30 Jun fK 3/08 Oerter
„Leistung und Arbeit sind nicht das höchste Ziel unseres Daseins“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. em. Dr. Rolf Oerter, von 1981 bis 1999 Lehrstuhlinhaber für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Maywald: Wenn Sie die vergangenen fünfzig Jahre einmal Revue passieren lassen. Welche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie halten Sie für besonders bedeutsam?
Oerter: Allem voran die erstaunlichen Befunde der Säuglingsforschung, dann Ergebnisse zur kognitiven Entwicklung im Vorschul- und Grundschulalter, wie Theory of Mind, intuitive Physik, Biologie und Psychologie, frühe Denkleistung von Kindern. Weiterhin für bedeutsam halte ich die Befunde zur Gedächtnisentwicklung, schließlich neue Befunde zur Altersforschung wie „testing the limits“, Weisheitskonzept, Intelligenzentwicklung.
Maywald: Der Mensch ist sowohl Natur- als auch Kulturwesen. Wie würden Sie das Verhältnis von Reifung und Lernen aus heutiger Sicht beschreiben?
Oerter: Das Verhältnis von genetischen Ausstattung und Umwelteinflüssen wird heute als systemisches Zusammenspiel gesehen. Gene sind auf adäquate Umweltanregungen angewiesen. Umgekehrt können sich Lernen und Entwicklung nicht ohne genetische und gehirnphysiologische Voraussetzungen vollziehen. In der Entwicklung ist der günstigste Zeitpunkt für Lernen unmittelbar nach der Reifung der entsprechenden Funktionen. Die Inhalte des Lernens stammen jedoch aus der Kultur, in der das Individuum aufwächst.
Maywald: Von der Neurobiologie erfahren wir, wie anpassungsfähig unser Gehirn ist. „Neuronale Plastizität“ lautet das Stichwort. Wie sieht dies aus Sicht der Entwicklungspsychologie aus? Wie veränderbar ist Entwicklung und in welchem Umfang sind Veränderungen reversibel?
Oerter: Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand verspricht die Plastizität des Gehirns in der Tat auch Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten im Erwachsenen- und im höheren Alter. Dieser Befund hebt aber nicht die basale Erkenntnis auf, dass frühes Lernen weitaus größere Effekte hat als späteres Lernen. Dieses Faktum ist für die Bereiche Musik und Sport gut belegt. Die Reversibilität von Entwicklung ist leichter möglich, wenn sie sich noch nicht neurologisch manifestiert hat. Störungen, die ein gehirnphysiologisches Korrelat haben, wie bei Alzheimer, sind heute noch kaum korrigierbar. Allerdings ist bei Alzheimer derzeit ein Impfstoff in Erprobung.
Maywald: In körperlicher Hinsicht reifen Jungen und Mädchen heutzutage schneller als noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Verteilt sich dieser Prozess der Akzeleration gleichermaßen auf alle Entwicklungsbereiche oder gibt es hier Unterschiede?
Oerter: Der Begriff der säkularen Akzeleration bezieht sich ausschließlich auf die Beschleunigung der körperlichen Entwicklung. Die psychische Entwicklung hat sich nicht beschleunigt. Eine Fülle historischer Beispiele belegt im Gegenteil geistige „Frühreife“ berühmter Persönlichkeiten. Nur der Flynn-Effekt, der das Ansteigen nonverbaler intellektueller Leistungen in den letzten 80 Jahren bezeichnet, wäre ein analoger Prozess. Er kann aber nicht als Akzeleration bezeichnet werden, da er nicht mit dem Jugendalter und der körperlichen Reifung korreliert ist.
Maywald: Mit Förderung wird in erster Linie die Vermittlung von Kompetenzen verbunden. Welche Rolle für eine bestmögliche Entwicklung kommt Ihrer Meinung nach dem ungerichteten, freien Spiel zu?
Oerter: Die moderne Gesellschaft favorisiert den homo faber, produziert aber gleichzeitig immer raffiniertere Spiele, vor allem Computerspiele. Freies Spiel ist für die kindliche Entwicklung unabdingbar, da es der Lebensbewältigung dient. Seine Unterdrückung kann zu Entwicklungsstörungen führen. Im Erwachsenenalter wird Spiel in kulturelles Schaffen und auch in berufliche Produktivität transformiert. Daneben dient es der Kompensation von Einseitigkeiten und Misserfolgen im realen Leben. Auch Erwachsene benötigen den spielerischen Umgang mit der Umwelt und der eigenen Gedankenwelt.
Maywald: Vor zwanzig Jahren war die Auffassung „Mädchen werden nicht als Mädchen geboren, sondern sie werden zu Mädchen gemacht“ weit verbreitet. Was halten Sie von dieser Behauptung?
Oerter: Heute ist nachgewiesen, dass es eine evolutionäre und damit auch neurologische Basis für Geschlechtsunterschiede gibt. Ihr Einfluss ist so stark, dass er in den ersten Lebensjahren zunächst durchschlägt und erst in der späten Kindheit und im Jugendalter durch Enkulturation und Sozialisation gemildert oder ausgeglichen werden kann. Allerdings arbeiten die Massenmedien weiter für eine Geschlechtstypisierung. Ein Zukunftsbild für die Geschlechterentwicklung ist in der androgynen Persönlichkeit zu sehen.
Maywald: Keiner Elterngeneration in der Geschichte der Menschheit standen so viele Informationen zur Verfügung wie der heutigen. Zugleich sind viele Eltern, wenn es um die Erziehung ihres Kindes geht, stark verunsichert. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Oerter: Die Gesellschaft ist hochkomplex geworden, wobei die Informationsfülle nicht im Entferntesten verarbeitet werden kann. Geändert hat sich auch die Zukunftsperspektive, die zu Recht oder zu Unrecht als unsicher und bedrohlich wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite sind Kinder neuen Entwicklungsrisiken ausgesetzt, wobei die neuen Medien eine große Rolle spielen. Insbesondere der Umgang mit den digitalen Medien ist für Eltern kaum kontrollierbar. Die elterliche Kompetenz müsste daher systematisch und wissenschaftlich fundiert gestärkt werden.
Maywald: Wenn eine junge Mutter und ein junger Vater Sie heute fragen, wie sie ihr Kind am besten fördern können. Was würden Sie ihnen antworten?
Oerter: Eltern sollten für ihre Kinder eine möglichst breite Bildung anstreben, ihnen Freiheit in Grenzen gewähren, ihr Selbstbewusstsein stärken und ihnen das Gefühl der Selbstwirksamkeit vermitteln. Schließlich sollten sie den Kindern bewusst machen, dass Leistung und Arbeit nicht das höchste Ziel unseres Daseins sind, sondern die aktive und verantwortungsvolle Mitgestaltung unserer Zukunft und die Weiterentwicklung unserer Kultur.
Maywald: Immer wieder einmal wird gefordert, in Deutschland so etwas wie einen Elternführerschein einzuführen. Dem wird entgegen gehalten, dass Elternschaft vor allem auf intuitiven Fähigkeiten beruhe und daher nicht erlernt und geprüft werden müsse. Wie stehen Sie dazu?
Oerter: Das ist ein schwieriges Thema. Insgesamt plädiere ich jedoch für eine Vorbereitung der Eltern auf ihre Erziehungsaufgaben. Die intuitiven Fähigkeiten beziehen sich in der Hauptsache nur auf das erste Lebensjahr. Danach bereits zeigen sich für manche Elterngruppen massive Defizite in ihrer Erziehungskompetenz ab, die zu der in Deutschland besonders gravierenden sozialen Ungerechtigkeit im Bildungssystem führen.
Maywald: Gemäß Artikel 6 Absatz 2 der UN-Kinderrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, die Entwicklung der Kinder in „größtmöglichem Umfang“ zu gewährleisten. Was kann eine Regierung Ihrer Ansicht nach tun, um dieser Verpflichtung zu entsprechen?
Oerter: Das Bildungssystem muss erheblich verbessert werden, um die Chancen benachteiligter Kinder zu vergrößern. Dabei erweisen sich Frühförderung und Lernanregung ohne Leistungsdruck als besonders wirksam. Daneben sollte der Staat weiterhin noch vermehrt Familien mit Kindern gegenüber Singels und kinderlosen Paaren fördern. Schließlich fordere ich für alle Familien die Anerkennung der in unserer Verfassung grundgelegten Menschenrechte. Sie werden von manchen ethnischen Minderheiten in unserem Lande nicht hinreichend respektiert.
Maywald: Vor welchen Herausforderungen steht die entwicklungspsychologische Forschung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten? Welche Fragestellungen halten Sie für besonders bedeutsam?
Oerter: Zwei Forschungsrichtungen scheinen mir zukünftig wichtig. Erstens der systemische Zugang. Die Betrachtung und Analyse von Mensch-Umwelt-Systemen und die Erarbeitung einer Methodologie, die die Beschreibung und Berechnung solcher komplexen Systeme ermöglicht, würde ein wesentlich angemesseneres Verständnis menschlicher Entwicklung ermöglichen. Mit der ersten Zielrichtung zusammenhängend sollten wir zweitens unser Augenmerk mehr auf die ökologische Seite menschlicher Entwicklung richten. Die meisten psychologischen Konzepte wie Leistungsmotivation, Wahrnehmung, Gedächtnis et cetera werden unabhängig von Inhalten formuliert, ihre Struktur bleibt immer gleich. Dies ist sicherlich falsch und vernachlässigt die aus der Kultur stammenden Inhalte sowie überhaupt die Bedeutung der Kultur für die Entwicklung. Das Zusammenwirken von Kultur und Individuum wird angesichts der Globalisierung ein zentraler Forschungsgegenstand werden.
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