16 Jul fK 5/07 Volkholz
„Wir müssen alle etwas dazu beitragen, dass Kinder vernünftig aufwachsen“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Sybille Volkholz, Schulsenatorin a.D. und Koordinatorin des Projekts „Bürgernetzwerk Bildung“ beim Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI).
Maywald: Was verbindet der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller mit dem Projekt Lesepatenschaften?
Volkholz: Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller ist sehr traditionsreich und will nach seiner Satzung das bürgerschaftliche Engagement und auch die Volksbildung fördern. Ich habe dem Verein 2004 das Projekt Lesepatenschaften vorgeschlagen. Und dann haben wir zusammen dieses Bürgernetzwerk gegründet, das seit Januar 2005 existiert. Seitdem vermitteln wir Lesepaten an Grundschulen, und zwar nur an solche in schwieriger Lage. Das Kriterium dafür sind mindestens vierzig Prozent Migrantenanteil, oder aber Eltern, die von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind. Das ist ein eindeutiger ökonomischer Indikator, der eine Aussage über das soziale Umfeld zulässt. Meistens gehen wir mit zehn bis zwölf Lesepaten in eine Schule, die dort in der Regel während des Unterrichts den Klassen fest zugeordnet werden, entweder den Klassenlehrkräften oder den Deutschlehrkräften. Dort lesen sie dann mit einzelnen Kindern, meistens den lernschwachen, aber auch schon mal mit lernstärkeren, denn die brauchen auch mal eine Gelegenheit. Manche lassen auch alle Kinder abwechselnd teilnehmen. Meistens lesen die Kinder vor, weil es darum geht, deren Lesekompetenz zu fördern und das, was man verständnisintensives Lesen nennt. Wichtig ist die Freude am Lesen zu wecken und überhaupt Kinder zu ermutigen, die sich zum Beispiel in der Klasse nicht trauen und dann wieder Mut schöpfen, überhaupt zu lesen. Inzwischen haben wir Lesepaten in 124 Grund- und mittlerweile auch Sonderschulen vermittelt Seit Sommer 2007 gehen wir auch in Kindertagesstätten. Wir haben inzwischen schon fünf. Meistens wollen die Kindertagesstätten nur ein oder zwei Lesepaten, da sie anders arbeiten. Außerdem gehen wir seit kurzem in Hauptschulen, weil auch die Jugendlichen der siebten und achten, auch noch der höheren Klassen Unterstützung gebrauchen können.
Maywald: Welcher politische Gedanke steht hinter Ihrer Initiative?
Volkholz: Es war für mich auffallend, wie hoch gerade in Berlin die Erwartungshaltung ist, was der Senat alles regeln soll. Für alles, was zur Förderung von Kindern gebraucht wird, soll eine Stelle geschaffen werden. Dagegen ist es erfrischend, wie selbstverständlich es besonders in angelsächsischen Ländern als gesellschaftliche Aufgabe begriffen wird , dass alle etwas dazu beitragen, dass Kinder vernünftig aufwachsen. Ich konnte das beispielsweise in Kanada sehen. Eine durchschnittliche kanadische Grundschule hat zwischen 30 und 50 Freiwillige. Dort ist immer jemand zur Stelle, wenn ein Kind weint. Man bekommt dort überhaupt keinen Schulabschluss, wenn man nicht 40 Stunden Voluntary Work nachweisen kann. Um diesen Gedanken des ehrenamtlichen, freiwilligen Engagements zu fördern, wollte ich noch mal ein paar Lebensjahre verwenden.
Maywald: Wie hoch sind Ihrer Meinung nach der Bedarf und die Bereitschaft an Schulen für Unterstützung durch Ehrenamtliche?
Volkholz: Hier kann man ganz eindeutig einen PISA-Effekt feststellen. Die Schulen bekommen mittlerweile einen starken Druck, das heißt, sie bekommen klar vor Augen geführt, was ihre Kinder alles nicht können. Die Türen der Schulen gehen jetzt in ganz anderem Maße auf. Und das Projekt spricht sich natürlich herum. Eigentlich wollten wir mit fünf Pilotschulen starten. Das ist so schnell explodiert, dass wir am Ende des ersten Jahres schon 50 Schulen hatten. Wir merken auch, dass die Stadt voll ist von Leuten, die etwas tun wollen, die gesundheitlich fit und gut ausgebildet sind. Rund siebzig Prozent unserer Lesepaten haben die Hochschulreife, mehr als fünfzig Prozent einen akademischen Abschluss. Das sind bildungsnahe Schichten, die wissen, wie wichtig es ist, über gute Grundkompetenzen zu verfügen, und die auch bereit sind, sich zu engagieren und Benachteiligten zu helfen.
Maywald: Kommen die Schulen oder einzelne Lehrkräfte auf Sie zu?
Volkholz: Wir nehmen nur Schulen. Wenn sich einzelne Lehrkräfte an uns wenden, dann sagen wir ihnen, dass sie bitte ihre Schulleitung fragen sollen. Das ist unsere Eingangsvoraussetzung. Die Schulleitung muss ein solches Projekt tragen. Wenn wir einzelne Lehrkräfte und einzelne Klassen vermitteln würden, könnten wir das nicht schaffen.
Maywald: Bei dem Projekt Lesepatenschaften begegnen sich auf zweierlei Weise Menschen, die sonst nicht in Kontakt kommen würden: Schule und Nicht-Schule, und Jung und Alt …
Volkholz: … es gibt noch eine dritte Begegnung: Wir sind ein richtiges Integrationsprojekt. Wir motivieren viele Steglitzer oder Wilmersdorfer, nach Kreuzberg, Neukölln oder Wedding zu fahren, wo viele Migrantenkinder leben. Dabei entsteht ein Effekt, den ich immer wieder feststelle: viele Leute sagen uns, wir lesen über Kinder von Migranten immer nur als Problemkinder. Jetzt erleben wir sie hier als fröhliche, höfliche Kinder. Das hat einen Integrationseffekt! Dass Bevölkerungsschichten sich kennen lernen, die sonst nichts miteinander zu tun haben.
Maywald: Wovon profitieren die Kinder?
Volkholz: Die Kinder reagieren völlig positiv auf die Lesepaten. Oft kommen sie ja aus sehr schwierigen häuslichen Bedingungen. Sie reagieren positiv auf zusätzliche Erwachsene, die ihnen zuhören. Lehrkräfte können, völlig unabhängig von der Klassengröße, nie in dem Maße einzelnen Kindern während des Unterrichts so zuhören wie unsere Lesepaten. Auch wenn sie bei einem Kind nur eine Viertelstunde haben – in der Regel sind es bei einem Durchlauf zehn bis 15 Minuten – diese Aufmerksamkeit bekommt ein einzelnes Kind nie durch eine Lehrerin. Das heißt, die Kinder reagieren positiv auf die einzelne Zuwendung von einzelnen Erwachsenen. Sie erzählen den Lesepaten auch, was sie zu Hause bewegt, das hat natürlich auch eine fördernde Funktion, wenn Kinder überhaupt sprechfähig werden und sich artikulieren können. Wir haben auch mehrere Fälle von Lesepaten, die über das Lesen und die Arbeit in der Schule hinaus quasi Patenschaften zum Kind und zur Familie aufnehmen. Wir hatten schon Lesepaten, die am Wochenende mit dem Kind zum Ponyhof gefahren oder in den Zoo gegangen sind.
Maywald: Wer entscheidet darüber, welches Kind eine Lesepatenschaft erhält?
Volkholz: Das machen die Lehrkräfte. Es gibt immer einen Starttermin in der Schule, bei dem sich die Lesepaten und die Lehrkräfte treffen. Dann werden die Lesepaten zugeordnet, gehen mit in die Klasse und hospitieren dort. Anschließend werden sie von den Lehrkräften vorgestellt, die in der Regel auch entscheiden, welches Kind zugeteilt wird, da sie am besten wissen, welches Kind besonders bedürftig ist. Oft melden sich die Kinder aber auch selbst und sagen, ich will jetzt mit dem Lesepaten rausgehen. Auf jeden Fall hat die Lehrerin in der Regel ein Auge drauf. Die Kommunikation findet zwischen Lehrkräften und Lesepaten statt. Und natürlich auch mit den Kindern. Meist werden die Lesepaten auch den Eltern auf einem Elternabend vorgestellt.
Maywald: Auch das Ehrenamt funktioniert nur, wenn beide Seiten profitieren. Was bekommen die Paten zurück?
Volkholz: Zum einen bekommen die Lesepaten die strahlenden Kinderaugen, das ist die Hauptsache. Sie freuen sich immer, wenn sie in die Schule kommen. Die Begeisterung der Kinder ist eine emotionale Rückmeldung, von der sie sehr profitieren. Zum anderen bauen wir eine richtige Anerkennungskultur auf. Nicht nur, dass wir den Paten Fortbildungen anbieten, mit einem kleinen angenehmen Beisammensein hinterher, wir haben auch eine Menge Institutionen in der Stadt, die uns die Türen aufmachen. Wir bekommen Führungen im Bundestag angeboten, wir haben Musikangebote, Philharmoniker, die drei Opern, deutsches Symphonieorchester, Theater, staatliche Museen zu Berlin. In der Regel stellen sie uns das kostenlos zur Verfügung. Beispielsweise werden Generalproben für die Lesepaten geöffnet, einfach weil sie unser Engagement so gut finden und das bürgerschaftliche Engagement fördern wollen.
Maywald: Inwieweit werden die Eltern der Kinder einbezogen?
Volkholz: Wir empfehlen den Schulen, die Eltern einzubeziehen, die Akteure sind aber die Schulen selbst. Die meisten machen es so, dass die beiden ehrenamtlichen Koordinatoren, die wir immer haben, auf eine Gesamtelternversammlung eingeladen werden. Meistens nehmen die Lehrkräfte die Lesepaten auf einen Klassenelternabend mit, damit die Eltern sie kennen lernen können.
Maywald: Die Organisation bürgerschaftlichen Engagements erfordert ein professionelles Management. Worin besteht Ihre Tätigkeit?
Volkholz: Unsere Haupttätigkeit ist die Vermittlung der Lesepaten an die Schulen. Jeder Lesepate, der zu uns möchte, kommt in die Datenbank. Wir pflegen natürlich auch eine Datenbank für die Schulen. Außerdem registrieren wir alle Veränderungen, wenn ein Lesepate aufgibt, eine Schule einen neuen Lesepaten braucht usw. oder eine neue Schule in das Projekt einsteigen will. Dann suchen wir nach Lesepaten, die für diese Schule in Frage kommen. Wir fragen bei jedem Lesepaten, den wir aufnehmen, wo er wohnt, aber auch, wo er bereit ist, hinzufahren.
Maywald: Wir wählen Sie die Lesepaten aus?
Volkholz: Zunächst werben wir vor allem über die Presse. Wir haben keinen eigenen Qualitäts-Check. Der Qualitäts-Check erfolgt in den Schulen. Wir telefonieren mit den Lesepaten, erfassen ihre Daten, fragen, wie viel Zeit sie zur Verfügung stellen wollen. Das Minimum liegt bei einmal in der Woche zwei Stunden, und man muss sich für ein Jahr verpflichten. Beim Schulstart stellen sich die Lesepaten vor. Wir weisen die Schulen darasuf hin, dass sie selbst die Eignung der Lesepaten prüfen müssen. Bisher haben wir ca. 15 Leute rausgenommen, weil es Probleme gab. Das ist meiner Meinung nach aber bei 1600 Leuten ein Schnitt, der dieses Vorgehen rechtfertigt.
Maywald: Auf welche minimalen Standards in punkto Qualität sollten die Schulen achten?
Volkholz: Das Ehrenamt per se bewirkt schon eine ziemliche Auswahl, vor allem zieht es Menschen mit guter Bildung an. . Voraussetzung ist, dass die Menschen Kinder respektvoll behandeln und zuverlässig sind.
Maywald: Welche besonderen Anforderungen bestehen bei der Vermittlung von Lesepaten in Kindertagesstätten?
Volkholz: Diejenigen Paten, die in die Kita gehen, lesen vor. Ansonsten ist das Vorgehen ähnlich wie in der Schule, die Erzieherinnen und die Leitung schauen sich die Lesepaten an – das sind meistens nur ein, zwei Leute, die zum Vorlesen kommen. Dann ist beispielsweise Freitag Vorlesetag, wo jemand durch verschiedene Gruppen geht. In den Kitas wird anders und in viel kleinerem Maßstab gearbeitet als bei den Großen. Die Lesepaten sind dann im Prinzip so wie Oma oder Opa, die zum Vorlesen kommen. In der Regel sind das ja Ältere. Natürlich schaut sich unsere Koordinatorin die Lesepatin an, geht mit ihr in die Kita, und die Kita wird eine Rückmeldung geben.
Maywald: Welche Effekte für die Entwicklung von Kindergärten und Schulen erhoffen Sie sich durch das Projekt?
Volkholz: Bei den Schulen kann ich es schon beobachten und ich hoffe, dass es bei den Kindertagesstätten auch eintrifft: Ich sehe, dass die Schulen sich zum gesellschaftlichen Umfeld öffnen. Dass sie es für selbstverständlicher halten, andere Kompetenzen in die Schule zu holen. Dass Schulen es selbstverständlicher finden, Kooperationen mit sozialen und kulturellen Einrichtungen in ihrem Umfeld einzugehen.
Maywald: Welche Botschaft vermittelt Ihr Projekt in die Gesellschaft hinein?
Volkholz: Zum einen, dass es eine Verantwortung dafür gibt, dass eine Gesellschaft sich um den Nachwuchs kümmert, und nicht nur meint, das macht der Staat. Und zum anderen als wichtigste Botschaft, dass es viel Freude macht, sich um Kinder zu kümmern. Dass eine solche Verantwortungsübernahme nicht nur eine Verpflichtung ist, sondern auch viel Rückmeldung bereithält. Der allergrößte Teil der Leute, die bei uns in die Schulen gehen, ist zufriedener als vorher. Die sagen, ich freue mich auf den Mittwoch, wenn ich in die Schule gehe. Die bringen gute Laune in die Einrichtung.
Maywald: Stimmen die Rahmenbedingungen, um solches Engagement zu ermöglichen?
Volkholz: Es gibt eine Frage, die immer wieder gestellt wird: unsere Lesepaten sind versichert. Das hat das Land Berlin geregelt. Was man sicherlich noch machen könnte, ist eine bessere Darstellung auf Homepages. Hier könnte besser auf unsere Arbeit hingewiesen werden. Es könnten auch noch mehr Schulen angeregt werden, mit anderen Partnern zu kooperieren, aber ansonsten ist in letzter Zeit schon viel passiert. Es gibt auf Seiten der Politik eine große Bereitschaft zu sagen, dass wir freiwillige und ehrenamtliche Unterstützung brauchen. Es ist auch ein gutes Zeichen, dass wir in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum so wachsen konnten. Und der VBKI kümmert sich sehr verlässlich und verbindlich darum, dass wir finanziert werden. Also uns geht’s hier gut!
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