fK 5/05 Simoni

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Partizipation von Kleinkindern in Kindergruppen

von Heidi Simoni

„Erleiden“ Kleinkinder ihren Alltag oder partizipieren sie daran? Das Verhältnis von aktiver Teilnahme und passivem Ausgeliefertsein lässt sich auf verschiedenen Ebenen ausloten. Sicher ist, dass Kinder von Geburt an aktive Beziehungspartner sind und sich in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt entwickeln. Sie können ihre Bedürfnisse, ihr Befinden, ihre Zuneigung und Abneigung unmittelbar eindrücklich und ausdrucksstark einbringen. Hingegen können sie sich und ihre Interessen nicht auf einer Metaebene vertreten. Die Rahmenbedingungen eines konkreten Kinderalltags werden – je jünger die Kinder sind desto ausschliesslicher – von Erwachsenen gesetzt. Bei ihnen liegt die Verantwortung, bereits Kleinkindern Beteiligung und Teilhabe am Alltag zu ermöglichen. Nicht zuletzt deshalb muss die institutionelle Betreuung von Kleinkindern auch unter diesem Aspekt ein Thema sein, das Eltern und Fachpersonen beschäftigt.

Verschiedene Perspektiven auf die Beteiligung von Kleinkindern
Historische Schatten

Die Fokussierung auf die mittlerweile unbestrittene Wichtigkeit mindestens einer verlässlichen Bezugsperson für die gesunde Entwicklung von Kleinkindern hatte unterschiedliche Folgen. Sie führte auch dazu, dass die Betreuung von Kindern durch ihre Mutter mit riesigen Erwartungen belastet wurde. Dies lieferte wiederum Zündstoff für die wenig ergiebige Frage nach der grundsätzlichen Schädlichkeit institutioneller Betreuung, die während einer beträchtlichen Zeit die Auseinandersetzung mit Familien ergänzenden Einrichtungen beherrschte. Auswirkungen davon zeigen sich bis heute in der moralischen Verschärfung von Klippen, die Eltern bei der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienalltag meistern müssen. Die Fachwelt beschäftigt sich allerdings kaum noch mit der Frage, ob Familien ergänzende Betreuung kleinen Kinder per se schade. Vielmehr werden Anforderungen an die Qualität von Kindertagstätten oder an die Kombination verschiedener Betreuungsarrangements untersucht und diskutiert.

Trotzdem weisen auch aktuelle pädagogische Debatten Spuren des skizzierten historischen Schattens auf. So ist die Frage nach einer angemessenen Partizipation von Kleinkindern in Kindergruppen eng verknüpft mit der Einschätzung, ab wann Kinder für Kinder wichtig werden. Für die frühe Kindheit tendiert die Antwort meist dahin, dass Kind-Erwachsenen-Beziehungen erstrangig seien. Trotz differenzierterer Erkenntnisse hält sich diese einseitig wertende Gewichtung hartnäckig.

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden unterschiedliche Hypothesen zur Bedeutung des Erwachsenen-Kind- und Kind-Kind-Kontextes mit Blick auf Kleinkinder formuliert und überprüft. Eine Hypothese ging von einer zeitlichen Abfolge aus und schrieb der Erwachsenen-Kind-Beziehung dabei die vorrangige, prägende Bedeutung gegenüber der Kind-Kind-Beziehung zu (Vorläufer-Hypothese). Eine zweite Hypothese postulierte eine weitgehende Unabhängigkeit beider Kontexte für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und betonte deren differentielle Bedeutung für den Erwerb spezifischer Kompetenzen (Unterschied-Hypothese). Eine dritte Hypothese schliesslich unterstrich, dass die beiden Lernfelder viele Übereinstimmungen aufweisen und neu erworbene Verhaltensweisen zeitgleich beobachtbar sind (Gemeinsamkeit-Hypothese).

Die Vorläufer-Hypothese hielt der empirischen Überprüfung in ihrer einseitigen Form nicht stand. Die Gemeinsamkeit- und die Unterschied-Hypothese haben hingegen beide ihre Berechtigung. Die erste beleuchtet das Erlernen grundlegender sozialer Fertigkeiten, die zweite lenkt den Blick auf spezifische soziale Erfahrungen und daraus resultierende Kompetenzen. In einer Untersuchung zeigte sich, dass Mütter häufig die Interaktionen mit ihren Kleinkindern kontrollierten, während die Dialoge bei Kinderpaaren ausgeglichener waren. Beides ermöglicht und verhindert jeweils andere Erfahrungen. Im Kontakt mit Gleichaltrigen können Kleinkinder vermutlich ihren Beitrag zum Gelingen und Misslingen von Interaktionen unmittelbarer erfahren als mit Erwachsenen.

Die Beschäftigung mit der sozialen Kinderwelt von Zweijährigen zeigt eindrücklich, dass Kinder bereits in diesem Alter mehr als flüchtiges oder zufälliges Interesse aneinander haben und von vertrauten Kinderbeziehungen profitieren. Der regelmäßige Kontakt mit anderen Kindern bietet bereits früh einmalige Chancen, um über sich, über andere und über das Funktionieren von Beziehungen zu lernen.

Pädagogische Entscheide

Die Frage nach der Bedeutung, die Kinder bereits für Kleinkinder haben, ist heute gesellschaftlich brisanter denn je, weil sich Kinderkontakte besonders für die Kleinsten nicht mehr „automatisch“ ergeben. Einerseits wachsen viele Kinder ohne Geschwister auf und/oder leben in einer Wohnumgebung, die es ihnen nicht erlaubt, aus eigener Initiative andere Kinder kennen zu lernen und interessante Kontakte zu pflegen. Andererseits werden eben eine stetig wachsende Anzahl von Kleinkindern in einem institutionellen Rahmen zusammen mit vielen andern Kindern betreut, was mit strukturellen und pädagogischen Entscheiden verbunden ist.

Ein Beispiel stellt die fachliche Gewichtung von Chancen und Risiken altersgemischter Kindergruppen dar. Konkret geht es um die Gestaltung des Alltags, der es den Kleinsten ermöglichen soll, sich wohl zu fühlen und altersadäquat sozial zu beteiligen. Unterschiedliche Ausgangslagen in Deutschland und in der Schweiz führten dabei zu unterschiedlichen Vorzeichen der Diskussion: Erstens sind in der Schweiz Gruppen in Kindertagesstätten tendenziell kleiner als in Deutschland. Zweitens wird der Wechsel von den Kleinen zu den Grossen in beiden Ländern zu einem anderen Zeitpunkt vollzogen. Die deutschen Spezialist(inn)en für den Frühbereich warnen davor, dass die Bedürfnisse der Jüngeren unter die Räder geraten und ihre Entwicklung leiden kann, wenn die unter Dreijährigen in Gruppen mit Vorschulkindern integriert werden. Diese Gefahr bestehe besonders dann, wenn die Gruppen gross und/oder das Personal für die Betreuung von Kleinkindern mangelhaft ausgebildet seien. Frühbereichfachleute aus der Schweiz argumentieren hingegen gegen den Ausschluss der Kleinsten aus der sozialen Kinderwelt. Die so genannten Säuglingsgruppen werden als entwicklungshemmend beurteilt, weil der Wechsel von den Kleinen zu den Grossen in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs in einer dafür äusserst heiklen Entwicklungsphase erfolgt. Ausserdem weise diese Gruppenform mit Kindern bis maximal 2-jährig eine zu beschränkte Entwicklungsspanne auf.

Die Beobachtungsstudie des Marie Meierhofer-Instituts
Die Anlage der Untersuchung

In einer Untersuchung des Marie Meierhofer-Instituts für das Kind sollte die Beteiligung von Kleinkindern im Alltag von Kindertagesstätten quantitativ und qualitativ erforscht werden. Dafür wurde das Verhalten von Kleinkindern ab Ende des ersten Lebensjahrs bis nach dem zweiten Geburtstag in Kindergruppen von 16 Kindertagesstätten der Region Zürich regelmässig beobachtet. Bezogen auf die Kleinsten, also die Zielkinder der Untersuchung, war von Interesse,
(1) ob und in welchem Ausmaß sie sich im Kontakten mit Erwachsenen und mit Kindern engagieren, wenn Gelegenheit zu beidem besteht;
(2) wie sie in Kindergruppen partizipieren und welches ihre Themen und ihre Beiträge im Kontakt mit Kindern und mit Erwachsenen sind.

28 Kinder (17 Mädchen und elf Knaben) wurden in die Untersuchung aufgenommen. Ihre individuelle Entwicklung verlief unauffällig. 15 Kinder hatten zum Zeitpunkt der ersten Beobachtung mindestens ein älteres Geschwister, 13 waren beim Eintritt in die Studie Einzelkinder. Der soziodemografische Hintergrund der Familien war gemischt. Mehrheitlich gehörten sie allerdings zur Mittelschicht und stammten aus dem deutschsprachigen Raum. Zum Zeitpunkt der ersten Beobachtung war die Eingewöhnungszeit der Kinder in die Krippe abgeschlossen.

Jedes der 28 Zielkinder wurde vom neunten bis zum 25. Lebensmonat im Abstand von zwei Monaten während 30 Minuten im freien Spiel gefilmt. Beobachtet wurden mit dem Zielkind jeweils alle andern anwesenden Kinder und Erzieherinnen. Das Alter der Kontaktkinder lag zwischen sechs Monaten und sechs Jahren. Während einer Beobachtungseinheit waren im Durchschnitt sieben Kinder anwesend.

Die Erzieherinnen wurden aufgefordert, sich ‚so wenig wie möglich und so viel wie nötig’ in das Geschehen zwischen den Kindern einzumischen. Die Kinder ihrerseits hatten jederzeit die Möglichkeit, mit den Erwachsenen in Kontakt zu treten. Die Gruppenleiterin lieferte zu jedem Erhebungszeitpunkt Angaben zur Zusammensetzung der Kindergruppe und füllte zum Zielkind einen Fragebogen zu dessen Verhalten aus. Zusätzlich wurden auch Daten in der Familie und zur individuellen sozialen Entwicklung der Kinder erhoben. Die folgenden Ausführungen beschränken sich jedoch auf die Beobachtungen in der Krippe.

Von den möglichen 252 Aufnahmen (neun Zeitpunkte mal 28 Zielkinder) standen 239 Filme à 30 Minuten zur Auswertung zur Verfügung. Mit Hilfe einer speziellen Software wurde fortlaufend festgehalten, welche Verhaltenskategorie aus einer vorgegebenen Auswahl beim Zielkind beobachtbar ist. Zu Grunde lag der Auswertung das Konzept der ‚geteilten/nicht geteilten Bedeutungen’, wie es u.a. auch Viernickel verwendet hat. Ihre Themenliste wurde leicht modifiziert und erweitert, damit sie den Interessen und dem Entwicklungsstand der jüngeren Kinder gerecht wird. Neu eingeführt wurde zum Beispiel die Kategorie ‚Exploration Subjekt’, weil das handfeste Untersuchen des Gegenübers bei den Kleinsten regelmässig beobachtbar war. Entsprechend der nahtlosen Anlage der Auswertung wurde das Manual ausserdem so ergänzt, dass erfasst werden konnte, wann und womit sich das Zielkind alleine beschäftigte. Zur näheren Beschreibung jeder Verhaltenseinheit wurden Auftreten und Ablauf einzelner Ereignisse notiert (z.B. lächeln, Objekt anbieten, schlagen etc.). Für jede thematische Einheit wurden der Zeitpunkt und Dauer des Auftretens und gegebenenfalls die involvierten Partner(innen) festgehalten. Insgesamt wurden über die knapp 120 Stunden Filmmaterial rund 13.000 Verhaltenseinheiten unterschieden.

Dabei sein – bezogen sein – für sich sein

Soziale Beteiligung und Teilhabe erfordern neben dem Zugang zu Ressourcen auch individuelle Fertigkeiten. In der Züricher Untersuchung wurde dabei von einem Konzept sozialer Kompetenz ausgegangen, das nicht die willentliche Kontrolle des eigenen Verhaltens in der Vordergrund rückt, sondern die Fähigkeit, sich altersgemäß in Beziehungen einzubringen und diese zu nutzen, ohne dabei jemandem zu schaden. Diese Definition schliesst auch die Fähigkeit ein, sich zurückzuziehen, ohne sich damit zu isolieren. Zur Beantwortung der Frage nach dem Ausmass des Kontakts zu Kindern und zu Erwachsenen wurden die erfassten Verhaltenskategorien deshalb einer von drei Gruppen zugeordnet:

Interaktive Sequenzen:Das Zielkind interagiert direkt mit einem oder mehreren Partnern. Die Bedeutung des Themas kann geteilt sein oder auch nicht (komplementäres imaginatives oder konstruktives Spiel, exploratives Verhalten, etc.)

Bezogene Sequenzen: Das Zielkind interagiert nicht direkt, ist aber auf eine oder mehrere andere Personen bezogen. Hier kann die Bedeutung bei einigen Kategorien ‚geteilt’ oder ‚nicht geteilt’ sein (z.B.: ‚parallel spielen’), bei einigen Kategorien ist sie hingegen als ‚nicht geteilt’ definiert (z.B. ‚beobachten’).

Nicht interaktive Sequenzen: Das Zielkind beschäftigt sich alleine für sich. Es teilt kein Thema direkt oder indirekt mit einer anderen Person.

Nimmt man den Anteil an der Gesamtdauer der Beobachtungen als Bezugsrahmen, so machten die interaktiven Sequenzen 24 Prozent, die bezogenen 40 Prozent und die nicht interaktiven 35 Prozent aus. Ein Prozent der Aufnahmezeit wurde als nicht auswertbar taxiert. Das bedeutet, dass die Zielkinder fast zwei Drittel der gesamten Beobachtungszeit entweder im direkten Kontakt oder sozial bezogen auf andere anwesende Personen waren. Etwas mehr als ein Drittel der Zeit waren sie mit sich selbst beschäftigt. Es zeigte sich dabei, dass sich die Anteile der drei Aktivitätstypen im Zeitraum zwischen dem neunten und 25. Monat nicht dramatisch veränderten. Am meisten nicht interaktives Verhalten zeigten die Kinder im Alter zwischen zehn und 14 Monaten, also dann, wenn sie mit Gehen lernen und üben beschäftigt waren.

Andere Kinder und Erwachsene

Die Analysen zum Verlauf des interaktiven Verhaltens zeigten, dass die Kleinkinder nur zu Beginn des untersuchten Zeitraums ausgedehnter im Kontakt mit Erwachsenen als mit Kindern waren. Bereits kurz nach dem ersten Geburtstag waren Interaktionen mit einzelnen oder mehreren Kindern zusammen genommen ebenso häufig oder sogar häufiger. Der zeitliche Anteil von Kontakten mit Erwachsenen erreichte zwischen 14 und 18 Monaten die tiefsten Werte. Die dyadischen Kontakte mit einem einzelnen Kind nahmen ab dem Alter von zwölf Monaten in der Tendenz kontinuierlich zu. Sie wuchsen also mit dem Erwerb gewisser kognitiver Fähigkeiten und der verbalen Sprache nicht sprunghaft an. Der Anteil von Kontakten mit mehreren Personen gleichzeitig zeigte hingegen einen unsteteren Verlauf, mit einem markanten Tiefpunkt bei den Eineinhalbjährigen.

Es lässt sich vermuten, dass Kleinkinder in dieser Phase mentaler Entwicklung, die typischerweise auch mit gewissen Verunsicherungen einhergeht, allzu komplexe soziale Situationen eher nicht suchen.

Thematisch zeigten sich während des gesamten Untersuchungszeitraums vom neunten bis zum 25. Lebensmonat Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Erwachsenen-Kind- und Kind-Kind-Interaktionen: während Pflegen, Helfen, Trösten etc. bei ersteren im Vordergrund standen, waren es bei Kinderkontakten Spielen (in entwicklungsabhängigen Formen), Austausch von Gegenständen und – bereits früh – auch Konflikte. Mit Interesse beobachtet wurden hingegen Erwachsene ebenso wie Kinder und ganz besonders häufig gemischte Gruppen, also Gruppen mit (meist) älteren Kindern und einer Erzieherin.

Das Filmmaterial belegt für jedes der Kinder eindrücklich, wie sich ausgehend vom gegenseitigen Interesse und viel Neugier über unzählige freud- und leidvolle Erfahrungen persönliche intensive Beziehungen zwischen Kleinkindern unter zwei Jahren entwickeln.

Ausblick

Schon kleine Kinder tragen zum sozialen Reichtum von Kindertagesstätten bei und haben daran teil. Wie später auch wird ihre Partizipation von strukturellen, individuellen und sozialen Merkmalen der Situation beeinflusst. Kontakte mit Kindern und mit Erwachsenen beinhalten Unterschiedliches und ermöglichen andere Erfahrungen. Die bisherigen Analysen stützen außerdem die Erkenntnis, wonach sich sehr früh Vorlieben zwischen Kindern zeigen und vertrauten Beziehungen eine wichtige Bedeutung zukommt.

Ausgehend vom vorhandenen umfangreichen Beobachtungsmaterial werden momentan drei inhaltliche Schwerpunkte bearbeitet: Ein erster gilt dem Verhalten von Kleinkindern in Konflikten, ein zweiter beschäftigt sich mit den Wurzeln prosozialer Kompetenzen. In einer dritten Arbeit schliesslich wird untersucht, auf welche Weise die jeweils Klein(er)en zum Gelingen von Interaktionen beitragen.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Heidi Simoni ist Psychologin und Leiterin der Praxisforschung am Marie Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich

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