fK 5/03 Pesch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bildung im Elementarbereich

von Ludger Pesch

Im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg habe ich den Entwurf eines Bildungsprogramms erstellt, das einen Rahmen für die Bildungsarbeit in Kindertagesstätten beschreibt und begründet. Der Entwurf formuliert Bildungsbereiche und Bildungswege (Inhalte und Methoden). Er stützt sich auf die Befunde zahlreicher Projekte und Ansätze im Kindergarten. Hierzu gehören insbesondere das länderübergreifende Projekt „Zum Bildungsauftrag von Kindertagesstätten“ (Infans), das schwedische Curriculum für den Kindergarten und der Situationsansatz. Einbezogen werden gleichzeitig die Ergebnisse vieler Projekte, die das zuständige Referat des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport in den letzten Jahren veranlasst hat.

Bildung – eine Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe

Ohne Bildung und Ausbildung ist eine Teilhabe an der Gesellschaft kaum noch denkbar. Dabei geht es zentral um Schlüsselkompetenzen, wie sie in jüngster Zeit die Delphi-Studie als für die Zukunft wichtige Qualifikationen beschrieb: personale Kompetenz, soziale Kompetenz, methodische Kompetenz und ein breites Allgemeinwissen. „In einer Gesellschaft, in der die ‚institutionellen Geländer der Lebensführung’ immer weniger verlässlich biographische Planungen stützen können und Verläufe in mögliche Zukünfte tendenziell unkalkulierbar werden, wird Bildung auch für die alltägliche Lebensbewältigung der Kinder und Jugendlichen zur entscheidenden und unverzichtbaren Ressource“, heißt es in einer Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums.

In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert dabei oft die Schule als vermeintlich einziger oder wichtigster Bildungsort. Der nicht-formelle Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe wird dabei oft übersehen. Kindergärten und die dort tätigen Sozialpädagog(inn)en werden selten in öffentliche Diskurse einbezogen.

Die Kinder- und Jugendbildung steht deshalb vor der Aufgabe, ihren eigenen Beitrag zu verdeutlichen und in die öffentliche Debatte einzubringen. Dazu ist es notwendig, dass sie sich über ihren Beitrag Klarheit verschafft. Das Arbeitsfeld Kindergarten selbst zeigt sich nämlich dem Begriff „Bildung“ gegenüber zwiespältig: Einerseits gibt es eine abwehrende Argumentationshaltung, bei der Bildung mit „schulischem Lernen“ identifiziert und damit kurzschlüssig als Aufgabe des Kindergartens abgelehnt wird. Damit aber wird der notwendige Inhalt – Bildung als Anregung aller Kräfte, als Aneignung der Welt und als Entfaltung der Persönlichkeit – zusammen mit einer für den Kindergarten ungeeigneten Methode (Verpflichtung in Inhalt und Form) abgelehnt. Andererseits tragen viele Sozialpädagog(inn)en mit ihren Angeboten zu einer Bildung der Kinder bei, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Es kommt aber nicht mehr nur darauf an, das „Richtige“ zu tun, sondern sich auch über Voraussetzungen und Folgen zu verständigen und auskunftsfähig zu werden.

Anlässe und Gründe für die neuere Bildungsdiskussion

  • Kindertageseinrichtungen haben gemäß Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) die Aufgaben Erziehung, Bildung und Betreuung
  • Wir sind auf dem Weg in eine Wissensgesellschaft
  • Eine gute Bildung eröffnet Chancen
  • Unser Bildungssystem trägt zu wenig zur Chancengleichheit bei
  • Kindertageseinrichtungen bieten höchst unterschiedliche Qualitäten
  • Der Bildungsauftrag ist nicht definiert
  • Das Kind ist bildungshungrig, es will lernen und gestalten

Qualitätssicherung und Bildungsauftrag

Die Diskussion um den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen hat das Thema Qualitätssicherung als „Megathema“ überlagert. Das verunsichert viele Praktiker(innen), weil die Verbindung zwischen beiden Debatten oft nicht deutlich wird. Dabei geht es im Kern um das Gleiche, nämlich das Bemühen um eine bestmögliche Erziehung und Bildung im Kindergarten. Man könnte sagen, es handelt es sich zwei Seiten derselben Medaille.

Die Stichworte auf der einen Seite (Bildungsauftrag) lauten u.a. Chancengleichheit, Selbstbildung und Ko-Konstruktion, das Lernen lernen (lernmethodische Kompetenzen).

Die Stichworte auf der anderen Seite (Qualitätssicherung) lauten u.a gleiche Qualität für alle, Verlässlichkeit, Transparenz, Kundenorientierung.

Die Schwerpunkte der Bildungsdebatte liegen damit auf inhaltlichen, die der Qualitätsdebatte auf prozessualen Fragen. Beide ergänzen sich und sind aufeinander angewiesen: Ohne qualitätssichernde Instrumente bliebe die Bildungsdebatte praktisch folgenlos; andererseits muss sich Qualitätssicherung auf deutlich beschriebene Inhalte beziehen.

Zum Bildungsbegriff

In den Brandenburger Grundsätzen zur Bildungsarbeit wird von einem Bildungsbegriff ausgegangen, wie er im länderübergreifenden Projekt „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ entwickelt wurde. Die wesentlichen Merkmale dieses Bildungsbegriffs sind:

(1) Bildung bedingt Bindung

Kinder benötigen eine verlässliche Bindung an eine Bezugsperson, die als sichere Basis dient. Von dieser Basis aus bricht dann das Kind zu praktischen Erkundungen seiner Umwelt auf, kann sich aber in Situationen der Irritation jederzeit zurückziehen und neu organisieren. In späteren Lebensabschnitten hat eine dialogische Beziehung auf der Basis einer „gegenseitigen Anerkennung“ (Honeth/Leu) eine für kindliche Bildungsbewegungen fruchtbare Funktion.

Die pädagogische Aufgabe besteht darin, solche Bindungen und Beziehungen durch das personale Angebot zu ermöglichen.

(2) Bildung ist Selbstbildung, hat selbstorganisierenden Charakter

Im Zentrum des Bildungsbegriffs steht die Aktivität des Kindes. Kinder sind grundsätzlich unbelehrbar. Ein Mensch wird nicht gebildet, er bildet sich selbst. Es „haftet dem Wort Bildung das Moment der Selbständigkeit, also des Sich-Bildens der Persönlichkeit hartnäckig an“ (von Hentig). Diese Bildungsvorstellung zieht sich durch die gesamte Geschichte der Erziehung, von Comenius („In der Erziehung darf und kann nichts geformt werden, was sich nicht selbst formt“) über Pestalozzi bis zu aktuellen Konzeptionen wie dem Situationsansatz („Kinder vollziehen die für ihre Entwicklung und Entfaltung notwendigen Schritte durch eigene Aktivität“) und der Reggio-Pädagogik („Das Kind ist der Konstrukteur seiner Kenntnisse“). Kinder sind von Anfang an und mit allen Kräften bemüht, sich ein Bild von ihrer Welt zu machen.

Die pädagogische Aufgabe besteht darin, die kindlichen Bildungsbewegungen individuell zu erfassen und zu beantworten.

(3) Bildung durch Ko-Konstruktion

Der erkenntnistheoretische Rahmen dieser Konzeption ist der Konstruktivismus. Er begreift Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse des Menschen als Konstruktionen: Welt wird nicht unverändert übernommen im Sinne einer bloßen Abbildung, sondern in einem inneren Verarbeitungsprozess neu strukturiert. Insofern kann man sagen, dass die Welt in jedem Menschen neu geschaffen wird. Dieser Prozess ist in einem doppelten Sinn transformatorisch: Zum einen verändert er die Welt an sich, insofern das Handeln des Kindes Spuren hinterlässt und sich die Interaktionspartner auf das Kind einstellen und damit ko-konstruieren. Zum anderen verändert ein solcher Lernprozess das Kind selbst, denn auf zunehmend komplexer werdende Erfahrungen muss es mit neuen Antworten reagieren. Für diesen Bildungsprozess der Kinder ist die menschliche und sächliche Umwelt unverzichtbar.

Die pädagogische Aufgabe besteht darin, das Kind mit Dialogpartnern (Erwachsenen wie Kindern) zu verbinden, die aus der Außenperspektive eigene Themen einbringen.

(4) Bildung mit allen Sinnen

Kinder lernen, d.h. bilden sich mit allen Sinnen. Bewegung und Körpererfahrung („begreifen“) sind die Wurzeln kindlichen Lernens; jeder Mensch kommt mit einem Rhythmus (dem Herzschlag) auf die Welt.

Die pädagogische Aufgabe besteht darin, eine anregungsreiche Umgebung zu schaffen, in der das Kind seinen Themen mit allen Sinnen nachgehen kann.

Grundlinien des Bildungsprogramms

Ausgangspunkt ist ein ko-konstruktivistisches Verständnis von Bildungsprozessen. Alle „besonderen“ Bildungsangebote sollen sich weitgehend aus Erfahrungszusammenhängen der Kinder ergeben, eine Verbindung zu ihrer Lebenswelt und dem Alltag in der Einrichtung haben.

Wie für jedes pädagogische Projekt ist die Einheit von Inhalt und Form zu beachten: So wie sich Selbständigkeit nicht in Akten der Unterwerfung entwickeln lässt, braucht kreative Praxis einen angemessenen materiellen Rahmen.

Das Postulat der Selbstbildung gilt nicht nur für die Kinder. Es verpflichtet das Bildungsprogramm deshalb auf die Beachtung der Eigensinnigkeit auch der Erwachsenen. Gleichzeitig ruft es dazu auf, in jeder Einrichtung die Parallelität von Prozessen auf Kinder- und Erwachsenenebene zu beachten: Erzieher(innen) sollten vor jedem Bildungsangebot ihr eigenes Verhältnis zu dem entsprechenden Thema oder der Tätigkeit klären.

Das Programm ist deshalb so angelegt, das es einen Rahmen setzt. Dieser muss von den Handelnden ausgefüllt werden. Die Grundsätze enthalten, ähnlich wie das schwedische Curriculum, kein detailliertes Arbeitsprogramm, das lediglich abzuarbeiten wäre.

Grundlinien des Bildungsprogramms

  • Ausgangspunkt ist das ko-konstruktivistische Verständnis von Bildungsprozessen
  • Lebenswelt-, Situations- und Alltagsorientierung
  • Einheit von Inhalt und Form
  • Parallelität von Prozessen auf Kinder- und Erwachsenenebene
  • Setzung eines Rahmens, der die Handelnden (Träger, Fachkräfte, Eltern) zu Aktivität aufruft

Das Konzept der multiplen Intelligenzen

Im Zentrum des Programms stehen sechs Bildungsbereiche: Sprache, Kommunikation und Schriftkultur; Mathematik und Naturwissenschaften; Musik; Körper, Bewegung und Gesundheit; Spielen und Gestalten; Soziales und kulturelles Leben

Diese Systematisierung beruht auf dem Konzept der „vielfachen Intelligenzen“ von Howard Gardner. Es wendet sich gegen eine Verengung des traditionellen Intelligenzbegriffs, wie er sich in klassischen Intelligenztests und schulischen Bewertungssystemen zeigt.

Die Struktur der Bildungsbereiche

Jeder der sechs Bildungsbereiche wird zunächst beschrieben und von den anderen abgegrenzt. Anschließend werden typische Tätigkeiten und Erscheinungsformen dargestellt und Merkmale des kindlichen Lernprozesses erläutert.

Es folgen vier Standards, die jede Kindertageseinrichtung erfüllen soll:

  1. In der Konzeption der Einrichtung soll beschrieben werden, wie Kinder allgemein in diesem Bildungsbereich gefördert werden
  2. Die Einrichtung soll sicherstellen, das jedes Mädchen und jeder Junge hinsichtlich dieses Bildungsbereiches individuell be(ob)achtet und unterstützt wird.
  3. Jede Fachkraft soll sich in Bezug auf diesen Bildungsbereich selbst bilden und im Interesse der Kinder eventuell vorhandene eigene Blockaden auflösen.
  4. Jede Einrichtung soll in ihrer Raumgestaltung und in ihrem Materialangebot Möglichkeiten zur Selbstbildung der Kinder in diesem Bildungsbereich schaffen.

Die Grundsätze zur Bildungsarbeit sind auf den Internet-Seiten des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport unter www.mbjs.brandenburg.de > KITA. Wir verstehen den Entwurf als Grundlage für eine Fachdiskussion, die auf unterschiedlichen Ebenen und mit zahlreichen Partnern geführt wird. Erst durch Beteiligung wird das Programm zu einem Rahmen der Bildungsarbeit, der breite Akzeptanz finden kann.

Ludger Pesch ist Diplom-Pädagoge und Organisationsberater. Er ist Geschäftsführer des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes (pfv) und Mitgesellschafter des „Instituts für den Situationsansatz“ der Internationalen Akademie gGmbH in Berlin.

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