25 Jun fK 5/09 Maywald
Kindliches Spiel: Selbstzweck oder Instrument der Pädagogik?
Erkundungen zur Rolle des Spiels in japanischen Kindertageseinrichtungen
von Jörg Maywald
Pflaumenblüten gepflückt
Sie ins Haar gesteckt
Und nur gespielt und dessen
Dennoch nicht müd geworden:
So ein Tag war heut!
Gedicht Nummer 836 der ältesten japanischen Gedichtsammlung, dem Manyoshu, aus der Mitte des 8. Jahrhunderts
Die Vorstellung des selbstvergessenen, von Absicht und Zweck freien Spiels will nicht so recht in das Schema der Vorurteile passen, die sich aus deutscher Sicht in der Regel mit Japan verbinden. Im Gegenteil, wer sich hierzulande mit dem Land der aufgehenden Sonne beschäftigt, denkt zwar auch an Baumblüten, in erster Linie aber wohl an geordnete japanische Touristengruppen, geballte Wirtschaftsmacht und Hightech. Dieser Reigen der Vorurteile lässt sich verlängern zu einem Bild, das geradezu dem Gegenteil von Spiel entspricht: disziplinierte Japaner(innen), anscheinend mit einem Foto-Handy zur Welt kommend, bereits in Familie und Kindergarten kognitiv getrimmt, von morgens bis abends dem Fetisch Arbeit gewidmet. Wo bleibt hier Raum für Muße und Spiel? Soweit das Vorurteil.
Wie sieht die Realität aus? Vom 16. bis 30. Mai 2009 hatten 16 Fachkräfte aus Deutschland (darunter der Autor) Gelegenheit, im Rahmen des „Deutsch-Japanischen Studienprogramms für Fachkräfte der Jugendarbeit“ ihre Vorurteile von Kinder- und Jugendhilfe in Japan bestätigen zu lassen – oder eben nicht. Zum Thema „Lebenskompetenz fördern – Systeme und Methoden früher Förderung“ nahmen acht aus Kitas, Ausbildungsstätten der Frühpädagogik und der Verbandsarbeit ausgewählte Profis an dem Programm teil (Gruppe A1); eine zweite, ebenso große Gruppe (A2) – deren Erfahrungen in diesem Beitrag nicht berücksichtigt sind – widmete sich dem Thema „Hilfen für benachteiligte Jugendliche“. Unter Leitung der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tätigen „Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ (IJAB) wurden Gespräche auf fachlicher und politischer Ebene geführt und zahlreiche Einrichtungen besucht. Orte des Austauschs, der einen dreitägigen Aufenthalt in einer japanischen Gastfamilie einschloss, waren für die Gruppe A1 Tokio und die Kleinstadt Tateyama, etwa 300 Kilometer von der Hauptstadt entfernt zwischen den Kurobe-Alpen und dem japanischen Meer gelegen.
Interkulturalität: die riskante Chance
Fachliche Ausflüge in ein fremdes Land sind bereichernde und zugleich riskante Unternehmungen. Sie bereichern, weil sich in der Konfrontation mit dem „ganz anderen“ beim Besucher jenes Staunen (wieder) einstellt, das im „ganz gewöhnlichen“ des Alltags allzu leicht verloren geht. Sie sind riskant, da der heimische Blick nicht abgelegt, der Filter der Vorurteile nicht entfernt und schnelles Verstehen sich bei näherem Hinsehen als Irrtum erweisen kann. Ist das bereits bei sehr jungen japanischen Kindern automatisierte Wechseln der Schuhe beim Betreten des Toilettenbereichs Ergebnis frühen Drills, Ausdruck kulturell-religiöser Reinlichkeitsriten oder schlichte hygienische Erfordernis angesichts des Zusammenseins großer Kindergruppen auf engem Raum? Kann das offensichtlich reibungslose gemeinsame Aufräumen der Kinder am Ende eines Konstruktionsspiels als kameradschaftliche Solidarität verstanden werden oder ist hier Gruppenzwang motivierend? Deckt sich das aus Deutschland mitgebrachte Verständnis mit dem der japanischen Kita-Leiterin, wenn diese das Spiel einiger Kinder mit aus Papier gebastelten Tieren als „role play“ (Rollenspiel) übersetzt?
Hinzu kommt ein Weiteres: zwei Wochen Besuchsprogramm lassen schon aus zeitlichen Gründen nur eine geringe Auswahl zu, Repräsentativität der Erfahrungen kann nicht erwartet werden. Dennoch bleibt keine Wahl. Das Risiko interkulturellen Missverstehens muss eingegangen, die Chancen sollten genutzt werden. Im Falle des Autors war der Blick im Besonderen auf die Frage gerichtet, welche Rolle dem Spiel in japanischen Kindertageseinrichtungen zukommt. Darüber soll im Folgenden berichtet werden.
Frühe Förderung in Japan: aktueller Stand und Perspektiven
Das japanische System der Frühförderung vereint zwei Konzepte mit sehr unterschiedlicher Geschichte und Funktion. Einerseits der in der Tradition der Fröbelschen Spielpädagogik stehende Kindergarten, andererseits die Kindertagesstätte, deren historische Leistung auch in Japan vor allem darin besteht, berufstätigen Müttern bei Bedarf eine zuverlässige Betreuung ihrer noch nicht schulpflichtigen Kinder zu gewährleisten.
Der lediglich an vier Stunden vormittags geöffnete japanische Kindergarten ist traditionell für Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren vorgesehen. Kindergärten in Japan verstehen sich als ersten Baustein des Bildungssystems und sind demzufolge dem Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (MEXT) zugeordnet, das nationale Bildungsstandards vorgibt. Auf eine Fachkraft kommen durchschnittlich 23, maximal 35 Kinder, wobei Hilfskräfte nicht berücksichtigt sind. Gesetzliche Grundlage für den Betrieb eines Kindergartens ist das Schulgesetz.
Kindertagesstätten demgegenüber nehmen Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zum Beginn der Schulpflicht (sechstes Lebensjahr) auf. Sie sind in der Regel elf Stunden pro Tag geöffnet. Die Verweildauer der Kinder beträgt zumeist acht Stunden täglich. Kindertagesstätten unterstehen dem Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (MHLW), ihr Betrieb ist im Jugendhilfegesetz (Child Welfare Law) geregelt. Leitgedanke ihrer Tätigkeit ist eine gesunde Pflege und Förderung der Kinder. Der Fachkräfte-Kind-Schlüssel ist nach Alter der Kinder gestaffelt, beginnend mit 1:3 für Säuglinge über 1:6 für ein- und zweijährige Kinder bis zu 1:20 für die Vier- und Fünfjährigen, jeweils ohne Berücksichtigung von Hilfskräften.
Während etwa drei Fünftel der Kindergärten in Japan von privaten und zwei Fünftel von öffentlichen Trägern betrieben werden, ist dieses Verhältnis bei den Kindertagesstätten ungefähr ausgeglichen. Die einkommensabhängigen Elternbeiträge sind in privaten Einrichtungen deutlich höher als in öffentlichen.
Im Jahr 2006 besuchten in den ersten drei Lebensjahren rund 14 Prozent der Säuglinge, 24 Prozent der Einjährigen und 32 Prozent der Zweijährigen eine Kindertagesstätte. In der Altersspanne der drei- bis sechsjährigen Kinder betrugen die entsprechenden Anteile 75 Prozent für die dreijährigen (37 Prozent in Kindergärten, 38 Prozent in Kindertagesstätten), 94 Prozent für die vierjährigen (54 Prozent in Kindergärten, 40 Prozent in Kindertagesstätten) und 97 Prozent für die fünfjährigen Kinder (57 Prozent in Kindergärten, 40 Prozent in Kindertagesstätten).
Das nationale Bildungsprogramm für den Kindergarten (National Curriculum Standards for Kindergartens) definiert als wichtigstes Ziel die Förderung einer ausgeglichenen körperlichen und geistigen Entwicklung jedes Kindes. Bildung und Erziehung sollen spielzentriert (centered around play) erfolgen, da das freiwillige kindliche Spiel als zentraler Aspekt frühkindlichen Lernens betrachtet wird. Besonderer Wert soll dem Programm zufolge auf die Gestaltung einer kindgerechten Spielumgebung (Raumgestaltung, Spielzeug etc.) gelegt werden.
Im Oktober 2006 hat die japanische Regierung ein fünfjähriges Aktionsprogramm verabschiedet, mit dem bis 2011 die folgenden fachpolitischen Ziele erreicht werden sollen: (1) Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Kita; (2) Förderung integrierter „Zentren für Frühpädagogik“ (Centers for Early Childhood Education and Care); (3) Stärkung der Bildung in allen Einrichtungen mit Kindern zwischen drei und fünf Jahren; (4) Förderung eines weichen Übergangs von der Kita in die Schule; (5) Verbesserung der Qualität der Aus- und Fortbildung für Erzieher(innen); (6) Förderung der Erziehungsfähigkeit von Eltern und Familien im Sozialraum; (7) Verbesserung der Fähigkeit von Familien und lokalen Gemeinschaften, Kinder im Kontext lebenslangen Lernens zu erziehen; (8) Aufbau eines effektiven lokalen Verwaltungssystems zur Unterstützung früher Bildung.
Beobachtungen zur Rolle des Spiels
Kindergarten im Koganei-Haus: An diesem ältesten japanischen, bereits 1867 in Tokio gegründeten Kindergarten hätte Friedrich Fröbel vermutlich seine helle Freude gehabt: in jedem Gruppenraum gibt es ein Klavier und draußen besteht Gelegenheit zu ausführlicher Gartenarbeit. In dem mit alten Möbeln ausgestatteten schulähnlichen Gebäude haben alle (Klassen-)Räume Zugang zum großen Außengelände, das den Kindern offene Flächen und zwischen alten Bäumen versteckte, uneinsehbare Ecken bietet. Eine Aula mit Bühne dient als Veranstaltungs- und Präsentationsraum. Die an vier Stunden vormittags geöffnete Einrichtung wird von dem Musikwissenschaftler Prof. Nagahara geleitet und ist der Ochanomizu Universität angegliedert. Die drei- bis sechsjährigen Kinder sind in Jahrgangsgruppen aufgeteilt. Da alle Türen offen stehen, besteht sowohl auf dem Freigelände als auch in den Gruppenräumen die Möglichkeit zu altersübergreifender Begegnung. Die Erzieherinnen betreuen kleine Projekte, denen sich die Kinder frei zuordnen. Täglich werden zu jedem Kind Beobachtungen schriftlich dokumentiert. Die Aufzeichnungen bilden die Grundlage für Besprechungen im Team und für regelmäßige Gespräche mit den Eltern der Kinder.
Beobachtung: In einem Bereich des Außengeländes pflanzen zwei Erzieherinnen Setzlinge. Sie lockern die Erde, graben kleine Löcher, setzen die Pflanzen entlang einer mit Schnüren gespannten Linie, schütten Erde auf und begießen die Beete. Etwa fünf Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters beteiligen sich konzentriert an dieser Tätigkeit. Dabei entstehen Gespräche unter den Kindern und mit den Erwachsenen, die bei Bedarf Hilfestellung geben oder Ratschläge erteilen. Einige weitere Kinder kommen kurz hinzu, beobachten und kommentieren die Szene, um dann wieder eigenen Aktivitäten nachzugehen.
Interpretation: Den Kindern wird Raum und Zeit für selbst bestimmtes, von den Erwachsenen zum Teil unbeobachtbares Spiel gegeben. Dafür ist die (Frei-)Raumgestaltung von großer Bedeutung. Parallel hierzu führen die Erzieherinnen kleine Projekte durch, an denen sich die Kinder beteiligen und an deren Gestaltung sie mitwirken können. Freies Spiel und Angebote der Erwachsenen ergänzen sich und sind für die Kinder untereinander kombinierbar.
Kita Yotsuya-Kodomo-en: Die kommunale Kita im Tokioter Bezirk Shinjuku versteht sich als Kombi-Einrichtung „neuen Typs“ mit dem Anspruch, die Bildungsprinzipien des traditionellen Kindergartens und das umfassende Betreuungsangebot der Tagesstätten unter einem Dach zu vereinen. Die mit hochwertigen Materialen modern ausgestattete Einrichtung liegt direkt neben einer Grundschule, deren Sportgelände sie mitnutzen kann. Es werden Kinder ab dem sechsten Lebensmonat bis zum Übergang in die Schule aufgenommen. Die Öffnungszeiten sind zwischen acht und 18 Uhr, der Tagesablauf ist stark strukturiert. Die Betreuung findet in Jahrgangsgruppen statt, der Kleinstkindbereich liegt etwas geschützt vom übrigen Betrieb. Ergänzend zum Regelangebot ist eine flexible Betreuung möglich, die von allen Eltern im Stadtteil nach einmaliger vorheriger Anmeldung an bis zu sieben Tagen pro Monat gegen eine Kostenbeteiligung von etwa 40,- Euro pro Tag in Anspruch genommen werden kann. Für dieses flexible Angebot ist eine Erzieherin extra vorgesehen. Bei Bedarf bietet die Kita Familienberatungen an.
Beobachtung: Ein etwa dreijähriger Junge haut mit seiner Faust auf den Rand eines vor ihm liegenden leeren Plastiktellers, auf dem ein Löffel platziert ist. Durch den Schlag wird der Löffel nach oben katapultiert und fällt zu Boden. Fasziniert beobachtet der Junge den Bewegungsablauf. Mehrmals nimmt er den Löffel vom Boden wieder auf und wiederholt sein Spiel. Bei jedem Flug des Löffels verzieht sich sein Gesicht zu einem verzückten Lachen. Eine Erzieherin mischt sich ein. Ohne äußere Notwendigkeit unterbricht sie das dynamische Geschehen, Sie zeigt dem Jungen, auf welche Weise Teller und Löffel zweckbestimmt, in ihrem Sinne also „richtig“ benutzt werden sollten. Das Gesicht des Jungen verdüstert sich, sein Spiel hat ein Ende.
Interpretation: Erziehung wird in dieser Szene als Förderung der Anpassung an vorgegebene Kulturtechniken verstanden. Ein von dem Jungen entdeckter und durch ihn aufrecht erhaltener kreativer Spielraum wird von der Erzieherin ohne Not eingegrenzt. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit des Kindes wird unterbrochen.
Kita Murayama-Nakatou: Die in einem Randbezirk der weitläufigen Stadt Tokio liegende kommunale Kita nimmt seit vielen Jahren Kinder mit und ohne Behinderungen im Alter zwischen wenigen Monaten und sechs Jahren auf. Die Räumlichkeiten, darunter ein großer Sport- und Musikraum, sind liebevoll gestaltet und hochwertig ausgestattet. Es gibt einen eigenen Gemüsegarten und ein Swimmingpool auf dem Dach. Auf dem Außengelände bestehen vielfältige Möglichkeiten zum Spielen mit Wasser und Sand. Es wird biologische Kost angeboten. Die Kinder finden sich zu Beginn des Kita-Jahres nach Ostern in Jahrgangsgruppen zusammen, besonders beim Spiel im Freien sind Altersmischungen möglich. Jedem Kind steht für Unternehmungen ein einheitlicher Kita-Rucksack zur Verfügung, bei Ausflügen tragen die Kinder Uniformen (Mütze und Jacke). Für die Kinder mit Behinderungen sind zusätzliche und besonders qualifizierte Erzieherinnen vorhanden.
Beobachtung: Zahlreiche Kinder spielen auf dem Außengelände der Kita. Eine Erzieherin und ein Erzieher bauen einen Sport-Parcours auf, der begeistert genutzt wird. Einige Kinder nehmen die Anregungen auf, entwickeln diese weiter und erfinden spielerisch eigene Übungen. Die beiden Erwachsenen ziehen sich zurück.
Interpretation: Selbst bestimmtes und durch Erwachsene angeleitetes bzw. von ihnen angeregtes Spiel wird in ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Die Kinder erhalten in jeder Spielphase die Möglichkeit, eigene Ideen zu entwickeln und diese in die Tat umzusetzen. Die pädagogischen Fachkräfte bringen ihre Anregungen nur so lange wie nötig ein und überlassen dann den Kindern das Feld.
Schlussfolgerungen: In den japanischen Einrichtungen konnten sowohl das freie, von Kindern selbst initiierte, als auch das von Pädagog(inn)en angeregte Spiel beobachtet werden. In einem Fall wurde festgestellt, dass ein erwachsener Eingriff kindliches Spiel unterbrochen und damit zerstört hat. Aufgrund der Beobachtungen kann angenommen werden, dass der in der Fröbelschen Tradition der Spielpädagogik stehende Kindergarten mehr Wert auf selbst organisiertes Spiel legt als die vor allem unter dem Motto der Förderung antretende Kindertageseinrichtung. Für die geplante Weiterentwicklung des japanischen Systems früher Förderung wird nicht unwichtig sein, inwieweit es gelingt, der Bedeutung des freien kindlichen Spiels einen angemessenen Platz einzuräumen.
Exkurs zur Bedeutung des freien Spiels
Was ist eigentlich ein Spiel? Und warum ist freies Spielen für Kinder so wichtig, dass die UN-Kinderrechtskonvention dem Recht jedes Kindes auf Spiel einen eigenen Artikel widmet? Etymologisch verweist das dem althochdeutschen „Spil“ entstammende Wort „spielen“ ursprünglich auf „tanzen“, „schaukeln“, „schwingen“, die Bewegung der Wiege, das Hin und Her der Wellen. Auch das japanische Wort „asobi“ (spielen) verweist auf Tanz und rituelle Gesänge (vgl. Lenzen 1998, S. 299).
Es gibt zahlreiche Versuche, den Begriff des Spiels zu definieren. Friedrich Fröbel verstand unter Spielen die „freitätige Darstellung des Innern, die Darstellung des Innern aus der Notwendigkeit und Bedürfnis des Innern selbst“ (Fröbel, 1836). Die wohl bekannteste Definition stammt von Johan Huizinga aus seinem 1938 erschienenen Buch „Homo ludens“: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins’ als das ‚gewöhnliche Leben’“ (Huizinga 1938, zit. nach Weber-Schäfer 1998, S. 44).
Zweifellos gehört das selbst gewählte Spiel um des Vergnügens willen als ein Element jeder Kultur zur Grundausstattung des Menschen. Zwei Bedingungen muss eine Tätigkeit erfüllen, um Spiel zu sein: es muss Spielregeln geben, an die die Mitspieler zwanglos bereit sind, sich zu halten; und es muss zweckfrei sein, darf nicht auf ein in irgendeinem Sinne nützliches Ziel außerhalb seiner selbst gerichtet sein. Von Kindern ist das freie Spiel nicht wegzudenken. Kinder lernen im Spiel, aber sie spielen nicht um zu lernen. Im Spielraum des Als-ob – einer kreativen Mischung aus Fantasie und Realität – kann sich das Kind eine eigene Welt erschaffen, die nach seinen Regeln funktioniert. Es lernt, mit Gefühlen und Impulsen umzugehen, Lösungen für Probleme zu suchen und Konflikte zu bewältigen. Das freie, selbst bestimmte Spiel ist daher ein notwendiger Bestandteil für eine gesunde Entwicklung des Kindes und eine wichtige Lernressource.
Aber gerade dieses Freispiel wird immer weiter zurückgedrängt oder für andere Zwecke instrumentalisiert. Im Rahmen von Förderprogrammen jagt nicht selten ein Angebot das nächste. Abenteuerliche, von Kindern erst noch zu erobernde Spielorte sind kaum mehr vorhanden. Wo es nur noch wenige Spielräume für Kinder gibt, die frei von erwachsener Beobachtung, Kontrolle und guten Ratschlägen sind, nehmen Spielunlust und Spielverweigerung zu. So verstanden, ist das „Recht auf Spiel“ gemäß Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention auch in hoch entwickelten Gesellschaften längst nicht für alle Kinder einlösbar. Dabei sind die Voraussetzungen, die vorhanden sein müssen, damit Kinder spielen können, einfach: Kinder benötigen einen sicheren und für sie zugänglichen Raum, der Möglichkeiten enthält, Dinge zu verändern und kreativ zu gestalten. Aber gerade diese Voraussetzungen sind in der Welt von heute für viele Kinder nicht selbstverständlich vorhanden. Dies mag daran liegen, dass der willkürliche, anarchische Charakter des Spiels ökonomischen Kriterien rationeller Planung zuwiderläuft und das Spiel den Erwachsenen daher als nutzlos und überflüssig erscheinen kann.
Ein Blick auf Deutschland
Vor dem Hintergrund eines kognitiv verengten Bildungsbegriffs und falsch verstandener „Förderung“ besteht auch in deutschen Kindertageseinrichtungen die Gefahr, die wichtige Rolle des freien Kinderspiels für didaktische Zwecke des Lernens zu vereinnahmen und das Spiel zu einer pädagogischen Lehrtechnik zu funktionalisieren. Ein solcher „Abschied vom zweckfreien Kinderspiel“ (Lenzen 1998, S. 306) wäre allerdings mit hohen Kosten verbunden. Ein Verlust an Kreativität und Erfahrung der Selbstwirksamkeit, letztlich ein Verlust an Persönlichkeitsbildung könnte die Folge für die Kinder sein.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Der Beitrag wird gleichzeitig veröffentlicht in: forum jugendhilfe 3/2009.
Dr. Jörg Maywald ist Soziologe, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.
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