fK 5/08 Obršal-Ihssen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

REFUGIO Bremen e.V

Psychosoziale Betreuung und Rehabilitation traumatisierter Flüchtlingskinder

von Renata Miša Obršal-Ihssen

Der zehnjährige Adam kam nach dem zweiten Tschetschenienkrieg mit seinen Eltern und Geschwistern aus Tschetschenien nach Bremen. Das Haus seiner Familie wurde durch Bomben zerstört, Verwandte und Freunde der Familie wurden von russischen Soldaten misshandelt, einige sogar getötet. In ihren Albträumen und ungewollten Erinnerungen erlebt die ganze Familie immer wieder die Schreckensbilder der Gewalt des Krieges. Der junge Adam kann nachts nicht mehr einschlafen, wird von Albträumen geplagt aus denen ihn die Eltern nur mit Mühe in die Realität zurück holen können, er leidet unter Kopfschmerzen, massiven Ängsten und immer wiederkehrenden Panikattacken. Schon das Geräusch eines Flugzeugs versetzt ihn emotional und körperlich in das Erleben der Kriegssituation zurück.

Erst in der kunsttherapeutischen Begleitung bei REFUGIO gelingt es ihm schrittweise, die erlebten Schrecken zu bearbeiten, an vormals bereits erworbene Fähigkeiten und Stärken anzuknüpfen und überdies neue zu entwickeln. Die begleitenden Elterngespräche und Familienberatungen unterstützen den Heilungsprozess ihres Sohnes wie auch die Entlastung der gesamten Familie.

Ganz allmählich kann in dieser Familie wieder Raum geschaffen werden, um alltäglichen Herausforderungen besser begegnen zu können und altersentsprechende Entwicklungsschritte zu begleiten. Zugleich kann durch die Verarbeitung und psychische Integration traumatischer Inhalte in die aktuelle Lebensrealität Adams ein Beitrag für die Integrationsbemühungen der ganzen Familie in die noch unsichere aber faktisch neue Heimat Deutschland geleistet werden, ohne dabei eigene Wurzeln verleugnen zu müssen.

Kriegstraumatisierte Flüchtlingskinder
REFUGIO Bremen e.V. betreibt seit 2003 Projekte für vorwiegend kriegstraumatisierte Flüchtlingskinder und -jugendliche unterschiedlicher Herkunft, die mit ihren Familien oder unbegleitet in Deutschland Schutz vor Verfolgung suchen. Viele sind durch traumatische Erfahrungen wie Gewalt, Folter, Kriegserlebnisse und Flucht geprägt. Zudem gefährden Entwurzelung, sozioökonomische Diskriminierung, familiäre Überforderung oder Vernachlässigung im Aufnahmeland Deutschland sowie ständige Abschiebeangst ihre psychosoziale Entwicklung. Neben den direkt betroffenen jungen Menschen werden bei Bedarf auch andere Familienmitglieder oder ganze Familien in die therapeutische Arbeit mit einbezogen.

Gegenwärtig werden Kinder und Jugendliche aus folgenden Ländern behandelt: Kosovo/Albanien, Serbien (Ex-Jugoslawien), Bosnien, Türkei/kurdische Gebiete, ehemalige GUS-Staaten, Tschetschenien, Dagestan, Sierra Leone, Kamerun, Gambia, Angola, Irak, Libanon, Palästina, Syrien und Sri Lanka.

Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur als Teil der Zivilbevölkerung betroffen gewesen, sondern wurden zum Teil auch als Kindersoldaten missbraucht. Sie haben in ihrem Heimatland Vertreibung oder Terror gegen Minderheiten, den Verlust von Angehörigen, Folter und gewaltsame Übergriffe erlebt und müssen sich mit dem (meist endgültigen) Verlust ihrer Heimat und vielfach dem Tod von Angehörigen auseinandersetzen. Durch ihre Erlebnisse und ihre Flucht sind sie aller vormaligen Geborgenheit und Sicherheit entrissen. In einer solchen Situation bedeutet die Ankunft in einem fremden Land, meistens ohne Verständigungsmöglichkeiten und ohne Kontakte, eine zusätzliche große Belastung.

Besonders Kinder sind in der ersten Zeit des Exils häufig desorientiert, verunsichert, verängstigt, verzweifelt oder empfinden – als unbegleitete Minderjährige – Schuldgefühle darüber, nur die eigene Haut gerettet zu haben. Sie fühlen sich verlassen und nehmen überdies die Ängste der Eltern wahr, ohne zu wissen, wie sie damit umgehen sollen. Sie stehen unter dem Druck einer schnellen Anpassung an das soziale und schulische Lebensumfeld und sind oft die ersten in den Familien, die die neue Sprache erlernen. Aus dieser Fähigkeit heraus geraten sie schnell in die Rolle der Vermittler zwischen Angehörigen und Umfeld und werden oft in eine sie überfordernde Erwachsenenrolle gedrängt. Sie müssen häufig bei Behörden und Ärzten dolmetschen, finden sich unter Umständen sogar in der Rolle von Tröstern und Halt gebenden Beschützern wieder. Obwohl oder gerade weil viele traumatisierte Eltern nicht mit ihren Kindern über die Vergangenheit sprechen, ist sie als „Geheimnis“ belastend präsent und ruft zusätzlich zu den selbst erlebten Schrecken angstvolle Phantasien hervor. In der Rolle des Dolmetschers wiederum werden sie mit den erschreckenden Einzelheiten der Leidensgeschichte ihrer Angehörigen konfrontiert, ohne weitere Möglichkeiten der Auseinandersetzung über das Gehörte zu haben.

Das oft unverständliche und nicht nachvollziehbare oder gar beängstigende Verhalten der traumatisierten Familienangehörigen kann zu Schuldgefühlen führen. Die Kinder und Jugendlichen fragen sich, warum gerade sie verschont geblieben sind. Sie haben ein schlechtes Gewissen und Überlebens-Schuldgefühle gegenüber denen, die getötet wurden oder denen eine Flucht nicht gelang. Traumatisch erkrankte Flüchtlingskinder weisen oft eine Vielzahl körperlicher Schmerzen auf, haben Gedächtnis- und Schlafstörungen und Albträume. Sie haben ihr Vertrauen in andere Menschen und den Glauben an eine Zukunft verloren. Gleichzeitig sind Flüchtlinge in Deutschland mit einem Ausländergesetz konfrontiert, das ihre Chancen auf einen erfolgreichen Neubeginn oder im Falle von Kindern deren psychosoziale Entwicklung massiv begrenzt. Dieser Umstand führt – nach den Schrecken durch (Bürger-) Krieg, Vertreibung und Flucht – häufig zu einer Verlängerung grundlegender Lebensunsicherheit und somit zu weiteren Traumatisierungen. Die jungen Menschen befinden sich in einer (scheinbar) hoffnungslosen Situation, was oftmals zu vielfältigen psychischen und körperlichen Erkrankungen führt.

Multimodal-integrativer Behandlungsansatz
Bei der schwierigen und komplexen Gesamtproblematik durch Krieg und/oder Folter traumatisierter Flüchtlingskinder und -jugendlicher ist es jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung, eine adäquate Behandlung anzubieten. So hat z. B. eine junge, in ihrem Heimatland verfolgte und vergewaltigte Muslimin einen anderen Bedarf als ein unbegleiteter Minderjähriger, der als Kindersoldat zwangsrekrutiert wurde.

Auf der Grundlage des multimodalen und integrativen Behandlungsansatzes bei REFUGIO Bremen wird versucht, dem in bestmöglicher Weise zu entsprechen. So kommen, falls indiziert, auch parallel verschiedene Behandlungsmethoden zum Einsatz, wie z. B. Einzel- und Gruppenbetreuung, Gespräche, Kunst-, Musik- oder Körpertherapie.

Die integrative Traumabehandlung hat nicht nur das erlebte Trauma, sondern den ganzen Menschen mit seinen biografischen Erfahrungen, seinem Lebenskontext und seiner Identität im Blick. Flüchtlinge haben durch das Leben in ihrem Herkunftsland vor ihrer Verfolgung eine Fülle an Fähigkeiten und Kräften entwickelt, Ressourcen, die durch die Verfolgung, Misshandlung, Flucht und das anschließende Leben im neuen und fremden Umfeld zunächst einmal brachliegen oder verschüttet wurden. Hier setzen die Behandlungen an. Nicht nur krankmachende Defizite und Traumata werden in den Blick genommen, sondern Ressourcen und weitere Bedingungen für Gesundheit und Wohlbefinden werden mit einbezogen.

Gesundheitliche Versorgung
Kinder und Jugendliche, die Rat und Unterstützung bei REFUGIO erhalten, sind generell mit der Tatsache einer eklatanten Versorgungslücke des öffentlichen Gesundheitssystems konfrontiert. Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthaltsstatus erhalten in Deutschland in der Regel nur Leistungen im Rahmen einer Notfallmedizin. Psychotherapeutische und andere rehabilitative Leistungen sind dabei nur begrenzt vorgesehen. Im Fall von Kindern hat das Asylbewerberleistungsgesetz Vorrang vor der Kinderrechtskonvention. Somit entsteht auch im Gesundheitsbereich eine Zwei-Klassen-Behandlung für in Deutschland lebende Kinder von Flüchtlingen. Zudem stellt sich auch das Sprachproblem, da die Kinder zwar in der Regel schneller Deutsch lernen als ihre Eltern, dies aber für eine Behandlung oder Elternberatung oft nicht ausreicht.

Flüchtlinge in Deutschland haben zumeist keinen Anspruch auf psychotherapeutische Behandlung. Sie können daher keine regulären niedergelassenen Fachkräfte aufsuchen. Vor diesem Hintergrund haben sich Zentren wie REFUGIO Bremen gegründet, die mit Dolmetscher(inne)n arbeiten und eine auf die Bedürfnisse des Klientels abgestimmte Begleitung anbieten. Die Kapazitäten der Zentren stehen allerdings in keinem Verhältnis zum Bedarf der Anfragen betroffener Flüchtlinge. Bei REFUGIO betreuen und behandeln fünf therapeutische Mitarbeiter(innen) mit der Unterstützung weiterer Honorarkräfte wie z. B. Dolmetscher(inne)n und niedergelassenen Therapeut(inn)en ca. 240 Flüchtlinge jährlich. Davon werden gegenwärtig 97 in Kinder- und Jugendlichenprojekten betreut.

Renata Miša Obršal-Ihssenarbeitet als Kunsttherapeutin und Mediatorin bei Refugio Bremen. Von 1989 bis 2001 lebte sie in Mosambik und arbeitete dort im Rahmen der Nichtregierungsorganisation „Reconstruindo a Esprança“ in der Rehabilitation kriegstraumatisierter Kinder und ehemaliger Kindersoldaten.

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