28 Aug fK 4/00 Uslucan
Gewalt in Kontexten kultureller und sozialer Verunsicherung
von Haci-Halil Uslucan
Dramatische kulturelle und soziale Veränderungen führen zu Stress, Destabilisierung und Überforderung. Das gilt insbesondere für Migranten aus dem orientalischen Raum. Wesentlich häufiger als Einheimische geraten sie in ihrem sozialen Alltag in Situationen der Uneindeutigkeit, in denen die innerhalb der Herkunftskultur eingelebten und routinisierten Handlungsformen versagen. Neben aktiven Bewältigungsversuchen können die Reaktionen auf solche wahrgenommenen Verunsicherungen und Gefährdungen persönlicher Orientierung auch in einem Rückzugsverhalten, einem trotz ihrer vermeintlichen Dysfunktionalität starren Festhalten an eigenen Werten und Normen und in defensiven Erziehungsvorstellungen und -praktiken liegen.
Doch geht es mir nicht generell um die „Lage der Ausländer in Deutschland“, sondern ich möchte mich mehr einem in der Praxis zwar brennenden, aber in der Literatur relativ wenig erforschtem Aspekt, und zwar der „Gewalt“ in Migrantenfamilien widmen.
Ist Gewalt heute noch aktuell? Zwar kann erfreulicher Weise festgehalten werden, dass ab den 1950er Jahren in Deutschland ein Rückgang körperlicher Strafen in der Erziehung zu verzeichnen ist, doch ist damit keineswegs ein Ende der Gewalt und eine restlose Pazifizierung der Gesellschaft verbunden. Vielmehr entwickelt sich Gewalt an den Randgruppen der Gesellschaft ungehindert weiter. So ist ein deutliches Ansteigen der Gewaltrate bei Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, Armut, sozialer Ausgrenzung und schwieriger Integrationsperspektive festzustellen. Wenngleich heutzutage Jugendgewalt und rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten gegen Fremde weitestgehend die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, darf dabei nicht vergessen werden, dass die meiste Gewalt in und um die Familie herum erfahren wird.
Kontexte von Gewalt in Migrantenfamilien
Gewalterfahrungen – insbesondere in der frühen Kindheit – stellen stets Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen dar, wenngleich sich bei Betroffenen nicht immer auffällige Symptome zeigen. Deshalb kann nie rechtzeitig genug interveniert werden. Immer mehr wird (innerfamiliale) Gewalt dynamisch als ein Zusammenspiel von Risiken und den ihnen entgegenstehenden Ressourcen verstanden.
Risikofaktoren auf Seiten des Kindes können u.a. sein:
- Temperament und schwere Erziehbarkeit: unruhige Verhaltensweisen, die bei Eltern aggressive Reaktionen provozieren.
- Alter und Gesundheit des Kindes: entwicklungsbedingt haben jüngere Kinder eher Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren und werden eher Opfer von Gewalterfahrungen, weil sie ihr Verhalten und die darauffolgende elterliche Reaktion nicht verbinden bzw. antizipieren können
Risikofaktoren auf Seiten der Eltern können u.a. sein:
- Elternpersönlichkeit: misshandelnde Eltern haben häufig Schwierigkeiten der Impulskontrolle, ein niedriges Selbstwertgefühl und beschränkte Fähigkeiten zur Empathie.
- Junges Alter der Eltern: selbst noch Teenager und bedürftig, haben sie sensibel zu sein für kindliche Bedürfnisse, was sie häufig überfordert. Gerade dieses Phänomen trifft gehäuft für türkische Mütter zu. Nicht selten erlebt man in Beratungs- und Therapiekontexten junge Frauen, die auch in Deutschland den ländlichen Traditionen folgend mit knapp 18 Jahren geheiratet haben (oder verheiratet worden sind) und im Alter zwischen 20 und 25 Jahren zwei oder mehr Kinder zu versorgen haben.
- Relative Armut und geringer Bildungsstand der Eltern.
Gerade für türkische Familien sind diese Zusammenhänge besonders auffällig: Zum einen ist bei ihnen die Arbeitslosigkeit – was in der Regel Armut und materielle Deprivation impliziert – mit rund 20% doppelt so hoch wie die der westdeutschen Bevölkerung. Damit liegen sie auf einer vergleichbaren Ebene mit der ostdeutschen Bevölkerung. Zum anderen verfügen die türkischen Migranten der ersten Generation vielfach nur über eine fünf- bis maximal achtjährige Schulbildung. Denn erst seit zwei Jahren ist in der Türkei die Schulpflicht auf acht Jahre angehoben worden.
Bei der Suche nach weiteren Risikofaktoren konnte die Forschung stets auch eine intergenerationale Transmission von Gewalt feststellen; d.h. Eltern, die selbst in ihrer Kindheit gehäuft Opfer von Gewalterfahrung waren, sind in der Erziehung ihrer eigenen Kinder eher geneigt, Gewalt auszuüben bzw. Gewalt als „Normalität“ zu verstehen. Denn Kinder, die in innerfamiliären Sozialisationsprozessen die Gewaltanwendung von Eltern erfahren, lernen dabei zugleich auch bestimmte Muster der Konfliktaustragung kennen. Ihnen wird vorbildhaft die Unfähigkeit vorgelebt, Konflikte zu akzeptieren bzw. sie auf eine deeskalierende Weise auszutragen. Eine Studie von Herrenkohl, Herrenkohl und Toedter konnte feststellen, dass 56% der aktiv gewalttätigen Eltern selbst in ihrer Kindheit Gewalt erlitten hatten. Noch höher ist das Risiko, selbst in der Erziehung Gewalt anzuwenden, wenn innerhalb der Partnerschaft die Mütter Gewalt erfahren. Demnach stellt das höchste Gewaltrisiko für ein Kind eine reviktimisierte Mutter dar, die sowohl als Kind wie auch innerhalb der Partnerschaft Gewalt erfahren hat bzw. erfährt. Eine intergenerationale Transmission von Werthaltungen und erzieherischen Praktiken ist in Migrantenfamilien in der Regel stärker als bei einheimischen Familien, da jene auch in der Fremde eher zur Beibehaltung eines „familiären Kerns“ tendieren.
Wie bricht man den Teufelskreis? In einigen Studien konnte gezeigt werden, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, später aber als Elternteil nicht gewalttätig wurden, zumindest zu einem Elternteil eine enge, sichere Bindungen aufwiesen. Diese frühkindliche Bindungserfahrung, die Erfahrung der Verfügbarkeit relevanter Bezugspersonen, die der Ausbildung positiver Überzeugungen von sich selbst als wertvolle Person beitragen, erwies sich als ein eindeutiger Schutzfaktor. Als zusätzlicher protektiver Faktor wirkte bei diesen Eltern ein weites Netz sozialer Bezugs- und Unterstützungspersonen. Im Umkehrschluss kann festgehalten werden, dass zu Gewalt neigende Eltern häufig jene sind, die einsam, isoliert und ohne Unterstützungssysteme auskommen müssen, bei denen also psychosozialer Stress nicht durch Bezugspersonen im sozialen Nahraum abgefedert werden kann.
Betrachtet man Gewalt in einem ökologischen Kontext, so muss als ein weiterer Risikofaktor die Toleranzsschwelle für Gewalt in der unmittelbaren Lebenswelt bzw. Gemeinde und im weiteren Sinne auch in der Kultur beachtet werden, womit wir uns allmählich den türkischen Familien nähern. So können gerade in unsicheren Situationen kulturell teilweise legitimierte – zu Sprichwörtern und Idiomen geronnene – Ideologien handlungswirksam werden, von denen ich einige exemplarisch nennen möchte: „Kizini dövmeyen dizini döger“ (Wer seine Tochter nicht (beizeiten) schlägt, schlägt sich am Ende (aus Verzweiflung) auf die Knie), empfiehlt z.B. eines dieser Idiome, wie bei der Erziehung von Mädchen vorzugehen sei. „Dayak cennetten cikmistir“ (Gewalt bzw. Schläge kommen aus dem Paradies), heißt es allgemein zur Legitimation von Gewalt gegenüber Kindern. „Eti senin, kemigi benim“ (Das Fleisch gehört dir, die Knochen gehören mir), vertrauen einige Väter im schulischen Kontext (und auch in den Koranschulen) ihre Kinder den Lehrern an und bestärken ein von der Familie an die Schule weitergegebenes Strafsystem bzw. halten es dadurch aufrecht. Schließlich heißt es für diejenigen, die auch nach zweiter Mahnung nicht sofort kuschen: „Lafdan almayani etmeli takdir, takdir den almayanin hakki kötektir“ (Wer durch Worte nicht gehorcht, ist zu mahnen; wer auch nach Mahnung nicht gehorcht, ist zu schlagen). Zuletzt wird manchmal auch auf den Koran rekurriert, wonach die ungehorsamen Frauen zunächst zu mahnen, dann im Bett zu meiden und, falls alles nicht hilft, zu schlagen seien (vgl. Koran: Sure Nisa, Vers 34).
Werden solche Praktiken von den jeweiligen Akteuren überhaupt als Gewalt wahrgenommen? In der Regel beinhaltet der Gewaltbegriff neben der Schädigung des anderen auch eine Intentionalität und eine moralische, in der Regel negative Bewertung der jeweiligen Handlung. Die Wahrnehmung und Einordnung von Gewalterlebnissen erfolgt stets vor dem Hintergrund historisch und kulturell etablierter normativer Bewertungen. Möglicherweise werden viele türkische Eltern Teile ihrer erzieherischen Praktiken gar nicht als Gewalt, als „verwerflich“, als moralisch sanktionierte Handlungen verstehen, weil sie zum Common Sense einer eingelebten Wirklichkeit, zu einer sich allein durch ihr alltägliches Vorkommen legitimierenden Praxis zählen.
Doch bevor pauschal über „die“ Türken in Deutschland gesprochen wird, gilt es festzuhalten, dass es „die“ Türken gar nicht gibt und der Migrationsprozeß vielfältige Facetten aufweist. Die Heterogenität unter Türken ist größer als in der Mehrheitskultur: wir haben hier einerseits traditionell-islamische Gruppierungen, aber auch laizistisch-modern eingestellte, die bewusst einen europäischen Lebensstil pflegen. Auch bei einer regionalen und ethnischen Differenzierung zeigen sich z.B. zwischen Lazen (den Bewohnern der Schwarzmeerküste), alevitischen und kurdischen Familien starke Unterschiede.
Kulturgeschichtliche Aspekte
Eine Kultur, die von Werten der Maskulinität und Dominanz geprägt ist, wie sie die türkische unzweifelhaft ist, erhöht die Gewaltbereitschaft, weil sie bestimmte aggressive Verhaltensdispositionen positiv sanktioniert. Norbert Elias hat schon in den 1930er Jahren die zunehmende Pazifizierung der europäischen Gesellschaften, die Delegation der physischen Gewalt an die Zentralmacht (Staat), die Verinnerlichung des Fremdzwanges in Selbstzwang und die Etablierung von Langsicht und Berechenbarkeit als elementare psychische Inventare des neuzeitlichen Individuums festgestellt. Doch scheint das nur für Westeuropa (und auch dort nur in groben Zügen) zu gelten.
Statt Gewalt an die Zentralmacht zu delegieren, hat die türkische Gesellschaft – möglicherweise durch die geringer verrechtlichten Strukturen – Konfliktaustragung seit je in die eigenen Hände genommen, d.h. sie hat zwischenmenschliche Differenzen ohne die übergeordnete Instanz der Justiz zu lösen versucht. Dadurch sind überindividuelle, historisch tiefsitzende affektive Toleranzschwellen für Gewalt entstanden, die unabhängig vom Einzelnen als ein „sozio-kultureller Habitus“ wirken, als geprägte Handlungsmuster mit normativer Verbindlichkeit in bestimmten Konfliktkonstellationen. Beispielhaft hierfür sind die gerade unter türkischen und arabischen Jugendlichen geläufigen Konflikte um Ehre, in der stets auch eine Dimension sexueller Identität tangiert wird, die in dieser Form bei deutschen Jugendlichen kaum ausgeprägt ist.
Einer „Anmache“ gegenüber passiv zu bleiben zum Beispiel bedeutet im lebensweltlichen Kontext türkischer Jugendlicher das symbolische Einnehmen der Position der Frau bzw. des passiv Schwulen, also dessen, der sich im weitesten Sinne mit Blicken, Worten oder Handlungen penetrieren lässt. Insbesondere ehrverletzende Beleidigungen (zumeist innerhalb des eigenen ethnischen Kontextes) sind für den beleidigten Mann Herausforderungen, die unabdingbare, oft gewalttätige Entgegnungen erfordern. Diese Herausforderung nicht anzunehmen, sich dieser „Logik der Herausforderung“ und ihrer Erwiderung nicht zu stellen, ist gleichbedeutend mit der Herauskatapultierung des Selbst aus dem Kreis der ehrenwerten Männer. Verwerflich ist aus der Perspektive der Akteure nicht primär das Unterliegen in einer gewaltsamen Auseinandersetzung, sondern vielmehr sich dem Kampf zu entziehen. Deshalb ist ein Verständnis von Gewalt, das von der sexuellen Identität und dem spezifischen Konzept von Männlichkeit entkoppelt ist, fast aussichtslos, sind doch Ausweichmanöver, Passivität, gesenkter Blick etc. Attribute der traditionellen Vorstellung von einer Frau.
Verunsicherungen und Belastungen im Eltern-Kind-Verhältnis
Ein Wechsel des ökologischen Kontextes bringt für jeden Menschen stets einen gewissen Betrag an Streß und Belastung mit sich. Für Migranten aus der Türkei ist dies aber in doppelter Hinsicht relevant: Sie müssen neben den alltäglichen Belastungen auch immer das soziale und kulturelle Entwicklungsgefälle bzw. den Modernisierungsrückstand zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft individuell aufholen und bewältigen. Ein gewisser Zwang bzw. sozialer Druck zur Reorganisation der Familienstruktur (den Erfordernissen der Aufnahmegesellschaft) ist dabei unausweichlich. Türkische Migranten vollziehen nicht nur einen Prozess der Reorientierung, sondern eine Reorientierung auf einem wesentlich differenzierteren Niveau in Deutschland. Im Klartext heißt das: auch Franzosen oder Holländer müssen sich in Deutschland neu orientieren, aber Migranten aus der Türkei, die größtenteils dörflich-agrarischen Verhältnissen entstammen, müssen das weit schwierigere Problem lösen, neben dem technologisch-zivilisatorischen Entwicklungsgefälle auch die symbolisch-kulturelle Verschiedenheit (Sprache, Religion, Werte) zu verarbeiten.
Innerhalb dieses Kontextes treten für Migranten häufig Situationen der Uneindeutigkeit auf; die Erwartungen der (einheimischen) Interaktionspartner und der sozialen Umwelt sind für sie schwieriger zu deuten als für Menschen, die die Werte und Rollenerfordernisse ihrer Kultur verinnerlicht haben. Die Grundanforderung an eine Identitätswahrung, eine Balance zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu halten, ist für ausländische Familien und Kinder wesentlich höher als für Einheimische. Für sie gilt: Zuviel Wandel und Aufgeben des Eigenen führt zu Chaos, zu wenig Wandel zu Rigidität. Sie müssen einerseits über die Differenz zum Anderen die eigene Identität wahren, andererseits sich aber auch um Partizipation kümmern und ein Stück weit das Fremde übernehmen. Integration nach innen (Erhalten von Traditionen) und Öffnung nach außen stellen sich dabei als notwendige, aber teilweise widersprüchliche Anforderungen dar. Diese Belastungen führen zu Stress und Verunsicherung. Möglicherweise ist Gewalt – sei es innerfamiliär, sei es nach außen – ein Ausdruck des Misslingens dieser schwierigen Syntheseleistung.
Spielen wir diese unterschiedlichen Belastungen und Grundverschiedenheiten ausländischer und einheimischer Familien am Beispiel der Eltern-Kind-Interaktion durch: Während das Geschlecht in deutschen Familien relativ selten eine ausschlaggebende Rolle spielt, werden türkische Kinder bereits mit ihrer Geburt weitestgehend in einen semantisch vorstrukturierten Raum hineingeboren. So wünschten sich nach einer Studie von Kagitcibasi (1982) nahezu 84% der türkischen Familien einen Sohn, während nur 16% sich eine Tochter wünschten. Noch krasser waren die Präferenzen bei der Befragung von Vätern: diese wünschten sich in 92,5% aller Fälle einen Sohn. Mädchen kommen also in den eher traditionalen Familien in 9 von 10 Fällen als weniger erwünschte Kinder zur Welt. Noch bevor sie sich eigenmächtig als Urheber einer Handlung betrachten können, haben Söhne und Töchter große familiendynamische Veränderungen bewirkt. So wertet die Geburt eines Sohnes in der Regel die Mutter auf; die Geburt einer Tochter dagegen ist vielfach Anlass, es erneut zu versuchen und es beim zweiten Mal „besser“ zu machen. Diese unterschiedlichen Projektionen auf die Kinder finden häufig ihren symbolischen Niederschlag in der Namensgebung: wenn endlich nach mehreren Töchtern ein Sohn geboren wird, so erhält er oft Namen wie Murat (sehnsüchtiger Wunsch) oder Ümit (Hoffnung). Während ein Sohn Altersvorsorge und Fortführung des Familiennamens impliziert, werden Töchter als potentielle Fremde wahrgenommen.
Die Studie zeigte weiterhin, dass Aggressivität bei türkischen Jungen eher toleriert wird als bei Mädchen, wie übrigens in westlichen Gesellschaften auch, aber Eltern bei beiden Geschlechtern im Vergleich zu westlichen Gesellschaften ihre Kinder wenig zu Selbständigkeit ermunterten. So wünschten sich nahezu 60% der Eltern Gehorsam als die wertvollste Eigenschaft ihrer Kinder; nur rund 18% wünschten sich Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein. Ein hoher Stellenwert des Gehorsams konnte auch für andere Länder gezeigt werden, in denen Kinder in die Altersversorgung der Eltern herangezogen werden. Denn gehorsame Kinder, so nimmt man an, werden sich im Alter ihren Eltern eher annehmen als autonome, unabhängige Kinder, die ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen. Doch vor dem Hintergrund einer individualistischen und sich weiter individualisierenden Gesellschaft wie Deutschland stoßen solche Haltungen rasch an ihre Grenzen: Gerade wenn Kinder auf ihre Selbständigkeit pochen, wie es im deutschen Erziehungssystem geschätzt wird, bringen sie die zumeist kollektivistisch orientierten Eltern in Konflikte: nicht selten deuten diese dann die Selbständigkeit ihrer Kinder als Aufbegehren, als eine Revolte, als Respektlosigkeit ihnen gegenüber.
Durch Schulbesuch und stärkere interkulturelle Erfahrungen verfügen türkische Kinder in der Regel über bessere Sprachkompetenzen als ihre Eltern. Daraus entsteht vielfach eine neuartige Eltern-Kind-Beziehung. Häufig werden Kinder beauftragt, innerhalb gewisser Grenzen die Aufgabe ihrer Eltern (wie Dolmetscherdienste bei Behörden und Ärzten) zu übernehmen, was langfristig zu einer Parentifizierung und Rollendiffusion führen kann. So sind sie zwar in ihren affektiven Bezügen und Bedürfnissen von ihren Eltern abhängig, sind aber wiederum mit ihrem für die deutsche Kultur relevanten kognitiven Wissen und ihrer Kompetenz ihren Eltern überlegen. Durch diese Unterlegenheit, durch diese „Schülerposition“ der Eltern wird die traditionell autoritäre, hierarchische Eltern-Kind-Beziehung in Frage gestellt.
Noch zerbrechlicher wird die Eltern-Kind-Beziehung, wenn Migrantenkinder von ihren Eltern vor widersprüchliche Anforderungen gestellt werden: einerseits sollen sie die deutsche Sprache beherrschen, denn nur sie garantiert Zugang zu wichtigen Ressourcen, andererseits aber sich nicht zu sehr mit der deutschen Kultur anfreunden. Sie sollen – wie es eine Schülerin formuliert – einerseits gut in der Schule sein, aber auch im Haushalt helfen: „von einer Seite (deutsche Schule) erwarten die: du musst so weit wie möglich kommen. Von der anderen Seite (Familie) sagen die: ja, du musst aber auch an den Sitten, die du hast oder die wir haben, festhalten. Aber dass die nicht sehen können: ja halt, durch dieses In-die-Schule-Gehen, dass die (Kinder) sich total ändern. Dass man das überhaupt nicht mehr halten kann, dass man eine andere Sicht da bekommt. Und die auch wieder nach Hause trägt.“
Gewalt in türkischen Familien
Die selbst erfahrene innerfamiliale Gewalt ist in türkischen im Vergleich zu deutschen Familien wesentlich höher und sie wirkt quasi prägend auf die spätere Persönlichkeitsentfaltung. Nach den Studien von Pfeiffer (1999) hatten 5,4% der deutschen Jugendlichen im Jahr vor der Befragung Misshandlungen und 7,5% schwere Züchtigung erfahren. Bei den türkischen Jugendlichen lag diese Rate bei 17,8% Misshandlungen und 11% Züchtigungen. Bei den eingebürgerten Türken lagen diese Häufigkeiten mit 18,2% Misshandlungen und 12,4% Züchtigungen in etwa gleich. Fast jeder fünfte der befragten türkischen Jugendlichen ist also zu Hause misshandelt worden.
Warum, so könnte man fragen, ist gerade bei denen, die hier geboren sind oder sehr lange hier leben, die Gewaltrate sehr hoch? Erweist sich das Konzept der Integration als eine Illusion? Eine Antwort der Sozialwissenschaften hierfür liegt in Folgendem: Migranten sind in den ersten Jahren der Ankunft in Deutschland noch relativ anspruchslos. Sie nehmen ohne Murren in Kauf, dass sie sozial benachteiligt werden, also Erfahrungen der Segregation ausgesetzt sind. Mit wachsendem Aufenthalt aber steigen ihre Ansprüche, immer mehr klagen sie ihre Partizipationswünsche ein. Zumindest von der Anspruchslage bzw. ihrem Anspruchsniveau her werten sich insbesondere die in vielen Fällen hier geborenen Jugendlichen den Einheimischen gleich. Ihnen aber stehen nicht immer die gleichen Chancen wie den Einheimischen offen. Diese Enttäuschung und Frustration, die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit, macht einige von ihnen anfällig für Gewalt.
Eine weitere Erklärung der hohen Rate von Familiengewalt ist auch in der relativ geringen Scheidungsrate von Türken mit rund 7% zu sehen. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Ehen stabiler sind, sondern möglicherweise ist es als ein Hinweis zu werten, dass bei entsprechender Konfliktlage deutsche Ehen schon längst geschieden wären, während türkische Ehen aufgrund des nach wie vor bestehenden Scheidungstabus in traditionalen Familien weiterhin fortbestehen und somit auch die vorhandene Gewalt unter den Partnern sich fortsetzt. Das Risiko innerfamilialer Gewalt gegen andere Familienmitglieder bzw. Kinder steigt dadurch natürlich. Jungen erlernen dabei indirekt über den Vater die Täterrolle. Das fördert die Ausbildung bzw. unkritische Weitergabe des traditionellen Männlichkeitskonzeptes, bei dem der Mann zur Not auch mit Gewalt Gehorsam und Respekt erzwingt. Mädchen wird über das Beobachten der erlittenen Gewalt der Mütter indirekt die Opferrolle herangetragen. Dadurch erhöht sich das Risiko, selbst später in die Rolle des Opfers zu geraten.
Warum steigt aber die Rate der Partnergewalt trotz eines längeren Aufenthaltes in Deutschland? Eine mögliche Antwort ist darin zu finden, dass der familiäre Zusammenhalt in den ersten Jahren noch stark ist, innerfamiliäre Hierarchien des traditionellen Familienbildes noch ungefragt akzeptiert werden, diese aber mit längerem Aufenthalt und der Bekanntschaft mit den eher egalitären Partnerschaftsformen in der Aufnahmegesellschaft immer mehr angezweifelt werden. Diese aufbrechenden Familienmuster, die wankenden Hierarchien, erzeugen Konflikte, die in Gewalt terminieren bzw. in der sich Gewaltanwendung als Ausdruck der begrenzten Konfliktlösefähigkeit zeigt.
Statt eines Mythos der stabilen anatolischen Familie zu errichten, müßten wir vielmehr fragen, wieweit überhaupt die zumeist selbst verunsicherten Familien in der Lage sind, ihren Kindern ein Verständnis der deutschen Gesellschaft zu geben, sie in das eher deutsch geprägte gesellschaftliche Leben zu integrieren, ihnen Sicherheit und Selbstbewusstsein zu vermitteln, damit sie wichtige Entwicklungsaufgaben wie Schule und später Beruf meistern können. Deshalb sind hier in erster Linie Maßnahmen, die die Erziehungskapazität türkischer Eltern erweitern, als Intervention relevant. Denn das wird letztlich positiv auf die Kinder zurückwirken.
Die vollständige Fassung einschließlich der Tabellen und Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. Haci-Halil Uslucan ist Literaturwissenschaftler und Psychologe. Er ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
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