28 Aug fK 4/00 Bergmann
Mehr Respekt vor Kindern.
von Christine Bergmann
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
herzlich willkommen hier in der ufafabrik, die wie kein zweiter Ort in Berlin ein Platz für Kinder, ein Platz für Familien ist.
Ihr Tagungstitel „Zukunft der Familie –Familie der Zukunft“ wirft zahlreiche Fragen auf: Hat Familie überhaupt eine Zukunft und wie sieht das familiale Zusammenleben zukünftig aus? Für mich schließt sich daran eine weitere Frage an, die wir uns stellen müssen: Wie können wir die Familien in Zukunft besser unterstützen?
Noch nie zuvor gab es so viele unterschiedliche familiale Lebensformen in unserer Gesellschaft wie heute. Die Entwicklungen in den letzten Jahre zeigen: Familiales Zusammenleben ist nichts Statisches, sondern verändert sich in vielfältiger Weise. Zum einen entscheiden sich Menschen für bestimmte Lebensformen, zum anderen werden sie durch bestimmte Ereignisse im Laufe ihres Lebens mit neuen Formen des Zusammenlebens konfrontiert. Moderne Familienpolitik, das heißt sich an der Vielfalt der existierenden Lebensformen zu orientieren und diese zu respektieren. Akzeptieren wir die verschiedenen Lebensformen und betrachten sie nicht als Krisenphänomene, sondern vielmehr als große Leistung sich an gesellschaftliche Veränderungen anzupassen, dann sind unentwegte Untergangsszenarien überflüssig. Dynamik ist eben ein Wesenselement des Zusammenlebens in Familien. Die Institution Familie ist auch heute noch viel stabiler als häufig behauptet wird. Und: der positive Stellenwert von Familie hat bei den Menschen in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Menschen suchen vor allem emotionalen Rückhalt in der Familie. Familie ist also kein überlebtes Modell des Zusammenlebens, wie häufig behauptet, sondern sie vermittelt der nachwachsenden Generation weiterhin Stabilität und Geborgenheit. Die jüngste Shell-Jugendstudie belegt einmal mehr den hohen Stellenwert der Familie besonders bei jungen Leuten. Annähernd 90% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wünschen sich zukünftig Kinder. Im Vergleich zu früheren Generationen gibt es weniger Konflikte zwischen Jugendlichen und Eltern. Heute bestimmen weniger Befehl und Gehorsam, sondern stärker Verhandlungsprozesse den Alltag. (…)
Familienpolitik in meinem Verständnis legt nicht nur Artikel 6 Grundgesetz zugrunde (Schutz von Ehe und Familie), sondern auch Artikel 3 Grundgesetz (Gleichberechtigung von Mann und Frau) und die Rechte der Kinder, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten sind. Familienpolitik muss hier Rahmenbedingungen schaffen, damit diese Ziele miteinander vereinbar werden und nicht eins schwerer wiegt als das andere.
Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der den meisten Menschen individuelle Wahlmöglichkeiten für die Gestaltung ihres Lebens wie in keiner Zeit zuvor offen stehen. Viele junge Menschen würden gerne Kinder haben, sie sehen aber oft keine Möglichkeit, diesen Wunsch umzusetzen. Ich halte es für unsere vordringliche Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass junge Menschen ihren Kinderwunsch auch leben können, dass die Übernahme von Elternverantwortung nicht gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf andere Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist für mich eine Frage der Chancengleichheit. (…)
Wir wissen: Im Mittelpunkt der Lebensplanung junger Menschen stehen Beruf, Partnerschaft und Familie gleichwertig nebeneinander. Dabei ist es ihr Ziel, eine Balance zwischen Familie und Beruf zu finden. Immer mehr junge Männer möchten sich nicht ausschließlich auf den Beruf und die Karriere konzentrieren, und die jungen Frauen möchten einer qualifizierten Berufstätigkeit nachgehen und ökonomisch auf eigenen Beinen stehen. Während aber die Geburt eines Kindes für Frauen eine deutliche Schwerpunktsetzung zugunsten der Familienarbeit bedeutet, engagieren sich Männer in dieser Phase der Familiengründung verstärkt im Beruf und sind in der Familie nicht so aktiv, wie sie es oft gerne wären. Junge Väter äußern heute den Wunsch, mehr von ihren Kindern haben zu wollen und bei der Erziehung ihrer Kinder eine wichtigere Rolle zu spielen. Wir wollen Väter motivieren, aktiv Verantwortung in der Familie zu übernehmen. Daher ist das Thema „Mann und Familie“ ein Schwerpunktthema unserer Politik. Wir haben mit der Reform des Erziehungsurlaubs, der zukünftig Elternzeit heißt, bereits Rahmenbedingungen für mehr Väterverantwortung geschaffen. Künftig können Väter und Mütter gleichzeitig Elternzeit nehmen, verbunden mit einem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit bis zu 30 Stunden pro Woche. Das ist ein großer Schritt. Wir brauchen mutige Männer in unserem Land, Männer, die eine neue Balance zwischen Beruf und Familie vorleben. Das verändert auch die Kultur in unseren Unternehmen – hin zu mehr Familienfreundlichkeit und Chancengleichheit.
Zu einer modernen Kinder- und Familienpolitik gehört, dass wir Kinder respektieren, dass wir deutlich machen, dass Gewalt kein akzeptiertes Mittel der Erziehung ist. In der Erziehung wird das Fundament für das spätere Leben gelegt, in der Familie lernen Kinder die Regeln und Normen des Zusammenlebens. Wenn Kinder in der Familie lernen, mit Konfliktsituationen gewaltfrei umzugehen, dann werden sie später auch eher versuchen, Streitigkeiten ohne Gewalt zu lösen. Gewaltfreie Erziehung ist also auch Prävention gegen Jugendgewalt und Jugenddeliquenz.
Gewalt in der Familie ist in Deutschland noch immer erschreckend weit verbreitet. Rund 80% der Kinder geben in Umfragen an, von ihren Eltern geohrfeigt worden zu sein, rund 30% berichten über ein Tracht Prügel im Elternhaus. Pro Jahr erleiden in Deutschland etwa 150.000 Kinder unter 15 Jahren körperliche Misshandlung durch ihre Eltern. Gewalt in der Kindheit prägt das ganze Leben. Auch wenn nicht jedes geschlagene Kind automatisch zum Gewaltverbrecher wird, kann Gewalt in der Erziehung schwerwiegende Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern zu Folge haben.
Man muss ein Kind nicht schlagen, um es zu verletzen. Es geht nicht alleine um körperliche Gewalt. Auch wenn Kinder auf Dauer von oben herab behandelt werden, mit Liebesentzug bestraft werden und keinen Raum zur eigenen Entfaltung haben, wird ihre Entwicklung behindert. Auch seelische Misshandlungen haben weitreichende Folgen, wie beispielsweise Ängste, Depressionen, Schlafstörungen oder auch ein geringes Selbstwertgefühl. Auch Worte können Kinder schlagen.
Gewalt erzeugt Gewalt. Untersuchungen belegen klar, dass Opfer elterlicher Gewalt später vermehrt selbst Gewalt anwenden: Wer geschlagen wird, neigt später dreimal häufiger dazu, selbst zu schlagen. In unserer Gesellschaft muss es deshalb selbstverständlich werden, dass Kinder ohne Gewalt – egal in welcher Form – erzogen werden. Viel zu lange galt der Spruch, dass eine Tracht Prügel noch niemandem geschadet hat.
Der Deutsche Bundestag hat aus diesem Grund das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ verabschiedet. Das Gesetz stellt unmissverständlich fest: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“.
Mit einer Gesetzesänderung alleine ist es jedoch noch nicht getan. Wir brauchen ein verändertes Erziehungsklima in unserer Gesellschaft, ein Klima das auf Förderung, Fürsorge und Respekt ausgerichtet ist und in dem Gewalt, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen keinen Platz haben. Um dieses neue Erziehungsleitbild in der Gesellschaft zu verankern, haben wir in dieser Woche die Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ gestartet. Damit wollen wir das neue Gesetz flankieren.
Die Kampagne ist zweigleisig konzipiert. Sie umfasst zum einen Plakate, Anzeigen und Fernsehspots. Zum anderen gibt es viele Einzelprojekte und Vor-Ort-Aktionen überall in Deutschland, mit denen Eltern bei der Erziehung unterstützt werden sollen. Dabei ist mir eines besonders wichtig: Wir wollen Eltern nicht an den Pranger stellen. Natürlich können Eltern auch einmal Fehler in der Erziehung ihrer Kinder unterlaufen. Dann darf man sich bei einem Kind auch einmal entschuldigen.
Und auch das möchte ich klar stellen: Gewaltfreie Erziehung heißt nicht, dass die Eltern keine Erziehungsgewalt mehr hätten. Im Gegenteil: Nach unserer Verfassung ist Erziehung das Recht der Eltern und auch die zuerst ihnen obliegende Pflicht. Gewaltfreie Erziehung heißt nicht konfliktfreie Erziehung. Eltern müssen in der Erziehung auch ganz klare Grenzen setzen.
Mit unserer Kampagne wollen wir erreichen, dass das Thema Kindererziehung wieder zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema wird. Die wenigsten Eltern setzen vorsätzlich und planmäßig Gewalt als Erziehungsmittel ein. In vielen – wahrscheinlich den meisten – Fällen sind Aggression und Gewalt ein Zeichen von Überforderung und Hilflosigkeit. Wir wollen Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken, sie zu einem an den Rechten und Bedürfnissen des Kindes orientierten Erziehungsverhalten motivieren, ihnen Hilfe und Unterstützung in Erziehungsfragen anbieten und ihnen Wege zur gewaltfreien Konfliktlösung aufzeigen. (…)
Ich freue mich, dass wir heute im Rahmen dieses Kongresses die Berliner Vor-Ort-Aktionen der Kampagne eröffnen. Mit viel Kreativität haben die Deutschen Liga für das Kind, der Rowohlt Taschenbuch Verlag und der Arbeitskreis Neue Erziehung hier ein überaus vielfältiges und buntes Programm auf die Beine gestellt, das sich sehen lassen kann. Ich möchte allen ganz herzlich danken, die dazu beigetragen haben, dass dies möglich werden konnte. Die Berliner Vor-Ort-Aktionen werden ein Jahr lang mit unterschiedlichsten Initiativen die Familien, Eltern, Kinder und Fachleute zu einem kreativen Dialog über das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung anregen. Die nächsten beiden Tage werden einen Vorgeschmack von dem geben, was da an Ideenreichtum auf uns zukommt. (…)
Die vollständige Fassung ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
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