fK 3/06 Müller

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Das Interreligiöse in der eigenen Religion entdecken

Interreligiöses Lernen in Kindergarten und Grundschule

von Rabeya Müller

Die Zusammensetzung der Kindergruppen im Elementarbereich und der Primarstufe ist in zunehmendem Maße religiös-weltanschaulich vielfältig und stellt für das Personal eine große Herausforderung dar. Im Grunde bietet die vorgegebene Situation aber durchaus eine Chance, denn es ist möglich, Religion in einem Kontext zu betrachten, besonders im Kontext der individuellen Lebenssituation der Kinder. Das Lernen erfolgt noch in besonderem Maße über alle Sinne und ist ganzheitlich gestaltet, wobei zu berücksichtigen ist, dass Kinder sich nicht von religiösen Fragen fernhalten lassen und Religiösität und die damit verbundenen Sinnfragen kein Tabu darstellen dürfen.

Wir leben in einer Gesellschaft, die ein „religionspolitisches Interesse an einer ethisch-religiösen Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ (Karl Ernst Nipkow) hat. Es genügt nicht, auf das ausreichende Toleranzverständnis und den Respekt der einzelnen Religionsgemeinschaften zu vertrauen, sondern es ist wichtig, bereits im frühkindlichen Alter Grundlagen fur eine solche Geisteshaltung zu legen.

Das Religionsverständnis ist in diesem Alter allerdings noch vorlaufig und orientiert sich vorwiegend an dem der eigenen Familie. Das aber bedeutet fur Kinder eine Sicherheit, von der aus sie ohne große Scheu auf andere zugehen können, wobei ihre naturliche Neugier noch einen weiteren positiven Verstarker darstellt. Es heißt aber auch fur die Erzieher(innen) und das Lehrpersonal, dass es nicht in jedem Fall notig ist, auf theologische Feinheiten einzugehen, sondern ganz bewusst die individuellen Auspragungen der einzelnen Familien in Beziehung zu setzen zu dem, was sie selbst (möglichst in einer Fortbildung) über die jeweilige Religion als theologisches Grundwissen kennen gelernt haben bzw. wussten.

Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes steht dabei im Vordergrund und erfordert zwei parallel laufende Zielsetzungen: (1) die eigenen Werte bewahren, (2) andere Werte als Werte betrachten und in Beziehung zu den eigenen setzen lernen.

Obwohl Einrichtungen im Elementarbereich sich meist bemühen, eine Gleichrangigkeit unter den einzelnen Glaubensrichtungen zu gewährleisten, ist das Personal stetig dazu aufgerufen, den Gaststatus einiger religiöser Gemeinschaften aufzuarbeiten und dadurch ein Gefühl der Gleichwertigkeit als Grundlage interreligiösen Lernens zu legen. Das signalisiert den Familien auch die Haltung der jeweiligen Einrichtung und relativiert die Machtsituation innerhalb dialogischer Strukturen. Oft ist dies mehr als das, was das Lehrpersonal in der Schule im regulären Religionsunterricht leisten muss.

Vom multireligiösen zum interreligiösen Verständnis
Hier liegt dann der Übergang vom multireligiösen, d.h. von der bloßen Kenntnisnahme über die andere Religion, hin zum interreligiösen Verständnis, also zu einem aufeinander Beziehen Lernen zur eigenen Erfahrungswelt und zum eigenen religiösen Kontext. Natürlich haben kirchliche Einrichtungen Anspruch darauf, ein christliches Profil zu zeigen, aber entsprechend der Erklärung der beiden großen Kirchen in Deutschland gehört ein grundlegender Religionsrespekt eben zu diesem christlichen Selbstverständnis.

Die Frage, ob in so jungem Alter bereits interreligiös erzogen werden kann, lasst sich damit beantworten, dass grundsätzlich jede Religion einen interreligiösen Anteil hat, den es zu entdecken gilt. Zudem kann gerade durch die Begegnung mit Menschen, in diesem Fall Kindern, anderer Religionen die eigene Religiösität deutlicher werden. Ebenso müssen Kinder früh den Umgang mit Kindern aus a-religiösen Familien lernen, denn auch hier begegnet uns eine Haltung, der Respekt entgegen zu bringen ist.

Wahrscheinlich ist sogar in diesem jungen Alter eine solche Begegnung noch viel stärker ohne Wertung, womit sie viel eher den Herausforderungen der real existierenden religiösen und damit auch kulturellen Pluralität gewachsen ist. Kinder sollten an die Möglichkeit herangeführt werden, ihr eigenes religiöses Verständnis in einen Bezug zu den anderen und deren Selbstkonzept zu setzen. Schließlich ist Kindern auch indirekt bewusst, dass es durchaus unterschiedliche Ausprägungen ihrer eigenen Religion gibt und diese Wahrnehmung verstärkt sich mit zunehmendem Alter, womit sie durch eine solide Grundlage interreligiöser Empathie besser mit den Differenzen umgehen lernen.

Um dieses Spektrum zu erhalten und auch stets die Möglichkeit zur Erweiterung zu geben, sollte Religion über unterschiedliche Zugänge immer wieder Anregungen liefern, die es ermöglichen, Verbindungen zu Kindern anderer Religionsgemeinschaften herzustellen. Dabei stehen die Erfahrung des bisherigen religiösen Selbst-Verständnisses und die Erfahrung miteinander im Mittelpunkt. Denn gerade durch die Begegnung mit den anderen Kindern und eventuellen gemeinsamen Feiern treffen Kinder authentische Vertreter(innen) anderer Religionen. Dabei geht es nicht darum, die Unterschiede zu verwischen, aber durch die persönlichen Zugange und Begegnungen wird deutlich, dass sie nicht zum Problem werden müssen, d.h. die Differenz kann und sollte konstruktiv genutzt werden, um eine interreligiöse „Kultur“ zu erarbeiten. Da es nicht um das Ausdiskutieren von theologischen Wahrheiten geht, sprechen wir in diesem Bereich auch eher von Erziehung.

Passah, Weihnachten und Ramadan
Im Vorschulalter eignen sich besonders die Zugänge durch Feste und der Besuch von Gebetsstätten der einzelnen Religionsgemeinschaften, um eigene Perspektiven anzustoßen und Ängste abzubauen. Gerade Festen können selbst konfessionslose Kindergärten nicht „entkommen“, denn Passah, Weihnachten und Ramadan sind mittlerweile im deutschen Alltag durchaus präsent. Hierbei ist es notwendig, bereits im Vorfeld mit den Eltern zu arbeiten, d.h. zum Beispiel die Personen, die entsprechende „Führungen“ durchführen wollen, am Elternabend vorzustellen und den Ablauf zu besprechen. Aber auch der Aspekt des generationsübergreifenden Lernens erhält hier eine besondere Chance, schließlich befinden sich die beteiligten Erwachsenen auch in einem entsprechenden Lernprozess.

Es wird grundsätzlich erwartet, dass im Elementarbereich Schlüsselkompetenzen angestoßen und entwickelt werden, was auch bedeutet Wissen zu verknüpfen mit der Fähigkeit es anzuwenden. Auch hierzu bietet interreligiöses Lernen vielfache Möglichkeiten. Das drückt sich zunächst in der Entwicklung einer bestimmten Sprachkompetenz aus, was heißt, „die Dinge beim richtigen Namen nennen zu können“. Es ist oft leichter, hierzu einen Zugang über Begriffe und Gegenstände zu finden, die einem bereits vertraut sind und deren Benennung das Kind dann in zwei Sprachen beherrscht. Durch das Überwinden dieser religiösen „Sprachlosigkeit“ kann ein respektvoller Umgang mit dem religiösen im späteren Alltag erarbeitet werden, was wiederum zur Erlangung einer interkulturellen Sozialkompetenz führt.

Praktisch erweist sich ein situationsorientierter Zugang oft als beste Möglichkeit, die Kinder da abzuholen, wo sie stehen. Wenn also zum Beispiel in den Jahreskreis die Feste aller im Kindergarten und in der Schule vertretenen Religionsgemeinschaften gemeinsam gestaltet werden, lernen die Kinder neben der Gleichwertigkeit der Religionen, die auch im Grundgesetz verankert ist, einen selbstverständlichen Umgang miteinander.

Gerade durch die gemeinsame Gestaltung nähern sie sich auch einem Erfassen des Sinns dieses jeweiligen Festes. Es trägt zu einem beträchtlichen Teil zum späteren Weltverständnis und Verständnis von gesellschaftlicher Partizipation bei und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl als „Kindergartengemeinschaft“ bzw. „Schulgemeinschaft“. Kinder bekommen auch ein entsprechendes Verständnis dafür, dass vielen Menschen das, was mit Gott zu tun hat, sehr wichtig ist. Dies lasst sich auf einer Ebene erklären und verdeutlichen, welche Rangordnungen unter den einzelnen Religionen ausschließt.

Ein weitere Zugang ist der über einzelne Gegenstände, die in Ritualen oder religiösen Bräuchen der einzelnen Religionsgemeinschaften relevant sind. Hierbei hat es sich als sinnvoll erwiesen, die Kinder Gegenstände von zu Hause mitbringen und erklären zu lassen. Anschließend kann das Personal aus eigener Kenntnis oder auch mit authentischen Vertreter(inne)n der jeweiligen Religionen einen kindgerechten Zugang zu diesen Gegenständen erarbeiten. Auch hier ist die Zusammenarbeit mit den Eltern unbedingt erforderlich. Denn sowohl die Feste als auch die Gegenstände und Rituale sollten für Eltern eine entsprechende Relevanz haben.

Das bedeutet fur die jeweilige Einrichtung sich zu informieren: Welche Feste sind für die Eltern von Bedeutung und können sinnvoll in der Einrichtung gefeiert werden? Welche Feste haben eventuell gemeinsame Wurzeln? Welche Gegenstände haben im religiösen Alltag der Familien eine Bedeutung? Welche Gegenstände haben einen stark sakralen Charakter? Welche eignen sich z.B. zum Nachbasteln (und eventuell hinterher zum Verschenken)?

Gemeinsamen Besuch von Gebetsstätten
Ein besonders eindrucksvoller Zugang lässt sich durch den gemeinsamen Besuch der unterschiedlichen Gotteshäuser bzw. Gebetsstätten erreichen. Kinder haben großes Interesse an diesen Örtlichkeiten. Sie sollten auch vorher wissen, dass sie alles fragen können. Die Erkundung von Gebetsstätten bzw. einzelner Teile davon lässt sich sehr spannend gestalten. Das Institut für interreligiöse Pädagogik und Didaktik hat in Zusammenarbeit mit einzelnen Moscheegemeinden solche „Entdeckungsreisen“ für Grundschulkinder durchgeführt.

Nach einem intensiven Vorgespräch mit den Eltern (wobei einige sich entschlossen ihre Kinder zu begleiten) wurden die Kinder in der Moschee begrüßt und zu einer Schatztruhe in der Mitte der Moschee gefuhrt. Darin befanden sich einige Gegenstände und Arbeitsaufträge, z.B. mittels eines Kompasses zu entdecken, in welche Richtung die Nische ausgerichtet ist, in der der Imam vorbetet. Anschließend trugen alle ihre Ergebnisse im Sitzkreis zusammen und diskutierten darüber. Hier ist es dann wichtig, kompetente Vertreter(innen) der jeweiligen Religionsgemeinschaft bei sich zu haben, die Rückfragen beantworten und Fehlschlüsse kindgerecht richtig stellen können.

Gleiche Erfahrungen haben wir auch mit aufgeschlossenen jüdischen, christlichen und buddhistischen Gemeinden gemacht. Diese Entdeckungsreise lässt sich auch für Kinder im Elementarbereich durchfuhren, wenn berücksichtigt wird, in diesem Fall nur auf Dinge einzugehen, die die Kinder von sich aus erfassen und anfragen. Bei einer kindgerechten Bearbeitung ist somit eine Überforderung ausgeschlossen. Kinder haben ein natürliches Gefühl für die Bedeutung eines Raumes. Es fällt ihnen leicht zu erkennen, dass beispielsweise eine Moschee ein Raum ist, der auch zu Versammlungszwecken genutzt wird, während zum Beispiel eine Kirche ein sakraler Ort ist.

Die Kinder diskutieren diese Dinge auch gern, weil sie persönlich fur sich ausloten möchten, was sie in einer Gebetsstätte tun sollten und was nicht. Ebenso gern beschäftigen sie sich mit der Frage nach den Gottesvorstellungen: ob z.B. Gott nur an dieser Stelle ihnen zuhört oder warum Gott auch Allah heißen kann oder warum die jüdischen Gläubigen Seinen Namen nicht aussprechen.

Erzieher(innen) und das Lehrpersonal stellen im Gesamtkonzept eines interreligiösen Lernens eine Art „neutrales Element“ dar, das sich nicht für eine einseitige Vermittlung einer religiösen Haltung instrumentalisieren lässt und sich durch eine respektvolle Haltung gegenüber jeder Art von Religiösität auszeichnet.

Rabeya Müller ist Leiterin des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik in Köln.

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