fK 3/98 Sommerfeld2

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kindergärten sind Antworten auf die Lebensbedingungen von Kindern und Familien

von Verena Sommerfeld

Wenn diese Behauptung von Wissenschaftlerinnen des Deutschen Jugend-Instituts stimmt, können die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung schlecht zuhören. Die Mehrheit unserer Kindereinrichtungen paßt nämlich zu einer Familienwirklichkeit, die Jahrzehnte zurückliegt.

Zwei Drittel aller Kindergärten haben in den westlichen Bundesländern noch Öffnungszeiten von 8 bis 12 Uhr und (nicht immer) 14 bis 16 Uhr. Dieser Halbtags-Kindergarten entspricht dem Familienideal der nichtberufstätigen Hausfrau. Inzwischen befürwortet aber quer durch alle Schichten ein wachsender Teil der Bevölkerung die Erwerbstätigkeit beider Elternteile (Bertram 1991). Immer weniger junge Mütter wollen nach der Geburt des ersten Kindes ihren Beruf ganz aufgeben. Die Mehrheit wünscht sich eine Teilzeitbeschäftigung, spätestens wenn das Kind in den Kindergarten kommt. Der Anteil der berufstätigen alleinerziehnden Eltern wächst kontinuierlich.

Aber auch Eltern mit Kindern bis drei Jahre haben veränderte Bedürfnisse. Viele Mütter – und die wenigen Väter im Erziehungsurlaub – wollen stundenweise Kontakt zum Beruf halten oder ich weiterbilden. Durch die gewachsene Mobilität haben junge Familien weniger Verwandte oder gewachsene Nachbarschaften am Ort, die sie bei stundenweiser Abwesenheit unterstützen können.

Eine Normalfamilie, an deren Bedürfnissen sich Jugendhilfe-Planer orientieren könnten, gibt es in der individualisierten Gesellschaft nicht mehr. Der Anspruch des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes, Kindertageseinrichtungen sollen „familienergänzend“ sein, muß deshalb neu gefüllt werden.

Was bedeutet familienergänzend und familienunterstützend heute ?

Nach einem traditionellen Verständnis sind Familie und Kindergarten getrennte Welten, die unabhängig voneinander verschiedene Ziele und Aufgaben erfüllen. Die Hauptverantwortung für Erziehung und Betreuung von Kindern bis sechs Jahre tragen die Eltern. Der Kindergarten kann die Familie ergänzen , z. B. indem er Vorschulkindern Gruppenerfahrungen außerhalb der Familie ermöglicht. Eine Zusammenarbeit mit Eltern über die üblichen Tür- und Angel-Gespräche hinaus ist nach diesem Modell nur bei Problemlagen notwendig.

Heute gehen Fachleute davon aus, daß Familie und Kindertageseinrichtung sich überschneidende Systeme sind. Eine intensive Beziehung zwischen ihnen wirkt sich positiv auf die kindliche Entwicklung aus und wird damit zum Qualitätsmerkmal von Kinderbetreuung (Textor 1997).

Der dafür geprägte Begriff „Erziehungspartnerschaft“ rückt die gemeinsame Verantwortung in den Mittelpunkt der Beziehung zwischen Eltern und Erzieherinnen. Erziehungspartnerschaft bedeutet „nicht nur den Austausch von Informationen über das Verhalten, die Entwicklung und Erziehung des Kindes im jeweiligen System, sondern geht einen entscheidenden Schritt weiter: Familie und Kindertageseinrichtung versuchen, ihre Erziehungsziele, -methoden und -bemühungen aufeinander abzustimmen, den Erziehungsprozeß gemeinsam zu gestalten, sich wechselseitig zu ergänzen und zu unterstützen. Sie kooperieren miteinander, wenn es gilt, Probleme mit dem jeweiligen Kind zu bewältigen oder ihm zu helfen, bestimmte Schwierigkeiten zu meistern.“ (Textor 1997). Das Kind soll in seiner Ganzheit gesehen und Kontinuität zwischen den Lebensbereichen hergestellt werden.

Dies gelingt allerdings nur, wenn die Erzieherinnen sich aufgrund ihrer Fachkompetenz nicht wie Besserwisser verhalten. Beide Seiten müssen bereit sich, sich füreinander zu öffnen und gleichberechtigt miteinander kommunizieren.

Die Öffnung der Kindertagesstätte zur Familie soll Eltern ermöglichen, auf die pädagogische Konzeption und den Tagesablauf Einfluß zu nehmen. Sie können sich an Projekten, Festen, Ausflügen, Renovierungs- und Gartenarbeit und mancherorts auch in der pädagogischen Arbeit beteiligen. Herkömmliche Elternabende zu pädagogischen Themen werden von vielen Eltern als Belehrung empfunden. Sie rücken in den Hintergrund zugunsten vielfältiger Kontakt- und Kommunikationsanlässe im Alltag.

Erziehungspartnerschaft erweitert die Anforderungen an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Der Kontakt zwischen Eltern und Erzieherinnen ist auf beiden Seiten oft durch Ängste, Überlegenheit- und Unterlegenheitsgefühle, überzogene Forderungen, mangelndes Verständnis für die Belastungen der jeweils anderen Seite sowie Vorurteile bezüglich anderer Kulturen, Familienformen, Erziehungsstile und Geschlechtsrollenleitbilder erschwert (Textor 1997). Zusätzlich zu ihrer an den Kindern orientierten pädagogischen Fachkompetenz brauchen Erzieherinnen heute verstärkt Kommunikations- und Konfliktslösungskompetenz im Umgang mit Erwachsenen.

Martin Textor vom Bayrischen Staatsinstitut für Frühpädagogik sagt als Zukunftsprognose voraus: „Kindergärten (bleiben) wohl Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen, werden aber zusätzlich Charakteristika von sozialen Dienstleistungszentren entwickeln müssen. Als solche werden sie genau die Lebenslagen und die Bedürfnisse von Eltern und Kindern vor Ort analysieren und dann ihre Konzeption an den jeweiligen Bedarf anpassen…Dabei wird es nicht ausreichen, nur dem Betreuungsbedarf von Kindern zu entsprechen, sondern auch die Wünsche der Eltern nach sozialen Kontakten, nach Gesprächsaustausch über Kindererziehung und Familienfragen, nach Freizeitangeboten und Beratung müssen dann Berücksichtigung finden.“ (Textor, klein und groß). Als Teil eines lokalen sozialen Netzwerkes werden Kindertageseinrichtungen verstärkt Familienselbsthilfe fördern, also auch ein familienunterstützendes Selbstverständnis entwickeln.

Verena Sommerfeld ist selbstständige Supervisorin und Organisationsberaterin im Bereich Kindertagesbetreuung.

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