24 Jun fK 3/10 Kägi
Kindertageseinrichtungen – Orte für sexuelle Themen?
Von Sylvia Kägi und Mareike Jakob
Kinder sind neugierig auf die Entdeckung der Welt, die sämtliche Lebensbereiche umfasst, und in der die körperliche Neugier einen großen Stellenwert einnimmt. Die Wahrnehmung der Welt impliziert dabei schon eine leibliche Dimension, die stets an vorherige Erfahrungen geknüpft ist (Stenger 2010). Körperlichkeit gilt es nicht als „das andere“ zu unterdrücken bzw. zu beherrschen, sondern als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität bewusst auszugestalten und zu leben (Kägi 2006).
Damit ist eine gelingende Identitätsentwicklung nicht ohne Körperlichkeit und Sexualität zu denken. Dabei hat Sexualität verschiedene Ausdrucksformen, wie z. B. Zärtlichkeit, Sinnlichkeit, Lust, Geborgenheit, oder das Bedürfnis nach Fürsorge und Liebe (Wanzeck-Sielert 2003). So beziehen sich die kindlichen sexuellen Erfahrungswelten vor allem auf den nichtsexuellen Bereich, verbunden mit Erfahrungen, die nicht sexuell geprägt, sondern vor allem eng mit der gesamten körperlichen Entwicklung verknüpft sind (vgl. Schmidt 2010).
Grundsätzlich ist dabei festzuhalten, dass die kindliche Sexualität nicht mit einer erwachsenen Sexualität zu vergleichen ist. Mädchen können zum Beispiel schöne Gefühle haben, wenn sie auf einem Kissen herumrutschen. Wobei es sich für das Mädchen vor allem um den Teil einer körperlichen Erfahrung handelt, ein Wohlfühlen, was sich ebenfalls auf andere Körperteile beziehen kann (BZGA 2010). Bereits Freud hat festgestellt, dass das Sexualleben bereits kurz nach der Geburt „mit deutlichen Äußerungen“ einsetzt (Freud 2000, 1989). Die Komplexität von sexuellem und psychischen Erleben bringt Freud zum Ausdruck, wenn er sagt: „Es hat sich gezeigt, dass es im frühen Kindesalter Anzeichen von körperlicher Tätigkeit gibt, denen nur ein altes Vorurteil den Namen sexuell verweigern konnte und die mit psychischen Phänomenen verbunden sind, die wir später im erwachsenen Liebesleben finden, wie etwa die Fixierung an bestimmte Objekte, Eifersucht usw.“ (Freud 1989, S. 15). Das aufeinander aufbauende Phasenmodell von Freud wird bis heute in seinen Grundzügen akzeptiert.
Verbinden lässt sich dies mit dem Ansatz von Christoph Wulf (2005), der beschreibt, wie sich u. a. Kinder durch mimetisch performative Prozesse die Welt aneignen. Performatives Wissen (in Anlehnung an Performance) meint nicht theoretisches Wissen, sondern mimetisches Wissen (Gestik und Mimik). Mimetisches Lernen meint Erproben durch Nachahmen. Vor allem soziales Lernen, was auch den Umgang mit sexuellen Themen betrifft, wird mimetisch performativ gelernt. „In mimetischen Prozessen werden die menschlichen Körper kultiviert; in denen werden sie vergesellschaftet und wird Gesellschaft verkörpert“ (Wulf 2005, S. 83).
Was bedeutet dies für den Alltag in einer Kindertageseinrichtung? Wie gehen Fachkräfte auf die sexuellen Themen der Kinder ein? Welche Themen lassen sich überhaupt ausmachen? Welche Antworten geben Fachkräfte auf die sexuellen Themen der Kinder? Wo im Alltagsgeschehen einer Kita können sexuelle Themen überhaupt ausgemacht werden? Und: Wie wird die Zusammenarbeit mit Eltern bezüglich der sexuellen Themen ausgestaltet?
Diese und weitere Fragen sind in eine Untersuchung zum „Umgang mit sexuellen Themen in Kindertagesstätten“ geflossen, die anhand von leitfadengestützten Experteninterviews mit pädagogischen Fachkräften (Erzieher(innen)/ Pädagog(innen)) im Raum Ludwigsburg und Stuttgart durchgeführt wurde. Ziel der Umfrage war es, die Interessens- und Bedarfslage der Kindertageseinrichtungen bezüglich dieser Thematik zu ermitteln. Insgesamt wurden 20 Einrichtungen befragt. Bei der Auswahl der Einrichtung wurde das Sample so gebildet, dass sämtliche geosozialen Bereiche (Stadtteile bzw. urbane und ländliche Gebiete oder Milieus) abgedeckt wurden. Die Interviews fanden vor Ort oder in Form von Telefoninterviews statt.
Im Folgenden werden einige Ergebnisse vorgestellt und abschließend resümiert. Interessant war es zu erfahren, ob sexuelle Themen in Kindertageseinrichtungen wahrgenommen werden und wie der Umgang mit sexuell gefärbten Handlungen gestaltet wird. So lautete eine Frage in der Erhebung: „Gibt es in Ihrer Einrichtung Regeln im Umgang mit sexuell gefärbten Handlungen?“
Die Mehrzahl (85 Prozent) der Fachkräfte gibt an, dass in ihren Einrichtungen keine allgemeingültigen, formellen Regeln bestehen. An die Stelle spezieller Regeln treten bei ihnen die „Grenzen des Gegenübers“, welche als Maßgabe für die Beurteilung einzelner Handlungen tritt. Nur drei Personen (15 Prozent) geben an, dass explizite Regeln im Umgang mit sexuell gefärbten Handlungen in der Einrichtung bestehen.
Festgestellt werden kann, dass klare Regeln, die immer auch klare Grenzen im Alltag implizieren, in Kindertagesstätten wenig angewendet werden. Im Umkehrschluss könnte dies darauf hinweisen, dass sich die sexuellen Themen vermutlich ebenfalls eher in einer nicht eindeutig definierten „Grauzone“ bewegen oder sich auf Bereiche beziehen, die eindeutig gesellschaftlich sexuell konnotiert sind (wie die Doktorspiele).
Eine weitere Frage bezieht sich auf die bewusste Sexualaufklärung, um herauszufinden, wie und ob in den Kindertageseinrichtungen sexuelle Themen explizit eingebracht werden. Hier führen 55 Prozent der befragten Fachkräfte an, nur bei Interesse der Kinder Sexualaufklärung durchzuführen und 30 Prozent verweisen auf die Verwendung von Medien, wie beispielsweise Bilderbücher, um den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen darzustellen. Nur bei 15 Prozent wird Aufklärung bewusst durchgeführt. Es werden geschlechtsspezifische Puppen und Aufklärungsbücher für die Sexualaufklärung eingesetzt. Eine Einrichtung kooperiert mit einer Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt und führt bei Bedarf Fortbildungen für das Fachpersonal durch, die andere Einrichtung veranstaltet Elternabende, bei denen die Eltern Fragen an einen Fachreferenten über die sexuelle Entwicklung des Kindes stellen können.
In der Konsequenz bedeuten diese Aussagen, dass Themen der Sexualität bewusst und gezielt quasi in keiner Kindertageseinrichtung Raum finden. Dabei nehmen fast alle Einrichtungen Spiele mit sexuellem Charakter wahr. So geben 55 Prozent der befragten Fachkräfte an, dass sie Spiele der Kinder mit sexuellem Charakter als entwicklungsbedingt im Alltag wahrnehmen. Sie gehen davon aus, dass die Kinder das im Alltag Gesehene im gemeinsamen Austausch und im Rollenspiel verarbeiten und bewältigen. Weitere 35 Prozent beobachten die bekannten Doktorspiele. Zwei Einrichtungen (10 Prozent) beobachten keinerlei Spiele mit sexuellem Charakter. Zu fragen bleibt dabei allerdings, ob die vielfältigen sexuellen Ausdrucksformen im Alltag, die auf dem ersten Blick nicht (psycho)sexuell sind, überhaupt wahrgenommen werden können.
Wenn demnach eine große Mehrheit der Erzieherinnen Spiele mit sexuellem Charakter wahrgenommen hat, wie wird dann mit problematischen Situationen umgegangen? Werden überhaupt problematische Situationen bezüglich der psychosexuellen Entwicklung festgestellt? So geben 35 Prozent der befragten Fachkräfte an, dass sie keine problematischen Situationen wahrnehmen. Weiteren 35 Prozent ist es wichtig, problematische psychosexuelle Situationen im Team zu besprechen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, um vor allem die Interessen der Kinder wahrzunehmen. Ihrer Meinung nach kann nur bei Interesse der Kinder – also bei Bedarf – die sexuelle Erziehung in die Arbeit aufgenommen werden. Probleme zeigen sich bei den befragten Fachkräften (20 Prozent) dann, wenn Kinder auffällige Spiele mit sexuell gefärbten Handlungen nachspielen. Diese Probleme werden in Zusammenarbeit mit den Eltern thematisiert. Wobei die Fachkräfte die Eltern als zurückhaltend erleben, so dass sie dieses Verhalten der Kinder nicht im gemeinsamen Gespräch thematisieren wollen. Die restlichen 10 Prozent der Fachkräfte berufen sich auf die eigene Sozialisation und lassen diese in ihre pädagogische Arbeit einfließen.
Der Umgang mit sexuellen Themen ist nicht ohne Eltern zu denken, die als Erziehungspartner (Whally 2008) und primäre Erziehungsinstanz aus dem Kindertagesstättenalltag nicht wegzudenken sind. Kinder fordern Eltern wie pädagogische Fachkräfte heraus, sich mit den eigenen Lebensthemen und damit verbundenen Entwicklungsaufgaben auseinanderzusetzen (Tschöpe-Scheffler 2009). Es handelt sich demnach um einen Themenkomplex, der auch die Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern herausfordert. Allerdings stellen nach Auskunft der Fachkräfte 50 Prozent der Eltern keine Fragen zu den sexuellen Themen ihrer Kinder. Thematisiert wird es höchstens im Kontext der Entwicklung des Kindes. Bei den anderen 50 Prozent der befragten Fachkräfte stellen die Eltern Fragen zur sexuellen Entwicklung ihrer Kinder. Die Eltern werden individuell unterstützt und beraten (Themenelternabende, Vorträge). Die vertrauensvolle Beziehung der Eltern zu den Fachkräften wird dabei als wichtig beschrieben.
Sexuelle Themen sind fester Bestandteil in allen Kindertageseinrichtungen, der Umgang und die Vielfalt der Themen scheinen dagegen wenig präsent zu sein. Es wird zum Beispiel beschrieben, dass in der Kindertageseinrichtung keine sexuellen Themen vorhanden seien und Kinder sich nur auf der Toilette ausziehen dürfen. Die Neugier auf sexuelle Themen im Alltag einer Kindertageseinrichtung in ihren unterschiedlichen Facetten tritt allerdings nicht auf. Nimmt man die verschiedenen Aussagen zusammen, so ist festzustellen, dass eine große Unsicherheit auszumachen ist. Diese Problematik spiegelt sich in einer Literatur wider, die Sexualität in erster Linie schon im Kindergarten als allgemeine „Aufklärungsarbeit“ oder als gezielte „Bewusstmachung von Köper- und Sinnlichkeit“ begreift. Die (psycho)sexuelle Entwicklung als Schaffung von Möglichkeits- und Erfahrungsräumen, in denen Kinder von Erwachsen unterstützt und begleitet werden, kommt quasi nicht vor.
Dabei geht es um Erfahrungsräume, die mit leidenschaftlichen Wünschen, Phantasien und Gefühlen verbunden sind und sinnliche Lust in sämtlichen Schattierungen implizieren, „vom ersten Loch, das das Kleinkind mit anderen zusammen im Sandkasten gräbt und mit Wasser füllt, bis hin zum alternden Menschen, der nach der Pensionierung, vielleicht nach dem Tod des Partners, neue Aktivitäten und neue Bezugsgruppen sucht“ (Müller-Pozzi 2004. S. 72). Um eine solche Perspektive einnehmen zu können, bedarf es wissenschaftlicher Forschung, die diese Phänomene in den Blick nimmt und damit beschreibbar macht. In der auf diesen Erkenntnissen aufbauenden Studie wird deshalb versucht, die (psycho)sexuellen Themen der Kinder durch vielfältige Methoden zu erfassen und damit beschreibbar zu machen.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Sylvia Kägi ist Erziehungswissenschaftlerin und Studiengangsleiterin im Studiengang Frühkindliche Bildung und Erziehung an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.
Mareike Jakob ist Erzieherin sowie wissenschaftliche Hilfskraft und Studentin im Studiengang Frühkindliche Bildung und Erziehung an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.
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