fK 5/04 Muscheler

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Adoption von Stiefkindern: das Kindeswohl hat Vorrang

Plädoyer für eine Verschärfung der Tatbestandsvoraussetzungen bei Stiefkindadoptionen

von Karlheinz Muscheler

Im Jahre 2002 waren in Deutschland ungefähr 55 Prozent aller Minderjährigenadoptionen Stiefkindadoptionen. Der Anteil der Stiefkindadoptionen an allen Adoptionen liegt schon einige Jahre über 50 Prozent. In wie vielen Fällen ein leiblicher Elternteil vor der Adoption durch den Stiefelternteil verstorben war, geht aus der Statistik nicht hervor. Nach übereinstimmenden Aussagen aus der Praxis leben bei den weitaus meisten Stiefkindadoptionen beide leiblichen Elternteile noch.

Das 1977 reformierte deutsche Adoptionsrecht sieht Stiefkindadoptionen – und keineswegs nur die rechtspolitisch vielleicht erwünschten Adoptionen durch Ehepartner verwitweter Elternteile – als ganz normale Adoptionen an. Und das heißt, dass es nur wenige und unwichtige materielle Sonderregelungen für diese Art der Adoption gibt. Es handelt sich vielmehr wie bei allen Minderjährigenadoptionen um eine so genannte Volladoption (adoptio plena), bei der das Kind vollständig aus der bisherigen Verwandtschaft des einen leiblichen Elternteils (und selbstverständlich nur des einen Elternteils) herausgenommen und voll in die gesamte Verwandtschaft des Adoptierenden integriert wird, mit allen unterhalts-, erb- und sorgerechtlichen Folgen, die das hat (§§ 1755 ff. BGB). Nur wenn der eine leibliche Elternteil verstorben ist und er die elterliche Sorge hatte, bleiben seine Verwandten mit dem adoptierten Stiefkind verwandt (§ 1756 II BGB). Die Stiefkindadoption ist wie alle anderen Adoptionen besonders bestandskräftig; sie kann nur in vom Gesetz einzeln aufgezählten schweren Fällen aufgehoben werden (§§ 1760 ff. BGB); kein Aufhebungsgrund ist das Scheitern der Stiefehe. Zusätzlich gilt das Verbot der Kettenadoption: Ein einmal angenommenes Kind kann grundsätzlich bei Lebzeiten eines Annehmenden nicht von einem Dritten angenommen werden (§ 1742 BGB).

Bei der Adoption eines Erwachsenen, die das BGB grundsätzlich nur als schwache Adoption (adoptio minus quam plena) kennt – nach § 1770 BGB erstrecken sich ihre Wirkungen weder auf die Verwandten des Annehmenden noch auf die leiblichen Verwandten des Angenommenen –, ist die Stiefkindadoption privilegiert. Dies gilt zwar nicht so sehr für die (bei Erwachsenen verschärften) Adoptionsvoraussetzungen, wohl aber für die Adoptionswirkungen: Das Vormundschaftsgericht kann auf Antrag des Annehmenden und des Anzunehmenden bestimmen, dass sich die Wirkungen der Annahme nach den Vorschriften einer Minderjährigenadoption richten (§ 1772 I 1 c BGB). Man beachte hierbei, dass bei der Volljährigenadoption der andere leibliche Elternteil in das Adoptionsverfahren nicht zwingend eingebunden, namentlich seine Einwilligung nicht erforderlich ist. § 1772 I 1 c) BGB gewährt eine sehr weitreichende Privilegierung: Er verlangt nicht, dass die Ehe von leiblichem Elternteil und Stiefelternteil schon vor Erreichen der Volljährigkeit bestanden haben muss; verlangt nicht, dass das Kind in den Haushalt der neuen Eheleute aufgenommen wird; ja verlangt nicht einmal, dass der mit dem Stiefelternteil verheiratete leibliche Elternteil bis zur Volljährigkeit des Kindes Sorgerechtsinhaber war.

Gewiss sind die absoluten Zahlen der Adoption in Deutschland gering (Minderjährigenadoptionen 2002: 5.668), und dementsprechend auch die Zahlen der Stiefkindadoption (Minderjährigen-Stiefkindadoptionen 2002: 3.117). Und trotzdem haben wir nach meiner Meinung ein paar Tausend Stiefkindadoptionen im Jahr zu viel. Manches spricht gegen diese Art der Adoption, namentlich bei der Minderjährigenadoption, auf die sich die folgenden Ausführungen konzentrieren.

Argumente gegen die Stiefkindadoption

Zum ersten widerspricht die Stiefkindadoption dem gesetzgeberischen Leitbild der großen Adoptionsrechtsreform von 1977: Verfolgte der Gesetzgeber bis zu dieser Reform mit der Adoption den Zweck, kinderlosen Ehegatten zur Realisierung ihres Kinderwunsches zu verhelfen, so war die 1977 zum Zuge kommende Perspektive genau umgekehrt die, elternlosen Kindern zu Eltern zu verhelfen und ihnen die Heimpflege zu ersparen. Einem Kind, das in einer Stieffamilie lebt, droht aber keine Heimpflege, es hat bereits erziehungsfähige und erziehungswillige Eltern, nämlich (in der Regel) zwei leibliche Eltern und einen neuen sozialen Elternteil.

Zweitens sind die Motive für eine Stiefkindadoption oft nicht oder jedenfalls nicht primär am Wohl des Kindes als dem seit 1977 zentralen Kriterium des Adoptionsrechts orientiert: Nicht selten geht es den Partnern der neuen Ehe darum, den anderen leiblichen Elternteil und dessen Informations-, Umgangs- und Mitbestimmungsrechte auszuschalten. Der „Zwangs-Adoption“ gegen den Willen des anderen leiblichen Elternteils leistet das Gesetz bei nichtehelicher Elternschaft auch noch dadurch Vorschub, dass es die gerichtliche Ersetzung der an sich erforderlichen Zustimmung des anderen Elternteils bei alleinigem Sorgerecht der Mutter (nach § 1626 a II BGB) unter leichteren Voraussetzungen zulässt als bei ehelichen Kindern (§ 1748 IV BGB). Motiv der Stiefkindadoption ist oft die Stabilisierung der neuen Erwachsenenbeziehung und die Dokumentierung dieser Stabilisierung nach außen. Der Stiefelternteil will den leiblichen Elternteil gewinnen oder halten, der leibliche Elternteil den Stiefelternteil über das Mittel der Adoption stärker und dauerhaft an sich binden. Nach Aussagen aus der Praxis wird dementsprechend die Stiefkindadoption häufig schon bald nach Schließung der neuen Ehe beantragt. Handelt es sich nicht um eine Zwangs-Adoption, so kommt es bisweilen zu einem regelrechten Handel zwischen dem anderen leiblichen Elternteil, der für seine Zustimmung zur Adoption die Befreiung von der Unterhaltspflicht gewinnt, und dem Stiefelternteil, der für die übernommene Unterhaltslast die Befreiung von möglichen Einmischungen und von Umgangskontakten des anderen Elternteils erhält. Zu erwähnen sind ferner Fälle, in denen ausländerrechtliche Regelungen den Hintergrund dafür bilden, dass ausländische Kinder vom deutschen Ehegatten des Elternteils adoptiert werden, um dem Kind ein Bleiberecht zu sichern und dem leiblichen Elternteil bessere Chancen für einen Aufenthalt auch nach einem Scheitern der Ehe zu verschaffen.

Und schließlich ein letztes Argument gegen die Stiefkindadoption: Nach Schätzungen der Praxis scheitern ca. ein Drittel aller Adoptionen, „scheitern“ in dem Sinne verstanden, dass entweder der Adoptionselternteil oder das Adoptivkind die Adoption rückgängig machen will. Die meisten Scheiternsfälle stammen aus dem Bereich der Stiefkindadoption. In Stiefehen ist die Scheidungsrate signifikant höher als im statistischen Durchschnitt. Zwar sieht das deutsche Recht im Scheitern der Ehe keinen Grund für die Aufhebung der Adoption (was zum Zeitpunkt des Adoptionsantrags gerne verdrängt wird), so dass das Kind seinen Adoptionselternteil rechtlich auch nach der Scheidung behält. Aber naturgemäß ist das Leid der betroffenen Kinder größer, wenn nicht nur der Ehepartner des Elternteils geht, sondern, und nun schon zum zweiten Mal, auch ein rechtlicher Elternteil, der zudem den Schmerz des Beziehungsendes und den Ärger über das Nichtlösenkönnen einer rechtlichen Elternschaft, die er vielleicht nur wegen des Ehepartners übernommen hatte, oft genug das Kind deutlich spüren lässt.

Möglichkeiten zur Veränderung

Drei Möglichkeiten zur Veränderung der gesetzlichen Lage bieten sich an: Man könnte erstens die Stiefkindadoption generell untersagen. Man könnte zweitens die Rechtsfolgen der Stiefkindadoption ändern, sie besser an die spezifischen Bedürfnisse dieser Adoptionsart anpassen, z.B. ihre Beständigkeit einschränken oder aus der Volladoption eine „schwache“ Adoption, eine adoptio minus quam plena, machen. Man könnte schließlich drittens die Voraussetzungen für eine Stiefkindadoption ändern. Und Letzteres scheint mir in der Tat die richtige Lösung zu sein. Die Stiefkindadoption besitzt in Deutschland, ebenso wie in vielen anderen Ländern, eine zu lange und zu starke Tradition, als dass man sie mit einem Federstrich beseitigen könnte. Und zudem gibt es durchaus Fälle, in denen die Stiefkindadoption sinnvoll ist. An den Rechtsfolgen sollte man deshalb nicht ansetzen, weil die 1977 eingeführte Volladoption rechtspolitisch noch heute überzeugt und den Beteiligten nicht zuletzt zum Wohl des Kindes in allen Fällen klar gemacht werden muss, dass Adoption die dauerhafte, endgültige und vollumfängliche Übernahme von elterlicher Verantwortung bedeutet.

Bei den Tatbestandsvoraussetzungen muss zunächst die bereits erwähnte, den nichtehelichen Vater diskriminierende Regelung des § 1748 IV BGB gestrichen werden. Aber das ist eine Forderung, die für alle Adoptionen gilt, wenn ihre Erfüllung sich auch bei der Stiefkindadoption praktisch besonders bemerkbar machen würde. Eine Beschränkung der Adoption auf solche Kinder, die tatsächlich oder rechtlich nur einen Elternteil haben, etwa weil der andere verstorben oder die Vaterschaft weder anerkannt noch festgestellt worden ist, wäre freilich, obwohl sie natürlich das Interesse des Kindes nach persönlicher Beziehung zum anderen Elternteil am besten gewährleisten würde, zu hart. Denn sie würde namentlich jene zahlreichen Fälle nicht erfassen, in denen der andere leibliche Elternteil sich freiwillig „verdrängen“ lassen will und in denen daher seine vom Gesetz erzwungene Beibehaltung der Elternrolle letztlich dem Kind nicht nützt; zu beachten sind ferner die Fälle, in denen die Einwilligung des anderen leiblichen Elternteils aus zwingenden Gründen ersetzt werden muss.

Entscheidend ist, ein Kriterium zu finden, durch welches verbürgt wird, dass der adoptionswillige Stiefelternteil die Adoption nicht um des Ehegatten, sondern ausschließlich um des Kindes willen begehrt und daher sein Adoptionswille unabhängig von einem etwaigen Scheitern der Ehe ist. Dafür bietet sich eine gesetzliche Fixierung der dem Adoptionsbeschluss vorhergehenden „Adoptionspflege“ (§ 1744 BGB) auf fünf Jahre an. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass nach frühestens vierjährigem Zusammenleben mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, ob die neue Familie Bestand haben wird oder nicht. Mit einem Sicherheitszuschlag käme man dann auf die fünf Jahre, die übrigens seit 2000 auch im schweizerischen Recht gelten. Ist der mit dem Stiefelternteil verheiratet gewesene leibliche Elternteil gestorben, kann auf die fünf Jahre verzichtet werden, wenn das Zusammenleben bis zum Adoptionsantrag „angemessen lange“ gedauert hat. Die Fünf-Jahres-Frist sollte aus Gleichbehandlungsgründen auch für die Adoption volljähriger Stiefkinder übernommen werden, obwohl die sachlichen Vorbehalte hier vielleicht von minder schwerem Gewicht sind; auf jeden Fall aber muss sie bei § 1772 I 1 c) BGB Anwendung finden.

Prof. Dr. Karlheinz Muscheler ist Hochschullehrer für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht an der Ruhr-Universität Bochum

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