29 Jul fK 5/05 Fegert
Information und Partizipation von Kindern und Jugendlichen bei Behandlungsentscheidungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
von Jörg M. Fegert
Die Forderung nach Behandlung wird in den letzten Jahren zunehmend diskutiert. Anders als bei der Behandlung Erwachsener, bei der im Regelfall partnerschaftliches Entscheiden zwischen Arzt und Patient allgemein akzeptiertes Vorgehen ist, ist die Situation minderjähriger Patienten deutlich komplexer. Behandlungsentscheidungen werden vor dem Hintergrund häufig differierender Interessengruppen getroffen – Kinderrechte stehen neben elterlichen Erziehungspflichten, staatlichem Wächteramt sowie ärztlichem Behandlungsauftrag. Da die Entscheidungskriterien der verschiedenen Parteien sehr unterschiedlich ausfallen können, sind Interessenkonflikte nicht auszuschließen. Die Beteiligung von Kindern wird dabei leicht übersehen.
Im angloamerikanischen Raum wird die Ethikdiskussion in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie und der Kinderheilkunde insbesondere von der Frage nach der kindlichen Kompetenz zu autonomer Einwilligung dominiert. Dabei geht es darum, ob und unter welchen Voraussetzungen Minderjährigen ein Recht auf Selbstbestimmung im Rahmen medizinischer Behandlung einzuräumen ist. Verbunden mit dem Modell des „Informed Consent“ sind in diesem Zusammenhang eine Reihe entwicklungspsychologischer Arbeiten durchgeführt worden, die sich vornehmlich mit dem Einfluss kognitiver Faktoren auf den Prozess der Entscheidungsfindung beschäftigen. Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass bereits 14-Jährige im Hinblick auf die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, so kompetent sind wie Erwachsene und entsprechende Rechte erhalten sollten. Überzeugender Kritikpunkt an diesem Untersuchungsansatz ist dessen Begrenztheit auf die Betrachtung kognitiver Faktoren sowie die fehlende Einbeziehung kontextueller und insbesondere psychosozialer Größen, die reifes Urteilen ganz entscheidend beeinflussen.
Neben der Kompetenz minderjähriger Patienten ist eine weitere, unserer Meinung nach weitaus wichtigere Frage die nach Partizipationsrechten von Kindern und Jugendlichen im Rahmen medizinischer Behandlung – eine Forderung, die auch in Artikel 12 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgeschrieben steht. Artikel 12 garantiert jedem Kind, das fähig ist, sich eine Meinung zu bilden, das Recht, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten zu äußern. Er fordert ferner, dass die Meinung des Kindes bei der Entscheidungsfindung entsprechend Alter und Reife des Kindes berücksichtigt wird.
Anders als die rechtswirksame Ausübung autonomer Handlungen ist Partizipation, verstanden als Mitsprache ohne Inanspruchnahme der Verantwortung für die Entscheidung, nicht an Voraussetzungen gebunden: sobald Kinder in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auszudrücken, ist Partizipation möglich. Herauszufinden, wie viel Beteiligung, Information und Unterstützung vom jeweiligen Kind oder Jugendlichen gewünscht wird, ist die Aufgabe Erwachsener. Auch eine Entscheidung gegen Partizipation oder – im Falle vorhandener Kompetenz – gegen die selbständige Ausübung der Autonomie, ist zu respektieren. Grundvoraussetzung von Partizipation ist jedoch die Bereitstellung und kindgerechte Vermittlung notwendiger Informationen über die bestehenden Möglichkeiten und die jeweils daraus folgenden Konsequenzen, die das Kind erst in den Stand versetzen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Partizipation bzw. Teilhabe ist jedoch, und darin liegt die Schwierigkeit, ein relatives Konzept, dessen Interpretationsbreite von der Bereitstellung minimaler Informationen bis hin zu beinahe völliger Eigenentscheidung reicht. Wie viel Teilhabe im individuellen Fall ermöglicht, gefördert, vorenthalten oder entzogen wird, verbleibt in der Kontrolle Erwachsener. Genau dieser Umstand birgt jedoch die Gefahr in sich, dass Partizipation als Scheinbeteiligung gehandhabt wird oder als Vorwand dafür missbraucht wird, kompetenten Minderjährigen Autonomie zu verwehren.
Neben dieser theoretischen Auseinandersetzung mit den Konzepten von Information, Autonomie und Partizipation lassen sich ferner Auswirkungen von Beteiligung diskutieren, die für die klinische Praxis von Bedeutung sein können. Als Vorteil von Partizipation wird generell betont, dass die Beteiligung Minderjähriger an Entscheidungsprozessen im Rahmen medizinischer Behandlungen zu einer Verbesserung der offenen Kommunikation zwischen den an der Behandlung Beteiligten beiträgt. Der Kommunikation zwischen Arzt und Patient wiederum wird große Bedeutung hinsichtlich der Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung sowie der Compliance und Motivation beigemessen. Je mehr Kinder und Jugendliche über die Behandlung erfahren und auch als aktive Partner einbezogen werden, desto mehr Anstrengung werden sie in die Therapie investieren. Die Einbeziehung an der Zielsetzung und Behandlungsplanung drückt darüber hinaus die Anerkennung der Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen aus. Die aktive Beteiligung liefert ihnen die Möglichkeit, wichtige Lernerfahrungen zu machen und sich weiter zu entwickeln. Partizipation, so ein weiteres Ergebnis, erzeugt bei den Beteiligten ein Gefühl von Kontrolle und trägt damit zur Verbesserung des psychischen Befindens bei. Der Vermittlung von Information wird dabei eine bedeutende Rolle beigemessen.
In Hinblick auf Risiken und Gefahren der Beteiligung an Entscheidungen lautet das Hauptargument, dass Kinder notwendige Behandlungen ablehnen könnten, vor allem, wenn es z. B. um die Entscheidung einer stationären psychiatrischen Behandlung gehe. Besonders bei Adoleszenten wird die Gefahr gesehen, dass sie aufgrund einer altersabhängigen Tendenz, sich gegen Autoritäten aufzulehnen, Behandlungen, die sie als Sanktion wahrnehmen, ablehnen würden. Weiter diskutiert werden die Verstärkung von Angst auf Seiten der Patienten, eine negative Beeinflussung des Selbstkonzeptes oder das Auslösen sich selbst erfüllender Prophezeiungen.
Wie diese Übersicht zu Risiken und Vorteilen von Partizipation verdeutlicht, findet eine Auseinandersetzung mit den Rechten minderjähriger Patienten vor allem in jüngerer Zeit durchaus statt. Untersuchungen, die sich explizit mit der Perspektive von Minderjährigen auseinandersetzen, liegen jedoch nur vereinzelt vor. Da die Sichtweisen von Kindern und Erwachsenen auch hinsichtlich der Annehmbarkeit verschiedener Behandlungsalternativen stark differieren können, ist es dringend geboten, die Meinungen und Ansichten minderjähriger Patienten, die Hauptbetroffene einer stationären Behandlung sind, einzuholen und angemessen zu berücksichtigen. Dies ist im Rahmen unserer Untersuchung (Einzelbefragung von 128 Kindern und Jugendlichen nach ihrer Aufnahme in eine Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie/Psychotherapie) geschehen. Darin werden u.a. die folgenden vier Fragestellungen behandelt, die vornehmlich die Situation der Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie betreffen:
(1) Wie beurteilen Kinder und Jugendliche die Vorbereitung auf die stationäre Behandlung durch Eltern und Ärzte? Zeigen sich bezüglich der Informationspraxis Unterschiede zwischen kindlichen und jugendlichen Patienten?
In Hinblick auf die Frage nach der Informationsvermittlung im Vorfeld einer stationären Behandlung lässt sich aus den subjektiven Angaben der Kinder und Jugendlichen der Schluss ziehen, dass sich die Hälfte der Patienten durch die Eltern eher gut informiert fühlt, sowohl was die Psychiatrie als auch die Dauer des Aufenthaltes betrifft. Immerhin 41 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben jedoch an, von ihren Erziehungsberechtigten eher wenig oder überhaupt nicht über die Psychiatrie und die bevorstehende Behandlung aufgeklärt worden zu sein. Das Alter der Patienten spielt diesbezüglich eine wichtige Rolle: jüngere Patienten fühlen sich durch die Eltern besser informiert als Jugendliche.
Die Nachfrage nach den Vorstellungen von dem, was während des stationären Aufenthaltes passieren wird, verdeutlicht, dass bei den minderjährigen Patienten entweder keine diesbezüglichen Annahmen bestehen oder diese oftmals wenig konkret sind. Dies verstärkt unsere Forderung nach einem kontinuierlichen Prozess der Aufklärung, Partizipation und informierten Zustimmung.
Die Informationsvermittlung durch die überweisenden Ärzte wurde von den minderjährigen Patienten insgesamt weniger gut bewertet als die der Eltern. In Einklang mit diesem Ergebnis steht die Annahme, dass Ärzte häufig die Informationsbedürfnisse ihrer Patienten unterschätzen, wobei die Einstellung der Ärzte einer Informationsvermittlung gegenüber von entscheidender Bedeutung ist. Kinder werden von professionellen Helfern häufig nicht als direkte Adressaten relevanter Informationen betrachtet. Wir konnten feststellen, dass es vor allem die jüngeren Patienten sind, die sich schlechter informiert fühlten.
(2) Werden Kinder und Jugendliche an der Entscheidung über eine stationäre Behandlung beteiligt? Werden die Partizipationsrechte jugendlicher Patienten eher gewahrt als die kindlicher Patienten?
Auf die Frage „Wer hat entschieden, dass du in die Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen sollst?“ gab der Großteil der Patienten (53,6%) an, dass die Entscheidung gemeinsam, mit Beteiligung des Patienten, getroffen wurde. Unter den in dieser Kategorie zusammengefassten Konstellationen machte die Kombination „Eltern, Patient“ den größten Teil aus, gefolgt von „Eltern, Arzt, Patient“.
In einem zweiten Schritt wurde allen Patienten mit Ausnahme derjenigen, die alleine entschieden haben, die Frage gestellt „Hattest du das Gefühl, mitentscheiden zu können?“. Während der Großteil der Kinder und Jugendlichen (52%) diese Frage bejahte, hatten 34% das Gefühl, nicht an der Entscheidung beteiligt gewesen zu sein, darunter deutlich mehr jüngere als ältere Patienten.
(3) Haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen ein Bedürfnis nach Beteiligung an der Entscheidung einer stationären Behandlung? Ist dieses Bedürfnis nach Partizipation bei Jugendlichen größer als bei Kindern?
Von den Patienten, die berichteten, an ihrer Behandlungsentscheidung beteiligt gewesen zu sein bzw. diese sogar selbst getroffen zu haben, bejahten 80% die Frage, ob es ihnen wichtig gewesen sei zu partizipieren. Von denjenigen Patienten, die angaben an ihrer Behandlungsentscheidung nicht partizipiert zu haben, meinten 56% der Kinder und Jugendlichen, dass es für sie wichtig gewesen wäre mitzuentscheiden, darunter deutlich mehr Jugendliche als Kinder. Immerhin 27% der Kinder äußerten, dass sie keinen Wert auf Beteiligung legten, weitere fünf Patienten waren unschlüssig.
(4) Welche Meinungen und Vorstellungen haben minderjährige Patienten in Bezug auf Partizipations- und Selbstbestimmungsrechte?
Wie Behandlungsentscheidungen aus der Perspektive minderjähriger Patienten getroffen werden sollten, lautete eine weitere Fragestellung unserer Untersuchung. Knapp die Hälfte der befragten Kinder und Jugendlichen (45,5%) präferierte gemeinsames Entscheiden, d.h. mit Beteiligung des Kindes. Ca. 30% waren der Meinung, Kinder sollten die Entscheidung den Eltern oder Ärzten überlassen und weitere 22% glaubten, dass Kinder alleine, d.h. autonom, entscheiden sollten.
Auf die Frage, ab welchem Alter minderjährige Patienten bei der Entscheidung über den stationären Aufenthalt mitentscheiden sollten, gab der Großteil der Befragten ein Alter zwischen 14 und 15 Jahren an. Immerhin 18,4% glaubten, dass Partizipation bereits unter acht Jahren möglich sei.
Schließlich wurde gefragt, ab welchem Alter minderjährige Patienten Behandlungsentscheidungen autonom treffen sollten. Etwa die Hälfte nannte das 18. Lebensjahr als unterste Altersgrenze für Kompetenz. 55 Patienten nannten ein Alter unter 18 Jahren, fünf Patienten hielten sogar Kinder unter acht Jahren bzw. Kinder jeden Alters für kompetent.
Ausblick
Im Lichte der klaren Zusicherung in Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention, jedem Kind unabhängig von seinem Alter umfassende Information auch dann zu gewähren, wenn es noch nicht einwilligungsfähig ist, ist es dringend an der Zeit, über Konzepte nachzudenken, mit denen auch Kinder angemessen informiert werden können. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit schriftlichen Informationsmaterialien, die wir bezüglich der Aufklärung über Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter erstellt haben, erschien uns die Entwicklung von Informationsmaterial (Broschüren, Photoserien über den Ablauf einer ambulanten Abteilung etc.) über die Behandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie als dringend geboten, die dann minderjährigen Patienten und deren Eltern im Vorfeld der stationären Aufnahme zur Verfügung gestellt werden könnten.
Der Beitrag ist eine veränderte und stark gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels von J. M. Fegert, K. Wiethoff, I. Dippold, S. Rothärmel und G. Wolfslast, veröffentlicht in: Ch. Brochhausen, H.W. Seyberth, (Hg.): Kinder in klinischen Studien – Grenzen medizinischer Machbarkeit? LITVerlag Münster, pp 2005. ISBN: 3-8258-6152-x
Die gesamte Studie über eine größere Studienpopulation erscheint in diesem Herbst bei Vandenhoeck & Rupprecht als Buch.
Rothärmel S, Dippold I, Wiethoff K, Wolfslast G, Fegert JM (2005 – in Press) Patientenaufklärung, Informationsbedürfnis und Informationspraxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen. ISBN: 3-525-45316-7
Prof. Dr. Jörg M. Fegert ist Kinder- und Jugendpsychiater und ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie in Ulm.
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