fK 4/08 Sievert

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Ist alles Kunst was Kinder malen?

von Adelheid Sievert

Kinder machen nach unserem heutigen Kunstverständnis keine Kunst, sondern Bilder. Aus Respekt vor der Kunst und im Interesse der Kinder sollten wir uns vom Mythos der „Kinderkunst“ verabschieden und sie von diesem unangemessenen Anspruch befreien.

„Ganz viele kleine Kunstwerke überzeugten unsere Jury“ steht in der Zeitung, wenn nach dem Malwettbewerb zum Muttertag „viele kleine Picassos, Miros und junge Wilde“ mit ihren Werken prämiert werden. Die Wortverbindung „Kind und Kunst“ klingt so selbstverständlich und einprägsam, aber gerade darum lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen.

Denn erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben Künstler, Wissenschaftler und Pädagogen begonnen, sich für die kindlichen Kritzeleien zu interessieren und sie als eine ursprüngliche und eigenständige Bildsprache zu entdecken. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Kunst entdeckten viele Künstler und Künstlerinnen nicht nur die „primitiven“ Künste der Frühzeit und der Stammeskunst sondern auch die erstaunlichen Fähigkeiten der „kleinen Wilden“ im eigenen Haus und begannen, Kinderarbeiten zu sammeln. Unter dem Titel „Mit dem Auge des Kindes“ hat 1995 eine Ausstellung in München diese Zusammenhänge aufgezeigt und nachgewiesen, dass die Kunst der Gegenwart ohne den vielfältigen Einfluss der Bildsprache der Kinderzeichnung gar nicht mehr zu denken ist (Fineberg 1995). Insofern besteht jetzt, nach dem so genannten „Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key 1900) ein grundsätzlich anderes Verhältnis zwischen Kind und Kunst als um 1900. Dies verdanken wir der modernen Kunst und – nachdem die Fotografie die Aufgabe der wirklichkeitsgetreuen Darstellung übernommen hat – dem Ende des naturalistisch geprägten Kunstverständnisses.

Nicht jedes Bild ist Kunst
Kinder sind keine Künstler und ihre Bilder sind keine Kunstwerke! Das ist keine Abwertung ihrer Kreativität, sondern ein Versuch, den eigenen Kunstbegriff zu schärfen und das je Spezifische der Kunst und der so genannten „Kinderkunst“ heute genauer zu bestimmen. Wir tun weder der Kunst noch den Kindern einen Gefallen mit der Vermischung von Kategorien, die weder der Kunst noch den Arbeiten von Kindern gerecht werden. „Es gibt viele Bilder; ein verschwindend kleiner Teil davon sind Kunstwerke. Grundsätzlich lassen sich Bilder der Kunst von anderen Bildern weder anhand materieller noch anhand sinnlicher Merkmale unterscheiden (Billmayer 2003). Denn Kunst ist heute nicht mehr aus der Analyse des Werkes allein bestimmbar, das Konzept des Künstlers oder der Künstlerin gehört untrennbar dazu. Erst in Auseinandersetzung mit diesem Kontext lässt sich ein Werk erschließen. „Das Denken des Künstlers ist konstitutiver Bestandteil des Werks“ (Lehnerer 1994, S. 8). Erst die Theoriearbeit der Künstler wie der Wissenschaftler hat auch den künstlerischen Wert der Kinderzeichnung sichtbar gemacht. „Theoriearbeit ist konstitutiver Bestandteil künstlerischer Arbeit in der Moderne“ (ebd. S. 9).

Die Bedeutung der Kinderzeichnung für das Kind
Kunst ist daher ohne Frage ein Phänomen der Erwachsenenwelt, die Kinderzeichnung hat für das Kind eine andere Funktion. Ebenso wie das Kinderspiel ist das Kritzeln, Zeichnen und Malen eine spezifisch kindliche Weise der Auseinandersetzung mit der Welt. Kinder machen keine Kunst, aber sie sind darauf angewiesen, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen. Wie in anderen Bereichen auch besteht diese Entwicklung aus einer Mischung von Nachahmung und eigenen Erfindungen. Wenn kleine Kinder entdeckt haben, dass sie – mit irgendeinem Material – bleibende Spuren in dieser Welt hinterlassen können, dann wiederholen sie dieses Spiel immer wieder. In Auseinandersetzung mit seiner Umgebung entwickelt das Kind eine Bildsprache, in der es seine Wahrnehmung der Wirklichkeit und die emotionale Verarbeitung dieser Erfahrung zum Ausdruck bringen kann. Die Unmittelbarkeit und Spontaneität dieser Erkundungen der eigenen Möglichkeiten faszinieren uns als Erwachsene, wir bewundern die Originalität und Kreativität dieser Produktivität. Das Kind genießt sein wachsendes Können und seine Fähigkeit, sich auf diese Weise seine Umwelt zu eigen zu machen und sich mitzuteilen.

Dabei sind wir Erwachsene von Anfang an mit im Spiel: Unser Lob für die brave stille Beschäftigung oder unsere Rückfragen „Was ist das?“ bestimmen die weitere Bedeutung dieser Tätigkeit für das Kind wie die inzwischen fast selbstverständliche Wertschätzung und Sammlung der Kinderzeichnungen oder ihre Indienstname als „Geschenke“ für Oma und Opa. Insofern ist auch die frühe Kinderzeichnung kein reines „Naturphänomen“ wie die Romantiker glaubten, sondern sozial und historisch beeinflusst, allerdings in viel geringerem Maße als die jeweilige Kunstentwicklung.

Im Zentrum der ästhetische Erziehung steht das Kind
Im Kindergarten beginnt die direkte ästhetische Erziehung, die vom Basteln und Ausmalen nach Vorlagen bis zu einer bewussten Wahrnehmungserziehung und Entfaltung der „Hundert Sprachen des Kindes“ reichen kann, wie sie z. B. die Reggio-Pädagogik entwickelt und in eindrucksvollen Ausstellungen dokumentiert hat (Dreier 1993). Im Zentrum dieser ästhetischen Erziehung sollte das Kind stehen mit seinen spezifischen Interessen und Bedürfnissen, nicht die Produktion „schöner“ Ergebnisse und Bilder, die wir uns zuvor in unserem eigenen Kopf als „kindgemäß“ entworfen haben. Kinder sind zwar kreativ – aber ihre Phantasie und Kreativität braucht auch Anregung und „Futter“, die Kultivierung dieser Fähigkeiten ist hier genauso notwendig wie in allen anderen Lernbereichen. Dabei können Kinder von den experimentellen Verfahren der modernen Kunst lernen – „Kinder entdecken Künstler und ihre Techniken“ in Künstler-Werkstätten „auf den Spuren großer Künstler“ von Paul Klee bis Niki de Saint Phalle – diese Angebote der pädagogischen Verlage kann man nutzen, um ihre ästhetischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.

Die Arbeitsergebnisse der Kinder sind wertvoll – nicht weil sie „Kunst“ sind, sondern weil sie einzigartige Dokumente für die individuelle Entwicklung jedes einzelnen Kindes darstellen. Zugleich aber sind sie auch ein Spiegel der Impulse, die die Kinder in der Einrichtung erhalten haben. Die Bilder der Kinder sind für sie selbst, für ihre Eltern und für die Erzieherinnen wichtige Anregungen für die weitere Arbeit und sollten daher in den Räumen der Einrichtung überall präsent sein. Gesammelt bieten sie wichtiges Material für die Lernentwicklung, ganz ohne Tests und künstliche Aufgabenstellungen.

Aber zunächst sollte man sie aufhängen – in Augenhöhe für die Kinder, aber auch für die Eltern und Erzieherinnen als Anstöße und Hinweise. Wichtig für alle Beteiligten ist auch die Beschriftung auf der Rückseite des Bildes und nicht „im Bild“ – dort kann nur die eigene Signatur stehen, und zwar nach Entscheidung des Kindes. Kinderbilder sollten also auf der Rückseite beschriftet werden, möglichst nicht nur mit Namen und Datum, sondern im Interesse eines Entwicklungsberichtes mit genauer Altersangabe (Alter des Kindes in Jahren und Monaten).

Auch wenn Erwachsene das Thema des Bildes oder Details zum Bildinhalt notieren wollen, sollten sie diese Angaben nicht in das Bild des Kindes hineinschreiben. Aus Achtung vor dem Bild, das das Kind so und nicht anders gemacht hat, sollte man auch dies nur auf der Rückseite tun! Wer einzelne Objekte oder Personen auf dem Bild genauer beschriften möchte, kann das Bild mit der Zeichnung nach außen an ein Fenster legen. Das Bild scheint durch und kann von hinten beschriftet werden.

Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in: „Welt des Kindes“, Heft 5, 2004.

Prof. Dr. Adelheid Sievert ist Professorin für Kunstpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Literaturhinweise
Billmayer, Franz: Schau`n ma mal.
Kunstwerke und andere Bilder.
In: BDK-Mitteilungen, H.4/2003, S.2-4
Dreier, Annette: Was tut der Wind, wenn er nicht weht?
Begegnungen mit der Kleinkindpädagogik.
In: Reggio Emilia. Berlin 1993
Fineberg, Jonathan: Mit dem Auge des Kindes.
Kinderzeichnung und moderne Kunst.
Katalog zur Ausstellung im Lenbachhaus, Kunstbau, München und im Kunstmuseum Bern 1995.
Stuttgart 1995
Lehnerer, Thomas: Methode der Kunst. Würzburg 1994

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