fK 5/04 Teubner

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Zur Lebenssituation von Stiefkindern und ihren Familien

von Markus J. Teubner

Stieffamilien sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern haben eine lange Geschichte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Stieffamilien in der Regel eine durch Schicksalsschläge erzwungene Lebensform. Der Gründung ging die Verwitwung eines Elternteils voraus. Der verwitwete Elternteil war gezwungen erneut zu heiraten, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern. In der heutigen Zeit entstehen Stieffamilien freiwillig, meist nach einer Scheidung oder Trennung. Mit der Veränderung der Entstehungshintergründe haben sich auch die Familienstrukturen gewandelt, Stieffamilien bilden heute meist komplexe Familiensysteme.

Trotz steigender Scheidungszahlen wurde Stieffamilien in der Forschung lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Aus dem Bereich der Psychologie und Familientherapie gibt es zwar einige qualitative Studien, es fehlt jedoch an repräsentativen Studien, die eine allgemeine Einschätzung der Lebenssituation von Stieffamilien erlauben. Die amtliche Statistik tut sich sehr schwer Schätzungen abzugeben, denn traditionelle Zugänge, wie Haushaltsumfragen ohne haushaltsübergreifende Netzwerkinformationen, greifen zu kurz, weil Stieffamilien in der Regel mehrere Haushalte umfassen und eine heterogene Geschichte haben.

Mit dem hier vorgestellten Projekt „Stieffamilien in Deutschland“ wurde für Deutschland eine Lücke in der Sozialberichterstattung geschlossen. Anhand der Daten des DJI Familiensurveys (ca. 10.000 Befragte) wurde die Lebenssituation von Stieffamilien systematisch beschrieben und erstmals Hochrechnungen zur Häufigkeit von Stiefkindern und deren Familien angestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass es in Deutschland deutlich weniger Stieffamilien gibt als bisher vermutet wurde. Zur Untersuchung des familieninternen Beziehungsgeflechtes wurden im Sommer 2001 insgesamt 60 Stiefkonstellationen befragt und das gesamte erweiterte Familiennetzwerk erhoben. Hierfür wurden jeweils bis zu vier Personen einer Stiefkonstellation interviewt (leibliches Elternteil, Stiefelternteil, externes leibliches Elternteil und Kinder, sofern sie älter als acht Jahre sind). Dies ist die erste Untersuchung in Deutschland, mit der Stiefkonstellationen aus der Sicht der Mitglieder mindestens zweier beteiligter Haushalte untersucht werden, und in der sowohl die Perspektive erwachsener Akteure als auch die von Kindern enthalten ist.

Vielzahl der Familienformen

Der Begriff Stieffamilie umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Familienformen mit zum Teil nur einer Gemeinsamkeit: Zu den beiden leiblichen Elternteilen tritt mindestens ein sozialer Elternteil hinzu, oder ein verstorbener Elternteil wird durch einen sozialen gewissermaßen ersetzt. Deswegen macht es wenig Sinn, von „der“ Stieffamilie zu sprechen. Berücksichtigt werden sollte auch, dass sich viele Familien mit nichtleiblichen Eltern gegen den Begriff Stieffamilie wehren. Sie verstehen sich als „richtige“ Familie, die Bezeichnung Stieffamilie wird von ihnen als negatives Urteil verstanden.

Stiefkonstellationen

Anders als die traditionelle Kernfamilie erstrecken sich Stieffamilien oft über mehrere Haushalte. Es gibt zum einen die Alltagsfamilie, das ist der Haushalt, in dem das Kind mit seinem leiblichen Elternteil wohnt und in dem es die meiste Zeit lebt. Daneben existiert oft der Haushalt des außerhalb lebenden Elternteils, den das Kind in den Ferien oder an den Wochenenden besucht, die Wochenendfamilie. Soziale Elternteile können in beiden Haushalten hinzutreten.

Eine Stiefkonstellation ist dann gegeben, wenn ein Kind bei einem leiblichen Elternteil lebt und mindestens eines der leiblichen Elternteile eine neue Partnerschaft eingegangen ist. Diese Definition schließt sowohl verheiratete Paare, nichtehelich zusammenlebende Paare als auch Paare mit getrennten Haushalten (Living-Apart-Together) ein. Dabei ist es unerheblich, ob das Elternteil, mit dem das Kind zusammenlebt, eine neue Beziehung eingeht oder ob dies das außerhalb lebende Elternteil tut.

Auch wenn man die Alltagsfamilie in den Vordergrund der Betrachtung stellt, findet sich eine große strukturelle Vielfalt, die sich kaum vernünftig systematisieren lässt. Häufig werden solche primären Stieffamilien danach unterschieden, welcher Partner Kinder in die Beziehung einbringt. In diesem Fall lassen sich drei Typen von Stieffamilien gegeneinander abgrenzen:

(1) In Einfachen Stieffamilien bringt ein Partner Kinder in die Beziehung ein, ohne dass weitere gemeinsame Kinder im Haushalt leben – es gibt ein leibliches Elternteil und ein Stiefelternteil.

(2) In Zusammengesetzten Stieffamilien bringen beide Partner Kinder in die Beziehung ein, ohne dass weitere gemeinsame Kinder im Haushalt leben – beide Elternteile sind zugleich leibliche Elternteile als auch Stiefelternteile.

(3) In Komplexen Stieffamilien treten zu den Stiefkindern gemeinsame leibliche Kinder hinzu. Dieser Familientyp kann entweder aus einer Einfachen oder einer Zusammengesetzten Stieffamilie hervorgehen.

Als Unterscheidungskriterien können außer der Kinderkonstellation aber auch die Partnerschaftsform und das Geschlecht des Stiefelternteils benutzt werden. So lassen sich eheliche und nichteheliche Stieffamilien sowie Stiefmutter- bzw. Stiefvaterfamilien unterscheiden. Kombiniert man die genannten Kriterien, gelangt man zu zehn Typen primärer Stiefhaushalte.

Diese strukturelle Vielfalt stellt zum einen ein Problem für die Erforschung von Stieffamilien dar und macht auf der anderen Seite deutlich, dass es „die“ Stieffamilie nicht gibt. Häufige Konstellationen sind eheliche komplexe sowie eheliche einfache Stieffamilien und nichteheliche einfache Stieffamilien.

Selbstdefinition der Stieffamilie

Stieffamilien unterscheiden sich nicht nur in ihrer tatsächlichen Struktur, sondern auch in ihrer Selbstdefinition. Sie antworten unterschiedlich auf die Frage, wer eigentlich zur Familie gehört, es gibt unterschiedliche Kommunikationsmuster und Konfliktpotentiale. Idealtypischerweise lassen sich drei Arten von Stieffamilien voneinander abgrenzen.

Die Als-ob-Normalfamilie

Stieffamilien diesen Typs verstehen sich als Kernfamilien und negieren ihre stieffamilialen Besonderheiten, was sich vor allem an der Ausgrenzung des leiblichen Vaters manifestiert. Das Familienklima wird in der Regel von allen als harmonisch erlebt. Familien dieses Typs können funktionieren, wenn das Kind keinen Kontakt zum außerhalb lebenden Vater sucht und auch der leibliche Vater seinerseits keinen Kontakt möchte bzw. den Kontaktabbruch akzeptiert. Problematisch ist dieser Typus dann, wenn beispielsweise Mutter und Stiefvater die Familie quasi als Kernfamilie erleben, das Kind diese Familiendefinition aber nicht teilt.

Die gescheiterte Stieffamilie

Für diesen Typus ist charakteristisch, dass die Integration des Stiefvaters in die Familie misslungen ist. Auch nach längerer Zeit akzeptiert das Kind den Stiefvater weder als väterlichen Freund noch als Partner der Mutter. Unter den dauernden Konflikten leidet das Familienleben und letztlich auch die Beziehung zwischen den Partnern, so dass eine Trennung der (Stief-) Eltern oder die Ausgrenzung des Kindes (z.B. durch Unterbringung in einem Internat) unausweichlich wird. Der leibliche Vater spielt im Familiennetzwerk in der Regel keine Rolle.

Die erweiterte Stieffamilie

Dieser Typus der Stieffamilie zeichnet sich durch erweiterte Familiengrenzen und ein intensives haushaltsübergreifendes Kommunikations- und Interaktionsgeschehen aus. Der Stiefelternteil – und häufig auch seine Herkunftsfamilie – sind in die Fortsetzungsfamilie integriert. Gleiches gilt für den außerhalb lebenden leiblichen Vater und dessen Eltern. Jeder hat das Vertrauen, sich in schwierigen Situationen auf die Hilfe der anderen Familienmitglieder verlassen zu können. Die erweiterte Stieffamilie bietet Kindern nicht zuletzt aufgrund ihrer Größe besondere Entwicklungschancen und erlaubt es, die Kinderbetreuung auf mehrere Personen (leibliche Eltern, Stiefeltern, Großeltern etc.) zu verteilen.

Die Beziehung zum außerhalb lebenden Vater

Weil Stieffamilien heute überwiegend durch eine Trennung oder Scheidung der Eltern entstehen, gibt es in den meisten Familien neben dem leiblichen Elternteil, das mit dem Kind in einem Haushalt lebt, und dem dazugekommenen Stiefelternteil noch das zweite leibliche Elternteil, das woanders lebt. Dieses Elternteil wird im folgenden als außerhalb lebendes oder externes Elternteil bezeichnet.

Stiefkinder sind heute in der Regel mit zwei Vätern konfrontiert. Klinische Studien betonen, dass es für die Entwicklung von Kindern prinzipiell wichtig ist, die Beziehung zum außerhalb lebenden Elternteil aufrechtzuerhalten. Sie verdeutlichen aber auch Probleme, die damit verbunden sein können, wie zum Beispiel Loyalitätskonflikte des Kindes oder Konflikte zwischen den leiblichen Eltern.

Wie die Ergebnisse der Studie zeigen, hat ein beachtlicher Anteil der Stiefkinder, der eine Trennung oder Scheidung erlebt hat, keinen Kontakt mehr zum außerhalb lebenden Vater (32%). Etwa gleich viele sehen ihren leiblichen Vater nur sporadisch (mehrmals im Jahr), 29% sehen ihn mehrmals im Monat und nur jedes zehnte Stiefkind sieht den leiblichen Vater häufiger, nämlich mehrmals die Woche bzw. täglich. Der Vergleich mit Kindern Alleinerziehender zeigt, dass Stiefkinder ihren leiblichen Vater nicht nur seltener sehen, sondern auch häufiger keinerlei Kontakt mehr zu ihm haben.

Insgesamt lassen sich verschiedene Faktoren ausmachen, welche die Kontaktwahrscheinlichkeit beeinflussen. Ein negativer Einfluss geht von der Trennungsdauer aus, d.h. die Kontakte nehmen mit der Zeit, die seit der Trennung vergangen ist, ab. Darüber hinaus haben Kinder aus verheirateten Stieffamilien seltener Kontakt mit dem leiblichen Vater als Kinder aus nichtehelichen Stieffamilien. Drittens wirkt sich eine Partnerschaft des externen Elternteils ebenfalls negativ auf die Kontaktwahrscheinlichkeit aus.

Ein positiver Einfluss geht dagegen vom gemeinsamen Sorgerecht aus. Es trägt dazu bei, dass der Kontakt zwischen Stiefkind und außerhalb lebendem Elternteil erhalten bleibt. Förderlich ist auch ein hoher Schulabschluss der Mutter, da Mütter mit höherer Bildung offenbar stärker darauf achten, dass der Kontakt zum leiblichen Vater erhalten bleibt.

Die Beziehung zum Stiefvater

Von der therapeutisch orientierten Forschung wird die Beziehung zwischen Kind und Stiefvater überwiegend als problematisch beschrieben. Begründet wird dies häufig damit, dass das Kind durch den Stiefvater seine enge Beziehung zur Mutter bzw. zum leiblichen Vater bedroht sieht. Ferner manifestiert sich in der Person des Stiefvaters für viele Kinder die Endgültigkeit der Trennung der Eltern. Erschwert wird die neue Lebenssituation außerdem durch die mangelhafte Institutionalisierung der Stieffamilie. Während es für die Rolle des leiblichen Vaters gesellschaftlich anerkannte Leitbilder und Normen gibt, fehlen diese für die Rolle des Stiefvaters. Es gibt keine Richtlinien, an denen Stiefväter die Angemessenheit der eigenen Erwartungen und Verhaltensweisen einschätzen können.

Die Analysen zeigen, dass Stiefväter im familialen Netzwerk von Kindern und Jugendlichen zwar nicht die gleiche Funktion wie Mütter haben, sie können aber sehr wohl eine bedeutsame Rolle im Leben der Kinder spielen. Aus Kindersicht gehört der Stiefvater in der Regel zu den Personen in der Familie, zu denen eine enge Beziehung besteht. Stiefkinder sprechen mit dem Stiefvater häufig über persönlich wichtige Dinge, über ihre Ziele und Wünsche. Es zeigt sich, dass Stiefväter in ihrer subjektiven Bedeutsamkeit nicht hinter dem leiblichen Vater zurückstehen. Dies gilt auch dann, wenn das Kind häufigen Kontakt zum leiblichen Vater hat.

Trotz aller Forschungsergebnisse sollte immer einbezogen werden, dass Familien kein statisches Gefüge sind, sondern einer Dynamik unterliegen. Stieffamilien lassen sich nicht dauerhaft einem Typ zuordnen. Sie entwickeln sich und ähneln in manchen Aspekten des Familienlebens bzw. Phasen ihres Bestehens eher dem einen oder anderen Idealtyp. Häufig sind es die Kinder, deren Familiennetzwerk über die Alltagsfamilie hinausreicht, indem sie ihren leiblichen Vater, dessen Eltern oder die neue Partnerin des Vaters als zu ihrer Familie gehörend betrachten. Am Beispiel der erweiterten Stieffamilie wird deutlich, dass sich Eltern wie Kinder dann besonders wohlfühlen, wenn es ihnen gelingt, ein gemeinsames Familienbild zu entwickeln, das die Besonderheiten der Stieffamilie akzeptiert.

Markus J. Teubner ist Soziologe und wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut in München

Wie häufig sind Stiefkinder und deren Familien in Deutschland?

  • Von den 15,3 Millionen Kindern unter 18 Jahren, die 1999 in Paarfamilien oder bei alleinerziehenden Eltern lebten, sind rund 850.000 Stiefkinder (6%).
  • Der Anteil an Stiefkindern ist in den neuen Bundesländern mit 10 Prozent etwa doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern.
  • Von den 850.000 Stiefkindern in Deutschland wachsen etwa 60 Prozent bei verheirateten Eltern auf, während bei 40 Prozent der Kinder das leibliche Elternteil und das Stiefelternteil unverheiratet in einem Haushalt zusammenleben. Dies bedeutet, dass es sich bei etwa 4 Prozent der Kinder in Ehen um Stiefkinder handelt, aber annähernd jedes zweite Kind, das bei unverheirateten Eltern aufwächst, ein Stiefkind ist.
  • Die überwiegende Mehrheit der Stiefkinder lebt mit der leiblichen Mutter und einem Stiefvater zusammen, nur etwa 10 Prozent leben in Stiefmutterfamilien.
  • Gut jede zweite eheliche Stieffamilie in Deutschland ist eine so genannte komplexe Stieffamilie.

Die wirtschaftliche Lage von Stieffamilien

  • Im Vergleich zu Kernfamilien verfügen vor allem Familien mit gemeinsamen leiblichen Kindern über deutlich niedrigere Haushaltseinkommen.
  • In den alten Bundesländern bewegen sich komplexe Stieffamilien auf dem Einkommensniveau alleinerziehender Mütter, sie erreichen durchschnittlich 80 Prozent des Äquivalenzeinkommens verheirateter Kernfamilien.
  • In den neuen Bundesländern erzielen komplexe eheliche Stieffamilien 90 Prozent des Äquivalenzeinkommens der Kernfamilien und sind damit nach den alleinerziehenden Müttern die Gruppe mit den zweitniedrigsten Einkommen.
  • Die finanzielle Schlechterstellung komplexer Stieffamilien dürfte in erster Linie auf die in dieser Familienform überdurchschnittlich hohe Kinderzahl zurückzuführen sein und ist insofern Ausdruck der finanziellen Lage kinderreicher Familien in Deutschland generell.

Die Schulsituation von Stiefkindern

  • Jungen aus Einelternfamilien und vor allem Jungen aus Stieffamilien sind im Vergleich zu Jungen aus Kernfamilien benachteiligt. Sie sind auf der Hauptschule deutlich überrepräsentiert und gehen mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf ein Gymnasium.
  • Bei den Mädchen hat die Familienform keinen Einfluss auf den Besuch der weiterführenden Schule.
  • Vor allem die elterliche Trennung führt zu Problemen der Kinder in der Schule, denn sowohl Stiefkinder als auch Kinder aus Einelternfamilien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen von den Kindern, die mit beiden leiblichen Eltern zusammenleben.
  • Jungen werden durch elterliche Trennung und Gründung einer Stieffamilie insgesamt deutlich stärker negativ beeinflusst. Während die Anpassungsprobleme für Jungen mit der Gründung der Stieffamilie zunehmen, scheinen Mädchen von der Gründung der Stieffamilie zu profitieren.

Ausgewählte Ergebnisse einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts „Stieffamilien in Deutschland: Überblick, Lebenssituation, Perspektiven“

Buchhinweis
Walter Bien, Angela Hartl, Markus Teubner (Hg.)
Stieffamilien in Deutschland
Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt
DJI: Familien-Survey 10
Wiesbaden 2002, 310 Seiten
24,90 Euro

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