fK 5/08 Krappmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und ihre Bedeutung für Kinderflüchtlinge

von Lothar Krappmann

Nicht alle Gruppen von Kindern, deren Rechte bedroht sind, haben im Übereinkommen über die Rechte des Kindes, kurz: in der Kinderrechtskonvention, einen eigenen Artikel erhalten. So beklagen Organisationen, die sich der Kinder annehmen, die auf der Straße leben, arbeiten, ausgebeutet und verfolgt werden, dass die Konvention die Rechte dieser Kinder nicht gesondert bekräftigt. Kinderflüchtlinge haben dagegen ihren eigenen Artikel in der Konvention, den Artikel 22.

Die erste Fassung dieses Artikels wurde im Prozess der Ausarbeitung der Konvention (zwischen 1979 und 1989) bereits 1981 von Dänemark eingebracht. Hinter Dänemark stand eine kleine, aber renommierte Gruppe internationaler Nicht-Regierungsorganisationen, zu denen auch der World Jewish Congress und der International Council of Jewish Women gehörten.

Aus der weiteren Vorgeschichte ist angesichts späterer Entwicklung zudem bemerkenswert, dass sich die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der zweiten Lesung in der Arbeitsgruppe um diesen Artikel verdient gemacht hat: Die Bundesrepublik brachte als Sprecherin einer Staatengruppe, bestehend – neben der Bundesrepublik – aus Senegal, der UdSSR, den USA und Venezuela, eine Neufassung des Artikels ein, die ganz weitgehend der Fassung entsprach, die später von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Ich erwähne dies, weil die Bundesrepublik sich 1992, beim Beitritt zu dieser Konvention, gerade diesem Artikel 22 durch einen Vorbehalt entzog, an dessen Gestalt sie konstruktiv mitgewirkt hatte (OHCHR 2007. Legislative history of the Convention on the Rights of the Child. Vol. II. New York and Geneva: Printed at the United Nations, p. 554ff).

Wahrscheinlich ist gar nicht genug bekannt, dass außer Deutschland nur Mauritius noch einen Vorbehalt gegen diesen Artikel aufrechterhält. Einige weitere Äußerungen, die Staaten abgegeben haben, sind Interpretationen und Erläuterungen oder wurden inzwischen überhaupt fallen gelassen. Die Regierung von Mauritius hat dem UN-Kinderrechtsausschuss vor zwei Jahren zugesagt, diesen Vorbehalt zurückzunehmen, weil er sich als unnötig erwiesen habe.

Alle Regierungen der Bundesrepublik seit 1992 haben sich hingegen trotz massiver Anstrengung von Parteien und Nicht-Regierungsorganisationen resistent gegenüber diesem Ansinnen verhalten. Ich sehe voraus, dass die Bundesrepublik in absehbarer Zeit der einzige Staat ist, der sich diesem Artikel mit dem bemerkenswerten Satz verweigert: Sie sehe ihr Recht nicht beschränkt, „Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“, ohne diesen Anspruch in irgendeiner Weise zu konkretisieren oder spezifizieren (BMFSFJ 1995. Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien, S. 87).

Außer Deutschland und Mauritius sowie den USA und Somalia, die beide gar nicht beigetreten sind, haben bis heute 191 Staaten durch Ratifikation oder anders geregelten Beitritt zur Konvention Kinderflüchtlingen die Rechte zugesichert, auf die der Artikel 22 verweist. Flüchtlingskinder stehen folglich im Hinblick auf verbrieftes Recht besser da als Flüchtlinge generell, deren Rechtstellung durch die Genfer Konvention von 1951 und das Zusatzprotokoll von 1967 bestimmt wird (korrekte Bezeichnung: Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951), denn diesen beiden Verträgen sind nur 141 Staaten beigetreten, 50 weniger als der Kinderrechtskonvention mit ihrem Artikel 22 (nach einer Dokumentation von UNHCR mit Stand vom 1. November 2007 sind 144 Staaten der Konvention und 144 Staaten dem Protokoll beigetreten, beiden Verträgen 141 Staaten. Siehe: www.unhcr.org/protect/PRO TECTION/3b73b0d63.pdf).

Obwohl der Beitritt zu einer Konvention nicht sicherstellt, dass übernommene Vertragspflichten wirklich erfüllt werden, ist es wichtig, eine möglichst breit abgesicherte rechtliche Grundlage für die Behandlung von Flüchtlingsproblemen zu haben. Somit ist die so gut wie universelle Akzeptanz der Kinderrechtskonvention ein ganz wesentlicher Schritt zugunsten der besseren Sicherung der Rechte von Flüchtlingen bis zum Alter von 18 Jahren.

Die Rechte der Flüchtlingskinder nach der Konvention
Aber nun zum Inhalt: Kinder werden in der Flüchtlingskonvention nur beiläufig erwähnt, während der Artikel 22 der Kinderrechtskonvention eine kinderspezifische Grundlage schafft, den besonderen Schutz- und Förderungsrechten von Flüchtlingskindern Rechnung zu tragen, und dies im Rahmen eines Konzepts, das die Würde und die Beteiligung des Kindes als eines sich entwickelnden Handlungssubjekts ausdrücklich anerkennt.

Die Bedeutung der Konvention für Kinderflüchtlinge kann allerdings nicht auf ihren Artikel 22 reduziert werden. Dieser Artikel kann ja die Kindesrechte nicht noch einmal sämtlich für die Flüchtlingskinder statuieren, sondern nur auf alle Rechte verweisen, die für Kinder in dieser Lage relevant sind. Wichtig ist seine Wortwahl: „Appropriate measures“, mit angemessenen Maßnahmen sollen, „shall“ heißt es im englischen Vertragstext, die beigetretenen Staaten sicherstellen, „ensure“, dass diese Kinder Schutz und humanitäre Hilfe erhalten.

Flüchtlingskindern steht daher insbesondere zu,
– gesundheitlich versorgt und ernährt zu werden (Artikel 24),
– eine kostenfreie und verpflichtende Schule besuchen zu können (Artikel 28 und 29),
– Unterstützung bei der Bewahrung von Sprache und Kultur zu erhalten (Artikel 30 und 31),
– gegen Gewalt, ökonomische und sexuelle Ausbeutung geschützt zu werden (Artikel 19, 32 und 34),
– Hilfen zur Genesung und Wiederherstellung zu erhalten, wenn sie körperlich misshandelt oder psychisch verletzt wurden (Artikel 39), und
– besonderen Schutz zu erhalten, wenn es von seinen Eltern getrennt wurde, und Beistand, um die Familie wieder zu finden (Artikel 20 und 22 Abs. 2).

Ich nenne nur diese Bereiche, weil ich nicht die gesamte Konvention wiederholen kann, denn ohne Zweifel stehen Flüchtlingskindern grundsätzlich alle Rechte der Konvention zu, auch wenn sie im Einzelfall schwer zu erfüllen sein mögen. Im englischen Vertragstext ist von „applicable rights“ die Rede. Applicable, anwendbar, bezieht sich nach Juristenauffassung darauf, dass einige Rechte ihrer Art nach durch ein Aufnahmeland nicht erfüllbar sind. Deutschland kann einem Kind aus Somalia nicht die somalische Nationalität garantieren, obwohl das Kind nach Artikel 7 ein Recht auf Nationalität hat. Bisher hat meines Wissens kein Staat die unzulängliche Umsetzung von Rechten mit Hinweis auf „not applicable“ zu rechtfertigen versucht. Viele Staaten außerhalb Europas sind schlicht überfordert, wenn sie diesen Kindern helfen wollen, und auch UNHCR operiert oft am Rande seiner Kapazität.

Geltung für alle Kinder, ob als Flüchtlinge anerkannt oder nicht
Die wichtigste Botschaft des Artikels 22 besteht jedoch in der Bestimmung, dass diese Rechte nicht nur anerkannten Flüchtlingen, dem Kind „who is considered a refugee“, zuerkannt werden, sondern auch dem Kind „who is seeking refugee status“. Das ist wichtig, weil die Verfahren, in denen über den Status entschieden wird, in manchen Fällen jahrelang dauern. Kindern stehen auch in dieser Zeit, bevor sie einen Flüchtlingsstatus erhalten, alle Rechte der Konvention zu, etwa zur Schule zu gehen.

Aber damit nicht genug: Die Konvention gilt ausdrücklich für alle Kinder, denn in Artikel 2 heißt es: Die Vertragsstaaten „shall respect and ensure“, sollen respektieren und gewähren/garantieren, die Rechte der Konvention „to each child within their jurisdiction without discrimination of any kind“, und dann folgt die Liste der Diskriminierungsverbote, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft, und so weiter und schließlich sogar noch „or any other status“.

Folglich stehen die Rechte der Konvention auch Kindern zu, die freiwillig oder verschleppt ins Land geraten sind und sich nicht um die Anerkennung als Flüchtling bemühen, weil sie aus guten oder nicht zu billigenden Gründen unsichtbar bleiben wollen oder dazu gezwungen werden. Es gibt kein kinderrechtloses Kind, sondern alle Kinder haben einen unverlierbaren Anspruch auf die Respektierung ihrer Kindermenschenrechte.

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Bundesrepublik ihre Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingskinder mit ihrem Vorbehalt letztlich nicht aufkündigen konnte, denn sie sind Kinder auf dem Territorium, auf dem unser Staat alle Kindermenschenrechte garantieren muss.

Es gibt noch weitere übergreifende Rechte, oft auch Prinzipien genannt, die angesichts der Lage von Flüchtlingskindern von größter Bedeutung sind und ihnen ebenfalls ohne Einschränkung zustehen:

In Artikel 3 haben sich die Staaten verpflichtet, das Kindeswohl in allen Handlungen, die ein Kind oder Kinder, selbstverständlich auch Flüchtlingskinder berühren, zu berücksichtigen.

In Artikel 6 wird die Verpflichtung formuliert, das Leben, Überleben und die Entwicklung eines jeden Kindes, auch des Flüchtlingskindes, sicherzustellen, und zwar mit Blick auf die langfristige Lebensperspektive.

In Artikel 12 wird das Recht der Kinder auf Gehör anerkannt, von großer Relevanz gerade für Flüchtlingskinder, insbesondere wenn sie ohne elterliche Unterstützung ihre Angelegenheit regeln müssen.

Gegen keinen dieser Artikel, die Rechte eines jeden Kindes formulieren, hat die Bundesrepublik einen Einwand vorgebracht.

Auch in den Bestimmungen der beiden Zusatzprotokolle zur Konvention, dem Protokoll über die Rechte von Kindern, deren Leben durch bewaffnete Konflikte belastet wird, und dem Protokoll über die Rechte der Kinder, die verkauft, sexuell ausgebeutet und in Zwangsverhältnisse gesteckt wurden, zeigt sich, dass Kindern ihre Rechte ohne Einschränkung durch ihren Aufenthaltsstatus zustehen. Dem widerspricht nicht, dass diese Kinder möglicherweise Handlungen begangen haben, die strafbar sind: Sie sind als Opfer zu betrachten und in ihren Rechten zu achten.

Schutz und Unterstützung nur bis zum Alter von 16?
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik die Unterstützung der Kinderflüchtlinge durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) auf das Alter von 16 Jahren begrenzt hat. Dass die Bundesrepublik den Flüchtlingskindern ab dem Alter von 16 Jahren Schutz nach dem für Kinder generell geltenden Gesetz verweigert, ist ein international einmaliger Vorgang.

In vielen Fällen erreichen diese Kinder Deutschland zumeist verstört, orientierungslos und oft traumatisiert. Die Konvention und ihre Zusatzprotokolle wollen gerade erreichen, dass diese Kinder nicht wieder durch eine Situation, die sie nicht überblicken, um ihr Wohl und ihre wohlverstandenen Interessen gebracht werden.

Durch die fehlende altersangemessene Hilfe beschneidet man die Chancen der Kinder, für ihre Fluchtgründe Gehör zu finden. Nur zögerlich werden Genitalverstümmelung, drohende Rekrutierung und selbst lebensbedrohende Konfliktsituationen als kinderspezifische Fluchtgründe in einem Verfahren zur Kenntnis genommen, dem die Vorstellung von Kinderrechten fremd ist. Ausländerrecht und Aufenthaltsrecht haben Vorrang vor unveräußerlichen Kindermenschenrechten. Mehr Sensibilität für Kinder in diese Verfahren einzubringen, ist vor dem Hintergrund des Vorbehalts sehr schwierig.

Der Vertragsausschuss, der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, hat die Haltung der Bundesregierung und die Praxis der Behörden kritisiert, als 1995 und 2004 die Berichte der Regierung zur Einhaltung der Konvention in Deutschland in Genf diskutiert wurden, und ebenfalls 2008, als der Bericht zum Zusatzprotokoll über Kinder in bewaffneten Konflikten besprochen wurde. Im Januar 2008 entstand der Eindruck, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, den jetzt noch ausgeschlossenen 16- und 17-Jährigen die Unterstützung der Jugendhilfe zu sichern. Allerdings ist von einem entsprechenden Fortschritt nach wie vor nichts bekannt.

Die Arbeit des UN-Ausschusses für die Rechte der Kinder
Der nun schon mehrfach erwähnte Ausschuss der Vereinten Nationen hat die Aufgabe, die Einhaltung der Konvention durch die Vertragsstaaten zu überwachen. Er besteht aus 18 unabhängigen Experten, die keine Repräsentanten ihrer Herkunftsstaaten sind. Der Ausschuss kann beanstanden, mahnen, drängen, aber die Bestimmungen der Konvention nicht mit Auflagen oder Sanktionsdrohungen durchsetzen. Das treibt Mitglieder des Ausschusses und Beobachter seiner Arbeit manches Mal in Verzweiflung. Dennoch ist das, was in der UN der Dialog genannt wird, wohl das einzig vorstellbare Vorgehen. Die Konvention verlangt in vieler Hinsicht ein Umdenken, das nicht aufgezwungen werden kann. Mehr Druck könnte durch ein Beschwerdeverfahren ausgeübt werden, das – von Nichtregierungsorganisationen (NGO`s) betrieben und vom Ausschuss unterstützt – derzeit vorbereitet wird.

Der Überzeugungsarbeit widmet sich der Ausschuss mit Nachdruck, und es gibt trotz aller Frustration auch Erfolge, nicht zuletzt wegen der intensiven Zusammenarbeit mit NGO`s, UNICEF, UNHCR, UNESCO und WHO. Im Gegensatz zur Genfer Flüchtlingskonvention, die ein wichtiger Vertrag, aber eben nur ein Vertrag ist, schafft die Kinderrechtskonvention einen Ort, an dem öffentlich die Verletzungen der Rechte von Kindern, auch von Flüchtlingskindern diskutiert werden.

Möglicherweise ist gar nicht überall bekannt, dass die beigetretenen Staaten dem Ausschuss für die Rechte des Kindes Berichte vorzulegen haben, die er analysiert und mit den Regierungen diskutiert, um abschließend Empfehlungen zu verabschieden, so genannte Concluding Observations (Diese Concluding Observations, die abschließenden Stellungnahmen des Ausschusses, findet man in der Datenbasis des Ausschusses. Auf seiner Website (www2.ohchr.org/english/bodies/crc/index.htm) gibt es in der linken Spalte einen link zur Treaty Body Database).

Der Ausschuss ist dafür nicht allein auf die Regierungsberichte angewiesen, denn Nichtregierungsorganisationen schicken ihm Schattenberichte und Stellungnahmen zu einzelnen Problemen, und auch UN-Organisationen leiten ihm Informationen zu. Und tatsächlich berichten alle Regierungen – bis auf einige Südpazifik-Inselstaaten und Afghanistan – und ermöglichen substantielle öffentliche Auseinandersetzungen über die Einhaltung der Konvention, einschließlich der kritischen Prüfung, inwieweit die Vertragsstaaten die Verpflichtungen des Artikels 22 und der anderen relevanten Artikel einhalten.

Der Ausschuss hat, wie ich glaube sagen zu können, scharfe Fragen zu Problemen nicht gescheut, auch nicht zu Flüchtlingsproblemen. UNHCR ist ständiger Gast in der Vorbereitung der Auseinandersetzungen mit Regierungen und auch im Follow-up in den einzelnen Ländern, wenn die Regierung die Umsetzung der Empfehlungen beraten wird.

Über Flüchtlingskinder wird in diesen Dialogen mit den Staaten sehr oft gesprochen, denn die Welt ist voller Flüchtlingsströme, und Kinder bilden einen hohen Anteil unter den Menschen, die auf der Flucht sind. In knapp zwei Dritteln der Dialoge über Staatenberichte sind Flüchtlingskinder seit 2006 nach meiner Auswertung der Concluding Observations ein Thema gewesen.

Es wäre sehr wichtig, dass die Nichtregierungsorganisationen dieses Verfahren einmal beobachten würden, um zu erleben, dass detaillierte, präzise Fragen gestellt werden. Hinter den Fragen steht die Forderung nach einem kindspezifischen und kindsensiblen Aufnahmeverfahren, das dem Kindeswohl, den „best interests“ des Kindes, gerecht wird, übrigens auch dann, wenn dem Kind der Aufenthalt verweigert wird. NGO`s sollten zuhören, um die Aussagen der Regierungen zu hören und die Fragen und Stellungnahmen des Ausschusses für die Weiterarbeit im Land zu nutzen. Zur Beratung des deutschen Berichts kam leider allein unsere National Coalition, zur Beratung des japanischen Berichts reisten aus Japan 135 Repräsentanten von 87 NGO`s an.

Der Kommentar des Ausschusses über die Behandlung unbegleiteter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes
Um die Regierungen besser vorzubereiten, hat der Ausschuss im Jahr 2005 einen Kommentar, einen General Comment, verabschiedet, den Kommentar Nr. 6 über die Behandlung von ihren Eltern getrennter, unbegleiteter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes. In diesem Kommentar hat der Ausschuss auf der Basis seiner Erfahrungen mit diesem Thema die menschen- und kinderrechtlichen Bestimmungen der Konvention erläutert, die gegenüber Flüchtlingskindern, insbesondere denen, die allein zuwandern, einzuhalten sind. Dieser Kommentar liegt auch auf Deutsch vor (der Text ist auch über die Website des Ausschusses zu finden, in deutscher Sprache erhältlich über die Geschäftsstelle von ProAsyl oder AktionCourage e.V.).

Von diesem Kommentar hieß es manchmal, er sei wohl für Deutschland geschrieben, jedenfalls für die europäischen Staaten. Das trifft nicht zu, denn überall sind Millionen von Menschen auf der Flucht. Dennoch ist der Gedanke, der Kommentar betreffe vor allem die europäischen Regierungen, nicht zuletzt auch die deutsche, nahe liegend. Die Angst vor Flüchtlingslawinen bestimmt hier das Verhalten auch den Flüchtlingskindern gegenüber. Wir lassen sie ungesichert, am Rande leben, schließen sie aus, unterwerfen sie Restriktionen aller Art, beschneiden die Bildungs- und Entwicklungschancen. Interessen und Würde werden nicht geachtet.

Die besondere Verantwortung der reichen Länder für Zuwanderer
Diese Menschen, die sich zu uns flüchten, seien ja gar keine echten Flüchtlinge, lautet die Formel, mit der die immer perfektere Abwehr gerechtfertigt wird. Sie suchten nur das bessere Leben; sie seien Eindringlinge, die nicht hierher gehören; sie wollten an Gütern teilhaben, die sie nicht erarbeitet haben.

Unterschlagen wird die Verantwortung, die diese europäischen Länder für die Zustände der Welt haben. Ich rede nicht vom einstigen Kolonialismus, sondern über eine Wirtschaftordnung des Globus, die vielen Menschen in Afrika und Asien die Existenzgrundlage entzieht. Diejenigen, die aus Not ihr Land verlassen, fliehen vor den Folgen einer unfähigen Wirtschafts-, Landwirtschafts- und generell Entwicklungspolitik, unter anderem eindrucksvoll beschrieben vom UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler.

So machen sich einige von ihnen – noch nicht die Massen – auf den Weg, um irgendwo im Norden zu überleben. Sie klopfen bei denen an die Tür, deren Politik ihre Lage wesentlich bestimmt. Die Regierungen dieser Länder aber tun alles, um Flucht und Wanderung aus unerträglichen Verhältnissen dorthin zu verhindern, wo diese Menschen auf Brosamen hoffen, die vom Tisch der Reichen fallen. Wir, ich meine unseren Kinderrechtsausschuss, ich meine die aktive NGO-Welt, ich meine die UN-Organisationen und -Verfahren, müssen die Menschenrechte dieser Menschen, alt oder jung, heute gegenüber den Regierungen der Staaten verteidigen und einklagen, die diese Rechte aus schmerzvoller Erfahrung in Menschenrechtsverträge gegossen haben, aus denen sie sich jetzt, wo es an konkrete Folgerungen geht, herauszuwinden trachten.

Würden alle Staaten dieser Welt in die Lage versetzt, die Kinderrechte zu verwirklichen, gäbe es kaum noch einen Grund für Flucht und Migration, denn die Konvention setzt sich dafür ein, dass jedes Kind überall Lebens- und Entwicklungschancen hat, in unterstützenden Beziehungen und frei von Gewalt und Ausbeutung leben kann. Die mächtigen Staaten dieser Welt, die an der Aufgabe versagen, eine solche Grundlage friedlichen, gerechten und menschenfreundlichen Zusammenlebens in der Welt zu schaffen, haben keine Rechtfertigung, Menschen, die ihr Recht, zu überleben und besser zu leben, nicht aufgeben, vor die Tür zu weisen.

Prof. Dr. Lothar Krappmannist Mitglied im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes.

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