innen) dürfen sich in moralischer Hinsicht nicht „heraushalten“, denn damit bestätigen sie herrschende Mechanismen von Ungleichbehandlung und Ausgrenzung. Sie müssen explizit Stellung dagegen beziehen. Gleichzeitig sind sie verantwortlich für die Gestaltung der Lernumgebung. Eine Lernumgebung, die allen Kindern Schutz und Zugehörigkeit zusichert, in der respektvoll mit Unterschieden umgegangen wird und in der Kinder lernen, sich gegen Hänseleien, Ausschluss und Ungerechtigkeit zu wehren. Bildungsprozesse unterstützt man nicht mit moralischer Abstinenz, sondern mit Klarheit und Dialogbereitschaft.
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag der Autorin auf der Fachtagung des Pestalozzi-Fröbel-Verbands „Kompetente Erziehung zwischen Anleitung und Selbstbildung“ 2006 in Halle. Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Petra Wagner ist Diplom-Pädagogin und Leiterin des Projekts KINDERWELTEN im Institut für den Situationsansatz in der Internationalen Akademie INA gGmbH an der Freien Universität Berlin.
Achtung Pseudovielfalt: Der touristische Ansatz
Der touristische Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er einen Ausflug in die Welt der „Anderen“ unternimmt, gleich einer touristischen Reise. Man lernt das kennen, was „typisch“ ist und findet es besonders interessant, wenn es exotisch, farbenfroh und ungewöhnlich ist. „Bereichert“ um diese Reiseerfahrung und vielleicht um ein prächtiges Souvenir, kehrt man zurück „nach Hause“, wo alles so ist wie vorher.
Beispiele touristischen Vorgehens gibt es viele, auch in der Kita. Zum Beispiel ein Mobile (Abbildung 1) mit der dekorativen Weltkugel und den bunten, lustigen Figürchen dran. Möglicherweise hat sie jemand angebracht, um Kindern eine Vorstellung von den „Kindern einer Erde“ zu vermitteln?
Wenn man die abgebildeten Figuren genauer betrachtet und sich dabei fragt, ob sie Kindern Identifikationsangebote geben können, muss man dies wohl verneinen. Kein Kind in der Gruppe, das eine dunkle Hautfarbe hat, wird sich mit der Darstellung der „Afrikanerin“ identifizieren können: mit dem riesigen, unförmigen Mund, dem obligatorischen Wasserkrug auf dem Kopf. Kein Kind mit Familienwurzeln in Asien wird sich mit dem gelbhäutigen Jungen identifizieren können, der sogar im Stehen mit Stäbchen Reis isst. Der englische Gentleman mit Schirm und Melone, die Flamenco tanzende Spanierin, der Dudelsack spielende Schotte, natürlich im Schottenrock und das holländische Mädchen mit Holzschuhen, Häubchen und Tulpe – sie alle sind derart reduziert auf ein bestimmtes Stereotyp, dass sie hellhäutige Kinder in Europa kaum zur Identifikation einladen. Sind sie eine Anregung zum Thema Vielfalt? Das Mobile ist von seinem Informationsgehalt her flach: Jede Figur ist ungefähr gleich groß, es gibt jeweils nur eine Figur, Mann oder Frau, es gibt die Beschränkung auf einige wenige äußere Attribute (Hautfarbe, Bekleidung, Gegenstände), man erfährt nicht, was sie machen und wie andere Menschen in dem Land aussehen. In den Fehlinformationen liegen Botschaften, die sich den Betrachter(inne)n übermitteln: Manche Länder tauchen nicht auf. Sind sie bedeutungslos? Sind sie so unwichtig, dass es über sie nicht einmal ein Stereotyp gibt? Das Land der „Autoren“ taucht in der Regel nicht auf. Im Mobile gibt es keine(n) Deutsche(n). Die Botschaft: Es geht hier um „die Kultur der Anderen“, über sie gibt es etwas zu lernen, denn wir selbst sind „normal“. Die anderen sind homogene Gruppen – und ganz anders als wir! Wenn sich die Figuren auch nicht zur Repräsentation dessen eignen, was die Kinder in der Kindergruppe ausmacht, so übermitteln sie dennoch Bilder. Stereotype Bilder davon, wie Menschen sind, prägen stark die Vorstellungen über sie, man kann sich ihrer kaum erwehren. Dies beginnt früh: Die Fülle an Bildern in ihrer Lernumgebung vermittelt Kindern wichtige Botschaften über Menschen und geht ein in ihr „Wissen“, auch ohne dass sie jemals Kontakt zu ihnen gehabt haben müssen. Die Bilder sind der Stoff, aus dem Vorurteile gemacht sind.
Achtung Pseudogleichheit: Der farbenblinde Ansatz
Der farbenblinde Ansatz ist gekennzeichnet durch ein häufig gut gemeintes Anliegen: „Alle Kinder sind gleich, ich mache keine Unterschiede!“ Man möchte nicht, dass Ungleichheit und Unterschiede thematisiert werden und dadurch erst in die Aufmerksamkeit der Kinder geraten. Das zugrunde liegende Bild vom Kind ist das eines vorurteilsfreien, grundsätzlich für seine Umgebung und für andere Menschen offenen Jungen oder Mädchen, dem das gemeinsame Spiel wichtiger ist als äußere Unterschiede. Der Kindergarten wird als Schonraum angesehen, der von der rauen Wirklichkeit „draußen in der Gesellschaft“ abgeschirmt bleiben soll, damit Kinder unbeeinflusst davon ihre Kindheitsjahre genießen können. In einem solchen Kindergarten gibt es keine Konflikte, hier wird unbeschwert Kindergeburtstag gefeiert: alle Kinder freuen sich, alle lachen, alle sind süß und nett (Abbildung 2). Wer wen einlädt und wen nicht, ist hier kein Thema.
Der farbenblinde Ansatz spart etwas aus, was zu den Erfahrungen von Kindern gehört. Und nimmt sie nicht ernst in ihrer wachsenden Wahrnehmung der vorhandenen Unterschiede zwischen Menschen. Im farbenblinden Ansatz wird ignoriert, dass Kinder früh Botschaften darüber auswerten, wie bestimmte Merkmale von Menschen bewertet werden und dass sie diese Botschaften von überall herbekommen und sich ihren Reim darauf machen. Sie bekommen sie auch von „farbenblinden“
Erwachsenen – und lernen von ihnen, dass Unterschiede heikel sind, denn man darf darüber nicht sprechen. So lassen sich Kompetenzen kaum erwerben, die für soziales Handeln grundlegend sind: sich in die Perspektiven anderer hineinversetzen, Empathie entwickeln, seine Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle äußern, erkennen, was fair und was unfair ist, Stellung beziehen und Konflikte austragen. Mit der Absicht, Kinder zu schonen, werden diese mit ihren Erfahrungen alleine gelassen und erhalten keine Unterstützung für einen kompetenten Umgang mit Unterschieden und Ungerechtigkeit.
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