24 Jul fK 3/06 Hugoth
Setzt religiöse Erziehung Glauben voraus?
Religiöse Kompetenz meint mehr als methodisches Wissen
von Matthias Hugoth
Um in der pädagogischen Arbeit verantworten zu können, was man tut, reicht es nicht aus, mit einer kinderfreundlichen Einstellung, mit Empathie und Engagementbereitschaft ans Werk zu gehen. Das alles ist wichtig und wertvoll – besonders beim Umgang mit Kindern im Vorschulalter. Doch ebenso notwendig sind fachliches Wissen und Können. Die Frage nach den fachlichen Kompetenzen der Erzieherinnen bezieht sich auf alle Bereiche der Bildung in Kindertageseinrichtungen. Zu diesen zählt auch die religiöse Bildung, wenn man Bildung als die Befähigung versteht, sich Wissen von den Dingen der Welt und des menschlichen Lebens anzueignen, Zusammenhänge zwischen diesen Wissensbereichen zu erkennen, Urteile zu bilden, Standpunkte einzunehmen, sich an grundsätzlichen Auffassungen, Weltanschauungen und Werten zu orientieren und souverän, verantwortlich für sich und andere zu handeln.
Den Kindern den Zugang zur Religion zu verweigern, würde bedeuten, ihnen eine Dimension des Lebens vorzuenthalten, die ebenso wie alle anderen Wissensbereiche zu den „Dingen dieser Welt“ gehört. Indem Kindertageseinrichtungen religiöse Bildung praktizieren, womit die Initiierung, Begleitung und Unterstützung von Lernprozessen bezogen auf religiöse Inhalte, Symbole und Lebensformen gemeint ist, lösen sie das „Recht des Kindes auf Religion“ ein.
Wenn das Kind ein Recht hat, einen Zugang zu allen Bereichen des Lebens zu erhalten, hat es auch ein Recht, die Welt der Religion – in unserem Kulturraum vornehmlich der christlichen Religion – kennen zu lernen. Religiöse Bildung ist demnach „um des Kindes willen“ geboten und muss also eigentlich in jeder Kindertageseinrichtung erfolgen – wenn auch in nichtkirchlichen Einrichtungen vielleicht mit einer etwas anderen Intention und Intensität wie in den kirchlichen. Wenn dies zutrifft, dann muss im Blick auf die religiöse Bildung in Kindertageseinrichtungen ebenso die Frage nach den erforderlichen Fachkompetenzen der Erzieherinnen gestellt werden wie bei allen anderen Bildungsbereichen.
Der persönliche Bezug zum Glauben
Können Erzieherinnen religiöse Bildungsarbeit betreiben, ohne einen persönlichen Bezug zum Glauben? Die Antwort auf diese Frage wird wahrscheinlich unterschiedlich ausfallen, wenn sie von den Erzieherinnen selbst oder von Außenstehenden – Eltern und Trägern beispielsweise – formuliert wird.
Erzieherinnen haben im Blick auf ihre Praxis der religiösen Bildungsarbeit durchaus den Anspruch an sich selbst, dass sie einen persönlichen Bezug zu den Themen haben, die sie mit den Kindern behandeln. Dieser Selbstanspruch ist natürlich individuell unterschiedlich, doch lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die auf folgenden kleinsten Nenner gebracht werden können: Ohne eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben und ohne eine grundsätzliche Akzeptanz seiner wesentlichen Inhalte ist eine religiöse Bildungsarbeit mit Kindern auf Dauer nicht möglich. Dieser Anspruch dürfte mit dem Selbstanspruch vergleichbar sein, den Erzieherinnen beispielsweise im Blick auf die Gesundheits- oder die Sozialerziehung der Kinder haben: Wer auf Gesundheit keinen Wert legt, wer mit dem eigenen Körper und der eigenen Seele sehr nachlässig oder gar schädigend (etwa durch eine ständige Selbstüberforderung) umgeht, wer also in der eigenen Gesundheit und in der der Kinder kein besonderes Gut sehen kann, dürfte sich schwer tun, überzeugend Gesundheitserziehung zu praktizieren – es sei denn, sie beschränkt sich auf die technische Vermittlung von gesundheitserhaltenden Praktiken wie das Zähneputzen.
Ähnlich verhält es sich mit der Sozialerziehung: Eine Erzieherin, die anderen Menschen nicht offen begegnen kann, die ihren Mitmenschen grundsätzlich misstrauisch gegenüber tritt, die sich schnell bedroht fühlt, eine Erzieherin, die oft verletzt worden ist, eine Erzieherin, die eigentlich kein Interesse an anderen Menschen hat, die wenig Verständnis und keine Empathie aufzubringen vermag, dürfte sich schwer tun, wenn sie Kinder darin unterstützen soll, soziale Kompetenzen zu entwickeln.
So verhält es sich auch mit der religiösen Bildungsarbeit: Wer keinerlei Bezug zur Welt des Glaubens hat, wer nicht zu verstehen sucht, was seine Botschaften beinhalten und was sie denjenigen bedeuten, die sich zu diesem Glauben bekennen, der wird kaum religiöse Bildungsarbeit wahrhaftig praktizieren können. Es sei denn, die religiöse Bildungsarbeit beschränkt sich auf die Anwendung eines angeeigneten religionspädagogischen Methodenrepertoires.
Auch in Bezug zum Fremdanspruch, den Eltern, Träger und andere Personen gegenüber der Religiosität von Erzieherinnen als Voraussetzung für ihre religiöse Bildungsarbeit erheben, dürfte es eine große Spannbreite an unterschiedlichen Erwartungen geben. Vor allem von Erzieherinnen, die in kirchlichen Kindertageseinrichtungen arbeiten, dürfte neben einem persönlichen Bezug zu den Inhalten und Vollzugsformen des Glaubens eine mehr oder weniger starke Kirchenbindung vorausgesetzt werden. Was das konkret für die einzelne Erzieherin bedeutet, muss individuell geklärt werden. Dabei sollte nicht nur die Sicht der „Kirche als Arbeitgeberin“ zur Geltung kommen, also die Frage, inwieweit der „Kirchlichen Grundordnung für kirchliche Angestellte“ entsprochen wird. Gewichtiger ist die Frage, inwieweit der persönliche Bezug der Erzieherin zu den Inhalten und Vollzugsformen des Glaubens und zur Kirche eine Voraussetzung für ihre religionspädagogische Praxis ist.
Was ist mit religiöser Kompetenz gemeint?
Religiöse Kompetenz meint mehr als religionspädagogische Kompetenz. Religionspädagogische Kompetenz von Erzieherinnen hebt vor allem auf die Methodik der Aufbereitung und der Erschließung von religiösen Themen ab und hat primär die Kinder im Blick, mit denen diese Erschließung gemeinsam erfolgen soll und die bei der Aneignung von religiösen Inhalten und Vollzugsformen unterstützt werden. Die Religiöse Kompetenz von Erzieherinnen umfasst demgegenüber die folgenden Fähigkeiten:
Aneignung eines religiösen Grundwissens
Erzieherinnen müssen sich über die wichtigen Inhalte, Bilder, Symbole, Riten und Feste der christlichen Religion sowie über christliche Lebensformen informieren. Über die christliche Religion deshalb, weil es um sie in erster Linie gehen dürfte, wenn in Kindertageseinrichtungen in unserem Land religiöse Bildungsarbeit erfolgt. Sollte diese auch interreligiös ausgerichtet sein, so gehört es zur religiösen Kompetenz einer Erzieherin, wenn sie sich einen Einblick in die nichtchristlichen Religionen verschafft.
Reflexion der religiösen Inhalte und Vollzugsformen
Erzieherinnen müssen sich auch bemühen zu verstehen, woran Christen glauben, was die einzelnen Glaubensinhalte bedeuten, mit welchen Bildern, Symbolen und Riten sie ausgedrückt werden, welches Handeln aus dem Glauben folgt. Sie müssen sich außerdem einen Überblick verschaffen über die Kirche, die Sozialgestalt des Glaubens. Dazu gehören Einsichten in die Organisationsformen der Kirche (Gemeinde, Diözese, Verbände, Einrichtungen und Dienste), in die Zuständigkeit und Bedeutung der unterschiedlichen Funktionsträger (Pfarrer, Pastoralteam, Pfarrgemeinderäte und andere Gremien, Bischof und Ordinariat/Generalvikariat), in die vielfältigen Lebensformen von Kirche.
Persönliche Auseinandersetzung mit Inhalten und Vollzugsformen des Glaubens
Erzieherinnen sollten sich eigene Ansichten zu den einzelnen Glaubensaspekten bilden und diese argumentativ vertreten können. Dazu gehört auch, dass sie Glaubensinhalte und -praktiken zu den eigenen Auffassungen und Erfahrungen in Bezug setzen. Hierfür eignet sich am besten eine religiöse Biographiearbeit, die unter anderem den Fragen nachgeht: Wo bin ich in meinem Leben mit der christlichen Religion in Berührung gekommen? Wie war das konkret? Was wirkt davon bis heute noch nach? Was ist mir bis heute am Glauben und am Glaubensleben wert und heilig? Was habe ich abgelegt und warum? An welche Menschen erinnere ich mich bei meiner Begegnung mit der Welt des Glaubens? Wer hat mich beeindruckt, ist mir heute noch wichtig? An wen habe ich weniger gute Erinnerungen? Welche Bilder, Texte, Lieder, Symbole, Riten, Feste, Botschaften der christlichen Religion bedeuten mir etwas? Was ist mir an dieser Religion unverständlich und fremd? Über wen oder was ärgere ich mich? Gehört die religiöse Bildungsarbeit, die ich in meiner Einrichtung praktiziere, wesentlich zu meiner beruflichen Identität oder spielt sie nur eine untergeordnete Rolle? Was ist mir am Glauben so wichtig, dass ich es unbedingt den Kindern mitgeben möchte?
Das Reden über religiöse Themen
Erzieherinnen müssen in der Lage sein, wenn sie über religiöse Kompetenz verfügen wollen, sich über Themen aus dem Bereich des Glaubens zu unterhalten. Dazu gehört, dass sie sich mit zentralen Begriffen vertraut machen. Dazu gehört, dass sie unterscheiden können, ob sie vom Glauben oder von der Kirche sprechen. Dazu gehört, dass sie sich in dem, was sie glauben und meinen, in ihren Fragen und Zweifeln ausdrücken können. Dazu gehört, dass sie Auskunft geben können, wenn Kinder oder Eltern sie nach diesem oder jenem aus dem Bereich der christlichen Religion fragen. Dazu gehört, dass sie auch nonverbale (bildhafte, symbolische, musikalische, handelnde) Ausdrucksweisen des Glaubens verstehen und solche selbst anwenden können.
Auskunftsfähigkeit gegenüber den Kindern und das Vermögen, sie am eigenen Glaubensleben teilhaben zu lassen
Erzieherinnen müssen nicht nur mit Erwachsenen über Themen des Glaubens reden können, sie müssen sich auch den Fragen und Ansichten der Kinder stellen, darauf eingehen, mit ihnen gemeinsam nach Antworten suchen, Orientierung bieten können und bereit sein, von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Glauben zu erzählen. Kinder erwarten von den Erzieherinnen, dass sie sowohl Antworten auf ihre Fragen geben, weil die Kinder ihnen einen Vorsprung an Wissen und Erfahrung zutrauen; sie erwarten aber auch, dass die Erzieherinnen sich mit ihnen auf den Weg nach Antworten und Lösungen begeben und dabei offen sind für neue Entdeckungen und Einsichten.
Wissen darum, wo Informationen über Themen des Glaubens zu finden sind und wo religiöse Erfahrungen gemacht werden können
Zur religiösen Kompetenz von Erzieherinnen gehört auch, dass sie wissen, wo und auf welche Weise sie sich kundig machen können. Das betrifft nicht nur das Sammeln von Informationen und Wissensbausteinen aus dem Bereich des Glaubens; gemeint sind ebenso Begegnungen und Gespräche mit glaubenskundigen und -erfahrenen Menschen, das Wahrnehmen von Gelegenheiten zu religiösen Erfahrungen, zum Ausprobieren und Erleben, aber auch das Sammeln und Zuordnen von religiösen Gegenständen – Bildern, Symbolen, Schriften, Figuren, Büchern.
Wie kann religiöse Kompetenz erworben werden?
Natürlich wäre es ideal, wenn viele der Prozesse, die bei der Entfaltung der einzelnen Elemente religiöser Kompetenz beschrieben worden sind, von den Erzieherinnen bereits in ihrer Kindheit und Jugend stattgefunden hätten und ihre religionspädagogische Ausbildung darauf aufbauen könnte. Auch wenn dies noch immer bei sehr vielen angehenden Erzieherinnen der Fall ist – vor allem bei denen, die eine konfessionelle Fachschule bzw. -akademie besuchen –, es wird künftig immer weniger die Regel sein.
Deshalb wird die religionspädagogische Ausbildung zunehmend bedeutsamer, wenn es darum geht, dass Erzieherinnen eine religiöse Kompetenz erwerben. Da die Weiterentwicklung und Vertiefung dieser Kompetenz stark mit dem persönlichen Werdegang von Erzieherinnen verbunden ist, bekommt die religionspädagogische Fortbildung ein verstärktes Gewicht. Ausbildung und Fortbildung sollten deshalb zahlreiche persönlichkeitsbildende Anteile beinhalten.
Für die Entwicklung und Erweiterung religiöser Kompetenz kann ferner der Arbeitsplatz von Erzieherinnen wichtig sein, vor allem die Begegnung mit den Kindern und mit Eltern, der Austausch mit den Kolleginnen, Gespräche mit dem Träger (besonders wenn es sich um einen kirchlichen Träger handelt) sowie die Einbindung in das Leben der Kirchengemeinde. Schließlich kann eine Erzieherin ihre religiöse Kompetenz durch Selbststudium vertiefen.
Bei der Vermittelung bzw. dem Erwerb religiöser Kompetenzen sollte Folgendes bedacht werden
(1) Erzieherinnen sollte in der Aus- und Fortbildung ein attraktiver Zugang zu den Quellen von Informationen, Wissen und Erfahrungen zur Welt des Glaubens ermöglicht werden (Literatur, Materialien, Medien, Begegnung und Gespräch).
(2) Für die Aneignung von Wissen und die Möglichkeit einer Auseinandersetzung im Selbststudium sollten Erzieherinnen auf leicht lesbare, von Fachleuten empfohlene Publikationen und Arbeitshilfen zurückgreifen. Erzieherinnen sollten die Begegnung und das Gespräch mit Menschen suchen, die sich ebenfalls für Themen des Glaubens interessieren, die über Wissen und Erfahrung verfügen und in der Lage sind, die Erzieherinnen bei ihrem Selbststudium zu begleiten.
(3) In der Aus- und Fortbildung sollte religiöse Biographiearbeit angeboten werden, bei der Erzieherinnen Möglichkeiten und Hilfen an die Hand bekommen, sich ihrer bisherigen Erfahrungen mit Religion und speziell mit dem christlichen Glauben und der Kirche bewusst zu machen, sie anzuschauen und zu reflektieren und sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Dabei sollte auch deutlich gemacht werden, welche Bedeutung die persönlichen Erfahrungen von Erzieherinnen für die religionspädagogische Praxis haben.
(4) Zum Erwerb religiöser Kompetenz gehört auch die (in der Aus- und Fortbildung und im Selbststudium mögliche) Bewusstseinsarbeit mit Erzieherinnen hinsichtlich ihrer inneren religiösen Landschaften, sowohl der bewussten und als auch der noch unbestimmten religiösen und sonstigen Prägungen, die sie als Frauen mehr oder weniger gezielt in ihre religionspädagogische Arbeit einbringen. Diese Bewusstseinsarbeit bringt „blinde Passagiere“ ans Licht und stärkt die Souveränität der Erzieherinnen, wenn sie Entscheidungen über Inhalte, Ziele und Methoden religiöser Bildung treffen muss.
(5) Zur religiösen Kompetenz gehört auch die Entwicklung einer eigenen Spiritualität, also von Einstellungen und Handlungsweisen, die „aus einem bestimmten Geist heraus“ (Spiritualität) erfolgen. In der Aus- und Fortbildung und in der Begleitung von Erzieherinnen sollten Möglichkeiten der Entwicklung und Vertiefung einer eigenen Spiritualität geboten werden. Dabei ist eine „Spiritualität von unten“ zu bevorzugen, die bei dem ansetzt, was die lebensbestimmenden Bereiche von Erzieherinnen als Frauen ausmachen – bei ihren Träumen und Sehnsüchten, ihren Ängsten, Hoffnungen, Visionen, ihren Lebensentwürfen, ihren Selbstbildern und Fremdbilder –, und die alle diese Bereiche zur Welt des christlichen Glaubens in Beziehung setzt.
(6) Religiöse Kompetenz lässt sich auch erwerben und vertiefen durch Kontrasterfahrungen – beispielsweise die Erfahrung von unterschiedlichen Erlebens- und Glaubensweisen von Frauen und Männern, von Kindern und Erwachsenen, von Christen und Andersgläubigen. Das Einlassen auf solche Erfahrungen, das Reflektieren und Integrieren in die eigene religiöse Biographie kann persönlich sehr bereichernd sein und die eigene Glaubenswelt bunt und lebendig machen bzw. die Neugier auf Religion wecken, wenn diese an Bedeutung verloren haben sollte.
(7) Schließlich kann die religiöse Kompetenz von Erzieherinnen dadurch vertieft werden, dass sie – beispielsweise im Pastoralteam einer Kirchengemeinde, in einem Gesprächs- oder Arbeitskreis – als Frauen komplementäre Arbeitsweisen mit Männern entwickeln und kultivieren. Sie können als Frauen und Männer in kontinuierlichem Austausch miteinander „sich selbst und Gott auf die Spur kommen“, sich als Frauen mal von Frauen, mal von Männern begleiten lassen und dabei ihre ganz persönliche weibliche Art, den Glauben zu erfahren und zu praktizieren, erleben, sie verfeinern und zu einem Moment ihrer Identität als Frauen und als Erzieherinnen werden lassen.
Matthias Hugoth ist wissenschaftlicher Referent im Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) – Bundesverband, einem Fachverband des Deutschen Caritasverbandes. Ab Herbst 2006 lehrt er als Professor für Erziehungswissenschaft und Elementarpädagogik an der Katholischen Fachhochschule in Freiburg.
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