17 Jun fK 4/11 Schaich
Der Übergang aus der Familie in die Kinderkrippe
Die Bedeutung kultureller, sozialer und geschlechtsbezogener Faktoren
Von Ute Schaich
Die Gestaltung der Eingewöhnungsphase gilt als eines der zentralen Qualitätsmerkmale einer ausreichend guten Tagesbetreuung von Kleinst- und Kleinkindern. Sowohl im Berliner Modell (Laewen, Andres, Hédervári 2003) als auch in der Wiener Kinderkrippenstudie (Fürstaller, Funder, Datler 2011) wird hervorgehoben, dass die Eingewöhnungsprozesse sehr individuell und differenziert erfasst werden müssen, um die Förderbemühungen möglichst präzise abzustimmen. Wie aber lassen sich Eingewöhnungsprozesse individuell erfassen? Welche Rolle spielen kulturelle, soziale und geschlechtsbezogene Faktoren beim Erleben der frühen Trennung? Weder im Berliner Modell noch in der Wiener Krippenstudie oder in anderen Veröffentlichungen der Krippenforschung wird darauf eingegangen.
Die Autorin (Schaich 2011) nahm diese Forschungslücke zum Anlass, um in einer qualitativen Untersuchung, die sie zwischen 2008 und 2010 durchführte, acht Eingewöhnungsgeschichten in zwei Krippeneinrichtungen im städtischen und ländlichen Raum im Rhein-Main-Gebiet zu erfassen und tiefenhermeneutisch (Lorenzer 1974, 1984) auszuwerten. Untersucht wurde, wie die Beziehungsangebote und institutionellen Bedingungen in Kindertagesstätten und Kinderkrippen gestaltet werden müssen, damit die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kleinkindern aus unterschiedlichen Herkunftskulturen und -milieus sowie unterschiedlichen Geschlechts gelingen und die Persönlichkeit des Kindes im Sinne einer ressourcenreichen Subjektwerdung gestärkt wird. Der interkulturelle Vergleich und die Frage, wie Kinder mit Migrationshintergrund, deren Familien ja bereits vielfache Trennungen zu bewältigen hatten, den Übergang erleben, standen dabei im Fokus.
Zum Forschungssetting gehörten drei methodische Zugänge: Mehrphasige teilnehmende Beobachtungen während der Eingewöhnungszeit und neun Monate später, Leitfadeninterviews mit den Eltern sowie Expertinneninterviews mit den Erzieherinnen. Beteiligt waren fünf Mädchen (darunter ein Zwillingspaar) und vier Jungen im Alter von 18 bis 26 Monaten. Sechs der acht Familien haben einen Migrationshintergrund. Die Methodentriangulation mit der aufeinander bezogenen Methodenwahl ermöglichte eine umfängliche Erforschung der inneren und äußeren Realität des Kindes sowie des dazu notwendigen Perspektivenwechsels, d. h. das Einlassen auf die Subjektivität, Sensibilität und Komplexität des kindlichen Erlebens. Für die abschließende Gesamtauswertung wurde eine vergleichende Betrachtung der erarbeiteten Einzelfalltheorien angefertigt. Im Folgenden wird ein Überblick über die empirischen Ergebnisse gegeben.
Die Bedeutung der transgenerativen Weitergabe von Flucht- und Migrationserfahrungen beim Übergang aus der Familie in die Krippe Die Auswertung des Materials zeigt, dass ein Risikofaktor darin liegt, dass durch die partielle Trennung, die der Übergang des Kindes in die Kindertagesstätte mit sich bringt, die von den Eltern selbst erlebten und nicht verarbeiteten biografischen Trennungserfahrungen (wie z. B. Flucht, Migration, Tod oder Scheidung der eigenen Eltern) reaktiviert werden. Somit bedeutet die Trennung, die durch die Inanspruchnahme der frühen Tagesbetreuung ausgelöst wird, eine Konfrontation mit ihren eigenen, meist unbewussten Trennungs- und Verlustthemen. Die Kinder ihrerseits erspüren und re-inszenieren die Belastungen der Eltern, wodurch ihre Trennungsverarbeitung in der Kindertagesstätte erschwert wird.
Transgenerativen Prozessen wie diesen liegen aus psychoanalytischer Sicht die Mechanismen der Identifizierung, der projektiven und der globalen Identifizierung zugrunde (Bohleber 2000, 2008, Kogan 2008): „Bei Eltern, die ihre massive Traumatisierung nur durch Verleugnung und Derealisierung abwehren können, erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer Fantasie und agieren diese Fantasien in der äußeren Welt aus.“ (Bohleber 2008, S. 110) Während die Eltern durch die unbewusste Projektion eigener unerträglicher Anteile Entlastung erfahren, erleben die Kinder den projizierten Teil als fremd und nicht ich-konform.
Die These über die transgenerative Weitergabe von belastenden Trennungserfahrungen der Eltern soll am Beispiel von Unas Eingewöhnungsgeschichte (alle Namen wurden geändert und die Daten anonymisiert) ausgeführt werden. Una wurde am ersten Tag von Vater und Mutter begleitet. Ihr Vater war im Alter von neun Jahren mit Mutter und Bruder aufgrund des Krieges im ehemaligen Jugoslawien aus Bosnien nach Deutschland geflohen. Er lebt seit 18 Jahren hier. Die Mutter stammt aus Montenegro und lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Während der Vater gut Deutsch spricht und in der Kindertagesstätte sicher auftrat, wirkte die Mutter sehr unsicher und befangen. Sie legte großen Wert darauf, dass sich Una brav und ordentlich benahm. Den Aufforderungen der Tochter, mit ihr im Raum umherzugehen, kam sie nicht nach. Sie wirkte, als ob sie sich in der Institution verlassen und verloren und wie in einem fremden Land fühlte. Den Tisch, an dem sie saß, schien sie wie eine „Heimatbasis“ zu benötigen, von der aus sie ihre Tochter beobachten und verbal begleiten konnte. Diese Beobachtung ist insofern relevant, als in der psychoanalytischen und sozialpsychologischen Literatur zum Erleben von Migration davon ausgegangen wird, dass migratorische Prozesse potenziell traumatischen Charakter tragen und Krisensituationen erzeugen (Grinberg/ Grinberg 1990:14). Denn Migration ist immer mit Trennungen und Verlusten verbunden, egal ob sie erzwungen oder freiwillig erfolgte und neben Trauer auch Neugier und Freude über neue Chancen impliziert. Vor diesem Hintergrund erweckt die beschriebene Szene den Eindruck, dass Unas Mutter den Übergang in die Krippe wie eine Migration erlebte, in der die Gefühle der Unsicherheit und Fremdheit aus der Zeit reaktiviert wurden, als sie als 17-jähriges Mädchen mit ihrem Mann, den sie bei dessen Urlaub in Montenegro kennengelernt hatte, nach Deutschland kam.
Die ersten beiden Wochen in der Krippe verliefen sehr unübersichtlich. Unas Eltern konnten die Eingewöhnung aufgrund ihrer Arbeitssituation nicht weiter begleiten, so dass Una ab dem zweiten Tag abwechselnd von Großmutter, Tante, Onkel und verschiedenen Nachbarn gebracht und abgeholt wurde. Es ergaben sich Situationen, in denen sie sehr verzweifelt war und sich nur allmählich und durch lang anhaltenden Körperkontakt mit der Erzieherin beruhigte und stabilisierte. Eine erneute Krise trat nach einer zweiwöchigen Unterbrechung ein, die erfolgte, weil Mutter und Tochter aufgrund der Erkrankung von Unas Großmutter plötzlich nach Montenegro reisten. Im Elterninterview stellte die Autorin allerdings fest, dass Unas Trennungsängste weder von der Mutter noch vom Vater realisiert wurden. Stattdessen wurde vom Vater immer wieder ihre angebliche Pflegeleichtigkeit hervorgehoben.
Auffallend an der weiteren Geschichte war, dass Una laut Bericht der Erzieherinnen zu Hause und in der Einrichtung immer wieder Absencen hatte, d. h. Momente, in denen sie plötzlich ihr Spiel unterbrach, die Umgebung nicht wahrnahm, benommen wirkte und regungslos verharrte. Absencen sind als Symptom einer epileptischen Bewusstseinsstörung in Form einer fünf bis 20 Sekunden dauernden Bewusstseinspause zu verstehen, für die sich in aller Regel keine Ursachen finden lassen. Auch bei Una blieben medizinische Untersuchungen ohne Befund. Allerdings erörtert Yolanda Gampel (2009, S. 19ff.) in Fallbeispielen über die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen des Krieges und der Shoah, dass Symptome wie Absencen, Schlaflosigkeit, Atembeschwerden etc. als möglicher Ausdruck eines inneren Konflikts zu verstehen sind, durch den das Kind unbewusst die abgewehrten Anteile elterlicher Traumatisierungen ausagiert.
Vor diesem Hintergrund ist unsere These bezüglich Unas Fallgeschichte, dass sie mit dem Symptom der Absencen in Form kurzer Episoden psychischer Erstarrung und Lähmung ihren eigenen Trennungsschmerz und ihre Sehnsucht nach einer vertrauten Person zum Ausdruck brachte, dass sie auf diese Weise aber auch die eingefrorene Trauer der Mutter ausagierte sowie das Trauma des Vaters. Das Trauma des Vaters bestand in der Vertreibung und Flucht, als er neun Jahre alt war. Drei Jahre vor dieser Flucht war sein eigener Vater an einem Herzinfarkt gestorben, worin ebenso ein schweres Verlusterlebnis zu sehen ist. Anzunehmen ist, dass sein Identitätsgefühl durch den Tod des Vaters bereits angegriffen und durch die Flucht weiteren Einschnitten ausgesetzt war, was die Verarbeitung von Trauer- und Angstgefühlen erschwerte. Unas Absencen erscheinen hier wie ein Flashback des Vaters, in dem seine abgewehrten Gefühlszustände wieder auftauchen, aber nicht fassbar sind. Jedoch spürt sie seine Wunde intuitiv und nimmt durch die Flashbacks Verbindung mit ihm auf. Ihre Symptome verweisen auf die fehlende psychische Bewältigung mehrerer Übergänge. Dazu gehören die Flucht des Vaters ebenso wie die Migration der Mutter und Unas Eintritt in die Kindertagesstätte.
Nach Anführung dieses Beispiels, das zeigt, wie die Empathiefähigkeit von Eltern beim Übergang in die Krippe durch eigene unbewältigte Trennungskrisen beeinträchtigt werden kann, fokussiert die nächste These kulturelle Aspekte der Persönlichkeitsstruktur.
Kulturelle und institutionelle Wirkfaktoren
Oerter (2008, S. 106f.) unterscheidet in seinem Überblick über Kultur und Entwicklung zwischen „kollektivistischen“ (nicht-westlichen) und „individualistischen“ (westlichen) Kulturen. Während in „kollektivistischen“ Kulturen die Bindung stärker betont werde als die Unabhängigkeit, stehe in „individualistischen“ Kulturen Unabhängigkeit im Vordergrund. Dementsprechend beschreibt Parin (1992, S. 87ff.) mit dem Begriff des „Gruppen-Ichs“ eine psychische Realität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dem Ich des Einzelnen in gruppenorientierten Kontexten durch die Identifikation mit den Gruppenmitgliedern, z. B. der Familie, eine Stärkung zukommt, so dass es seinen Funktionen besser gerecht werden kann. In Gesellschaften, die hohe normative Anforderungen an ein als autonom gedachtes Individuum stellen, werden den Angehörigen gruppenorientierter Zusammenhänge aber Anpassungsleistungen abverlangt, die die Auflösung von Gruppen-Ich-Strukturen und ihre Reorganisation betreffen. Funktionen, die bisher von Autoritäten und Hilfs-Ichs übernommen wurden, müssen jetzt selbst übernommen werden (Rohr 2005).
In der vorliegenden Untersuchung zeigte sich in diesem Zusammenhang, dass die in Kindertagesstätten gestellten Anforderungen an autonomes Verhalten von Eltern und Kindern aus gruppenorientierten kulturellen Kontexten potenziell Verunsicherungen mit sich bringen, die in Krisensituationen regressive Verhaltensweisen begünstigen und die Ausübung subjektiv autonomer Verhaltensweisen erschweren, je nachdem, welcher Art die Migrationserfahrungen sind, wie sie verarbeitet wurden und wie hilfreich die Institutionen reagieren.
Dies wurde exemplarisch an den Reaktionen des in Marokko geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Vaters der Zwillinge Rabha und Rabia deutlich (die Mutter ist deutschstämmig). Zwei Schlüsselsituationen sind hervorzuheben. Eine davon trat direkt nach der Frühgeburt der Kinder ein, als die Eltern den angebotenen Hebammendienst nicht in Anspruch nehmen wollten. Sie zogen die Unterstützung durch die Großeltern vor. Die zweite markante Situation ergab sich in der Kinderkrippe. Nachdem die Kinder die Einrichtung ein Dreivierteljahr lang besucht hatten, erfuhr die Autorin, dass die Eltern über Monate hinweg die Beitragsgebühren nicht bezahlt hatten. Beide arbeiten im Niedriglohnsektor. Aufforderungen seitens des Amtes und der Leiterin der Kindertagesstätte, bei der zuständigen Behörde vorzusprechen, um nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, kam der Vater, der inzwischen arbeitslos geworden war und die Kinder in die Krippe brachte und abholte, nicht nach. Die Betreuung musste abgebrochen werden. Stattdessen nahmen die Eltern wieder familiäre Hilfe zur Kinderbetreuung in Anspruch. In beiden Schlüsselsituationen griffen sie also lieber auf das familiale Versorgungsnetz zurück, als sich gegenüber institutionellen Hilfsangeboten zu öffnen. Sicherlich war hier die Angst vor Kontrolle bedeutsam. Darüber hinaus aber war es dem Vater offensichtlich nur durch Regression auf das Gruppen-Ich im eigenethnischen Kontext der Familie möglich, sich schwach, verletzlich und bedürftig zu zeigen. Scham und das Gefühl des persönlichen Versagens, Ablehnung durch die Erzieherinnen und die Leiterin, Diskriminierungserfahrungen, strukturelle Ungleichheit und differente Kulturmuster griffen dabei ineinander (vgl. Auernheimer 2010, S. 45ff.).
Denn bei der Erörterung der aufgetretenen Schwierigkeiten sind nicht nur die kulturellen Prägungen der Persönlichkeitsstruktur und die Migrationserfahrungen der beteiligten Personen zu beachten, sondern auch institutionelle Probleme. Die Beobachterin verspürte an einem der Beobachtungsvormittage während der Eingewöhnungsphase intensive Fluchtwünsche, weil sie den Eindruck hatte, dass die Erzieherinnen mit den beiden Mädchen sehr abwertend umgingen. Auch die Art und Weise, in der sie mit ihr über die Familie sprachen, trug eine deutlich abwertende Färbung. Unsere Annahme ist, dass die Zugehörigkeit des Vaters zum arabischen Kulturbereich und die Unterschichtzugehörigkeit der Familie bei den Erzieherinnen Assoziationen der Widersetzlichkeit und mangelnden Anpassung hervorriefen, die für ihre stark ambivalente bis ablehnende Haltung gegenüber der Familie verantwortlich waren. Fehlende Resonanz, Spiegelung und Anerkennung beförderten deren Rückzug. Die Zusammenarbeit zwischen Familie und Institution scheiterte, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Institution keine geeigneten Hilfen zur Lösung des Konflikts anbot (z. B. den Vater beim Gang zur Behörde zu begleiten).
Die Wirkung des Habitus im Beziehungsdreieck Kind-Eltern-Erzieherin Unser Material zeigt, dass Gemeinsamkeiten im Habitus – ähnliche Grundhaltungen im Umgang mit dem Kind, Geschmacksrichtungen, Kommunikationsstile, Rituale, Symbole, abhängig vom vorhandenen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital – den Dialog zwischen Erzieherinnen und Eltern befördern. Nicht reflektierte Unterschiede im Habitus erschweren dagegen das Zustandekommen des Beziehungsdreiecks Kind-Eltern-Erzieherin.
Der Vergleich der Fallbeispiele demonstriert in diesem Zusammenhang, dass und wie Bourdieus (1992) These der Fortführung der ungleichen Verteilung von (Bildungs-)Chancen durch das Bildungssystem trotz gegenteiligen Anspruchs nicht nur, wie in der Forschung bereits gut belegt, im schulischen Kontext, sondern bereits in der frühen Tagesbetreuung Wirkung zeigt. Denn deutlich wurde, wie die deutschstämmigen Kinder Tim und Fabian, deren Familien der sozialen Mittelschicht zuzurechnen sind, von den ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien ihrer Eltern profitieren, die ihnen gute Anschlussmöglichkeiten an die Anforderungen der Kindertagesstätte bieten. So konnten sich ihre Eltern im Gegensatz zu Eltern, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, zeitlich flexibel auf die Begleitung des Kindes während der Eingewöhnungszeit einstellen, da kein finanzieller und zeitlicher Druck bestand. In beiden Fällen passten außerdem wesentliche pädagogische Grundhaltungen von Familie und Einrichtung, die sich z. B. am dialogischen Umgang mit dem Kind festmachen, zusammen, sodass sich die Eltern nicht in größerem Ausmaß gegenüber der Institution zurücknehmen und Werte vertreten mussten, die nicht ihre eigenen sind. Auch die in der Einrichtung verwandten Symbole (Lieder, Geschichten, Begrüßungsrituale, Ernährungsgewohnheiten, Spielgegenstände) waren den Eltern vertraut, so dass das Kind auf entsprechende Resonanz in der Familie stieß. Demgegenüber erhielten die Familienangehörigen anderer Kulturen weniger mentale, körpersprachliche, mimische und gestische Spiegelungen von den Erzieherinnen, so dass die Repräsentation ihres Habitus und der dazugehörenden kulturellen Muster nie komplett, sondern immer begrenzt war, was eine schmerzhafte Erfahrung darstellt. Sie fühlten sich fremd, nicht verstanden, gekränkt, abgelehnt und kalt behandelt.
Diese Diskrepanzen aber erschweren dem Kind die Bildung eines „Übergangsraums“ (Winnicott 1971, 1976), der die Voraussetzung für Symbolisierung, Differenzierung, Selbstentwicklung und Bildung ist. Auf diese Weise beginnen die Mechanismen der sozialen und kulturellen Ungleichheit im Bildungssystem bereits früh zu wirken. Denn eine gelungene Eingewöhnung erfordert nicht nur die Anpassungsleistung des Kindes, sondern auch die Bildung des Beziehungsdreiecks Kind-Eltern-Erzieher(in).
Darüber hinaus machte der interkulturelle Vergleich deutlich, dass die Idealisierung subjektiver Autonomie nicht nur die Identitätsentwicklung von Kindern aus gruppenorientierten, sondern auch aus individualistischen Kulturen erschwert. Die Unterscheidung, ob Kulturen in ihren Mitgliedern eher Interdependenz oder eher subjektive Autonomie bestärken, kann zur kulturellen Selbstreflexion genutzt werden. Dann werden die Ambivalenzen des Erziehungsziels der Autonomie für alle Kinder deutlich, wenn nämlich überhöhte pädagogische Ansprüche die Wahrnehmung der kindlichen Bedürftigkeit verzerren.
Dies war bei dem deutschen Jungen Fabian der Fall, dessen Erzieherin sehr stark das Erziehungsziel der Autonomieförderung verfolgte (z. B. durch häufige Entscheidungsalternativen) und hohen Wert auf soziales Verhalten legte. Jedoch gerieten seine regressiven Bedürfnisse in den Hintergrund. Fabian war überfordert und reagierte mit Bockigkeit, aggressivem Verhalten und Unkonzentriertheit. Das individualistisch geprägte Erziehungsziel der Autonomie birgt zudem Schattenseiten, wenn individuelle Freiheiten und Selbstentfaltung mit den Forderungen nach konkurrenter Individualisierung konfrontiert werden. Dies trat in Tims Fallbeispiel hervor, dessen Eltern die Ideale der Leistung, Disziplin und Durchsetzung betonten, während seine Kindlichkeit, sein Kleinsein und seine Ängstlichkeit den von den Eltern prononcierten Anforderungen nach aggressiver Durchsetzung in der Kindergruppe einerseits und Unterordnung unter die Erzieherinnen andererseits subsumiert wurden.
Gender
Im Hinblick auf geschlechtsbezogene Unterschiede zeigte sich, dass bei den Mädchen die kulturelle und migratorische Verstärkung des geschlechtsspezifischen Musters der Anpassung auf Kosten ihrer Differenzierung und Individuation erfolgte. Bei den Jungen zeigte sich die kulturelle und migratorische Verstärkung des geschlechtsspezifischen Musters der Passivität/Verwöhnung durch die Mutter auf Kosten autonomer Bestrebungen. Falls diese familiären Vorerfahrungen in der Einrichtung nicht reflektiert werden, werden sowohl Jungen als auch Mädchen in ihrer Individuationsentwicklung beeinträchtigt.
Diese These geht auf die Auffassung von feministischen Psychoanalytikerinnen wie Nancy Chodorow (1985) oder Jessica Benjamin (1990) über die Bedeutung der Tatsache zurück, dass aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vorwiegend Frauen die Aufgaben der Kindererziehung übernehmen und dass Mutter und Tochter dasselbe Geschlecht, Mutter und Sohn hingegen das entgegengesetzte Geschlecht haben. Mädchen stoßen durch die Geschlechtsgleichheit mit der Mutter zwar auf die Chance einer hohen Identifikation und Spiegelung. Aber es gibt auch starke Kontrollansprüche und Anforderungen an Anpassung und Ich-Leistungen der Mädchen. Gegenüber dem Sohn empfinden Mütter Einheit und Kontinuität, jedoch auch das Gefühl der Differenziertheit. Daraus ergeben sich insbesondere dann Probleme für seine psychische Stabilität, wenn das Vaterbild der Mutter nicht libidinös besetzt ist und wenn männliche Identifikationsmöglichkeiten fehlen, die die Erfahrung der Differenziertheit positiv kompensieren (Dammasch 2008, S. 24). In unserer Studie wurde nun die Frage untersucht, welche Bedeutung diese Voraussetzungen für die Qualität der Erzieherin-Kind-Beziehung haben. Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden.
Katharinas Mutter, die vor sechs Jahren aus Weißrussland nach Deutschland kam, erfuhr durch die Migration neben besseren Lebensbedingungen Verlusterlebnisse dergestalt, dass ihre beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt wurden. Auch der Vater, der als neunjähriger Junge einer Aussiedlerfamilie aus Rumänien nach Deutschland kam, benannte im Elterninterview migrationsbedingte Verlusterlebnisse. Beide Elternteile hoben hervor, wie draufgängerisch, mutig, neugierig und aktiv ihre zweite Tochter Katharina sei. Die Mutter meinte sogar, dass sie eigentlich keine Eingewöhnung gebraucht hätte. Hierbei handelt es sich um eine Einschätzung, die die Beobachterin nicht teilt. Unsere These ist, dass die Eltern hohe erfolgsorientierte Projektionen auf Katharina richten, die im Dienste der Kompensation eigener migrationsbedingter Verlusterlebnisse stehen. Während sie auf Katharina Aspekte ihres idealen Selbst projizierten, wurden auf die ältere Schwester, die als ängstlich, zögerlich, abwartend, kränklich charakterisiert wurde, die negativen Aspekte des elterlichen Selbst gerichtet, die sich aus den Verlusterfahrungen durch die Migration speisten. Auf diese Weise aber sehen die Eltern an der Subjekthaftigkeit beider Töchter vorbei. Zwar zeigte sich in den Beobachtungen, dass Katharina in der Tat sehr klug und durchsetzungsfähig ist. Aber die Erzieherinnen berichteten auch von regelmäßigen Phasen, in denen sie in sich gekehrt war und bekümmert vor sich hin blickte. Diese Realität, die die Kehrseite von Katharinas Erfolgen zeigt, wurde aber von den Eltern nicht wahrgenommen.
Insgesamt reagierten die Mädchen der Stichprobe auf die an sie gestellten hohen Anforderungen an Ich-Leistung und Anpassung mit Quengeligkeit und gedrückten Stimmungslagen. Sie bestätigen damit die empirisch nachgewiesene Tendenz, dass Mädchen eher intraversive Symptome entwickeln (Schnack, Neutzling 1990, Heinemann, Hopf 2008). In der Kindertagesstätte werden diese familiären Vorerfahrungen fortgesetzt, wenn die unauffälligen Anzeichen der Mädchen nicht erkannt, die Implikationen der Geschlechtsgleichheit nicht reflektiert und die Mädchen somit durch geschlechtskonforme Erwartungen in ihrer Autonomieentwicklung beeinträchtigt werden. Die Annahme, dass es Mädchen in Bildungsinstitutionen leichter hätten als Jungen und dass sich sichere Beziehungen zwischen ihnen und den Pädagoginnen leichter herstellen ließen als bei Jungen (Ahnert 2004, 2006, 2007), erfasst nur einen Teil der Wirklichkeit. Dennoch mag die affektive und emotionale Bindung der Tochter an die Mutter, die insbesondere in kontextgebundenen Kulturen auch auf andere weibliche Familienmitglieder (Schwestern, Kusinen, Tanten) übertragen wird (Rohr 2002), die psychische Stabilität der Mädchen befördern.
Für die Sozialisation der Jungen stellt Schmauch (1993, 1995) in ihrer Beobachtungsstudie fest, dass sie von ihren Müttern intensiver und länger als Mädchen verwöhnt werden, sei es beim Essen, Waschen, An- und Ausziehen oder längerem Windelwickeln. Eine kulturelle Verschränkung zeigte sich in unserer Untersuchung am Beispiel eines türkischen Jungen. Die Erzieherinnen beklagten sich über Serkans Unselbstständigkeit, z. B. darüber, dass nicht er sich selbst, sondern die Mutter ihm die Hausschuhe anzieht. Dem mag zugrunde liegen, dass kleine Kinder in orientalischen Sozialisationsprozessen sehr umfassend von der Mutter versorgt werden (Ardjomandi 2000, 2007, Charlier 2006, 2007, Toprak 2004). Uns fiel bei den Beobachtungen aber auch auf, dass es Serkan schwer fiel, außerhalb des familiären Kontexts Beziehungen zu Gleichaltrigen einzugehen. Allerdings wurde diese Bedürftigkeit, nämlich dass er Unterstützung bei der Aufnahme von Beziehungen zu den anderen Kindern in der Gruppe brauchte, kaum gesehen. Sein Beispiel zeigt die Gefahr, dass Jungen aufgrund der mit ihrer Kultur- und Geschlechtszugehörigkeit assoziierten Bilder patriarchaler Männlichkeit einer mangelnden Empathie und Wertschätzung durch die Erzieherinnen ausgesetzt sein können, wodurch die Förderung ihrer Identitätsentwicklung gefährdet wird. In den Blick zu nehmen ist also, dass sowohl Jungen als auch Mädchen vor dem Hintergrund der gesellschaftlich bedingten Geschlechterverhältnisse je eigene Spannungen zu bewältigen haben. Es gilt, der komplexen Dynamik der Erzieherin-Mädchen- bzw. Erzieherin-Jungen-Beziehung Rechnung zu tragen, anstatt sie in Kategorien wie „besser“ oder „schlechter“, „leichter“ oder „schwieriger“ zu denken.
Die Bedeutung des Vaters wird in der aktuellen psychoanalytischen Väterforschung im Kontext der Triangulierung diskutiert, d. h. der Entstehung der Fähigkeit des Kindes, gleichzeitig eine Beziehung zur Mutter und zum Vater zu unterhalten, aber auch zu erkennen und zu akzeptieren, dass Mutter und Vater eine Beziehung zueinander haben, sowie alle drei Beziehungen zu verinnerlichen (Dammasch, Metzger 2006). Sowohl Jungen als auch Mädchen profitieren hier von einem Vater, der sich von Anfang an fürsorglich, anerkennend und wertschätzend zur Verfügung stellt, um die Identifizierungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb der familiären Triade zu bewältigen. Als hilfreich im Hinblick auf die Eingewöhnung erwies es sich, wenn Väter ihre Gefühle über die Trennung wahrnehmen und reflektieren konnten. Nicht verarbeitete brüchige Beziehungserfahrungen mit dem eigenen Vater (Vaterverlust oder emotionaler Vatermangel) aber erschwerten es einigen Vätern unserer Stichprobe, eine von stabiler Empathie getragene Beziehung zum Kind herzustellen. Wenn die Angst vor der Wiederbelebung von Anteilen der Verletzlichkeit, Schwäche und Hilflosigkeit zu groß war, fiel es ihnen schwer, sensibel auf die kindlichen Trennungsprobleme bei der Eingewöhnung zu reagieren.
Fazit
Angesichts dieser Ergebnisse sind folgende Haltungen und Maßnahmen der Institutionen und pädagogischen Fachkräfte für einen guten Übergang aus der Familie in die Krippe als erster Bildungsinstitution und darüber hinaus von Bedeutung:
(1) Zu beachten ist die Dramatisierung des Trennungserlebens vor dem Hintergrund früherer unbewältigter Trennungserfahrungen der Familienmitglieder im Kontext von Flucht und Migration. Probleme bei der Eingewöhnung und danach sind deshalb nicht als individuelles Versagen abzuwerten, sondern in ihrer psychosozialen Dynamik zu verstehen.
(2) Die Flucht- und Migrationserfahrungen der Eltern werden an die Folgegenerationen weitergegeben und beeinflussen deren Erleben, Wahrnehmungen und Motivationen. Notwendig für die Entwicklungsförderung in der Kindertagesstätte ist deshalb die Verarbeitung migrationsspezifischer Belastungen und Traumatisierungen der Eltern, die hierfür gesellschaftliche Akzeptanz, ökonomische Sicherheit, geeignete therapeutische und beraterische Hilfen und in der Kindertagesstätte das Containment ihrer Irritationen durch interkulturelle Elternarbeit brauchen.
(3) Unter der Voraussetzung der erforderlichen institutionellen Rahmenbedingungen sind die Bereitschaft und die Fähigkeit der Fachkräfte zum wertschätzenden Umgang mit individuellen Unterschieden (Kultur, soziale Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter) hervorzuheben. Erforderlich sind außerdem die triadische Kompetenz der Erzieher(innen) im Kontext der Erzieher(in)-Eltern-Kind-Beziehung sowie ihre Fähigkeit zur Stärkung des sozialen Netzwerks der Kindergruppe.
(4) Pädagogische Fachkräfte benötigen interkulturelle und geschlechtsbewusste Reflexionsräume und die notwendige Unterstützung, um mit Irritationen und Nichtverstehen ebenso umzugehen wie mit Misstrauen und Distanz, die ihnen manchmal entgegengebracht werden. Freiräume für gründliches Hinterfragen, Ordnen und Verarbeiten vermindern die Gefahr der Entstehung von Handlungsdruck sowie die Tendenz zur Rechtfertigung der eigenen Praxis und fördern stattdessen die Bereitschaft zur kritischen Reflexion. Die dazu notwendige Forschung, Theoriebildung und Praxisberatung muss interkulturell und interdisziplinär ausgerichtet sein und die Wechselwirkung von Gender, sozioökonomischem Status, ethnischer Zugehörigkeit und Migrationshintergrund in den Blick nehmen. Dies trägt dazu bei, Inklusion im Denken und Handeln zu verankern.
Die vollständige Literaturliste ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. des. Ute Schaich ist Diplom-Pädagogin, Gruppenanalytikerin und Supervisorin in Mühlheim am Main.
Literatur
Ahnert, L. (2007): Von der Mutter-Kind- zur Erzieherinnen-Kind-Bindung. In: Becker-Stoll, F., Textor, M. (Hrsg.): Die Erzieherin-Kind-Bindung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin, München, Düsseldorf: Cornelson Scriptor. S. 33-41.
Auernheimer, G. (2010): Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz. In: Auernheimer, G. (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag. S. 35-67. Zuerst 2003.
Bohleber, W. (2008): Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. Psychoanalytische Perspektiven. In: Radebold, H., Bohleber, W., Zinnecker, J. (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Weinheim, München: Juventa.
Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag.
Fürstaller, M., Funder, A., Datler, W. (2011): Wenn Tränen versiegen, doch Kummer bleibt. Über Kriterien gelungener Eingewöhnung in die Kinderkrippe. Frühe Kindheit. Die ersten sechs Jahre: Bildung in Krippe und Kindertagespflege. 1/2011. S. 20-26.
Laewen, H.-J., Andres, B., Hédervári, É. (2003): Die ersten Tage – ein Modell zur Eingewöhnung in Krippe und Tagespflege. Weinheim, Basel: Beltz. Zuerst 1990.
Oerter, R. (2008): Kulturelle und ökologische Bedingungsfaktoren bei der Entwicklung des Menschen. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel: Beltz. S. 101-116. Zuerst 1982.
Schaich, U. (2011): Schwierige Übergänge. Trennungserfahrungen, Identität und Bildung in der Kinderkrippe. Risiko- und Bewältigungsfaktoren aus interkultureller Perspektive. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel (im Druck).
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