fK 3/06 Cinar

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Religionsfreiheit im säkularen Staat

Die Forderung nach Gleichstellung der Muslime darf universelle Werte nicht aushohlen

von Safter Cinar

Die vorübergehende Beschäftigung von Gastarbeitern hat zur Einwanderung von rund sieben Millionen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft nach Deutschland geführt. Eine Folge davon ist die dauerhafte Veränderung in der Zusammensetzung der Kinder in den Bildungseinrichtungen. Bedauerlicherweise hat sich diese Veränderung nicht ausreichend in den Ausbildungen für Erzieher(innen) und Lehrer(innen), in den Lehrplänen, Schulbüchern und Unterrichtsinhalten niedergeschlagen.

Nicht erst seit PISA und OECD-Migranten wissen wir, dass das bundesdeutsche Bildungssystem die Migration verschlafen hat. Es hat auch den Islam verschlafen bzw. ignoriert. Seit Beginn der 1980er Jahre haben sich die Probleme angedeutet: die Frage des Religionsunterrichts für Kinder muslimischen Glaubens, das Tragen von Kopftüchern (erst die Schülerinnen, später die Beschäftigten), die Weigerung der Eltern, ihre Tochter auf Klassenreisen mitfahren zu lassen und sie zum (koedukativen) Sport- oder Schwimmunterricht, zum Sexualkundeunterricht oder gar zum Biologieunterricht zu schicken.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Schüler(innen) und Eltern muslimischen Glaubens – ebenso wie beispielsweise Schüler(innen) christlichen Glaubens – das Recht haben, dass ihr Glauben im Bildungssystem Berücksichtigung findet, allerdings nur in dem vom Grundgesetz festgelegten Rahmen. Denn die Forderung nach Gleichstellung kann nicht bedeuten, dass Werte des Grundgesetzes, die weder deutsche, noch europäische, sondern universelle Werte sind, ausgehohlt werden.

Viele Beschäftigte in den Bildungseinrichtungen haben aus einer meines Erachtens falschen Rücksichtnahme heraus die Weigerung der Eltern, den Normen und Werten unserer Gesellschaft zu folgen, toleriert. Dabei wurden sie teilweise sogar von den Verwaltungsgerichten unterstützt. So hat das Bundesverwaltungsgericht ein anderslautendes Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalens aufgehoben und ausgeführt: „Führt ein vom Staat auf Grund seines Bildungs- und Erziehungsauftrages aus Artikel 7 Abs. 2 im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht angebotener koedukativ erteilter Sportunterricht für eine zwolfjährige Schülerin islamischen Glaubens im Hinblick auf die Bekleidungsvorschriften des Korans, die sie als für sich verbindlich ansieht, zu einem Gewissenskonflikt, so folgt für sie aus Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG ein Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht, solange dieser nicht nach Geschlechtern getrennt angeboten wird“ (BVerwG Urteil vom 25.8.1993 – 6 C 8.91).

Dies ist umso erstaunlicher, da das Bundesverfassungsgericht seinerzeit eine Klage gegen die Einführung des Sexualkundeunterrichts abgewiesen (Beschluss des Ersten Senats vom 21.121977 1 BvL 1/75, 1 BvR 147175) und sinngemäß festgestellt hatte, dass im Bereich der schulischen Erziehung die Ausübung der Religionsfreiheit durch den staatlichen Erziehungsauftrag gemäß Artikel 7 Abs. 1 GG beschränkt wird. Begrüßenswerterweise hat das Hamburger Verwaltungsgericht kürzlich die Befreiung zweier islamischer Mädchen vom Sexualkundeunterricht abgelehnt (15 VG 5827/2003 vom 12.1.2004).

Natürlich haben wir es in erster Linie mit einem gesellschaftlich-kulturellen Phänomen zu tun, aber unsere Werte finden ihren Niederschlag auch in den Rechtsnormen – und diese sollten eingehalten und durchgesetzt werden. Hier ist allerdings besondere Vorsicht und Sensibilität gefordert. In das Kopftuch (und ähnliche Kleidung der Schülerinnen) sollte nicht eingegriffen werden. Da es in der Schule ohnehin keine ‚Kleiderordnung‘ gibt, gibt es für einen solchen Druck auch keine Rechtsgrundlage. Andererseits darf auch nicht erlaubt werden, dass ein sozialer Druck Richtung (islamische) Kleidung erzeugt wird.

In keiner Weise darf zugelassen werden, dass mit religioser Begründung Befreiungen vom Unterricht oder anderen schulischen Veranstaltungen gewährt werden. In diesen Fällen darf der Konflikt jedoch nicht mit den Schülerinnen ausgetragen werden, sondern mit den Erziehungsberechtigten. Es kann nicht hingenommen werden, dass aus falsch verstandener Toleranz wichtige Inhalte des staatlichen Bildungsauftrages außer Kraft gesetzt werden. Die uneingeschränkte Durchsetzung der Schulpflicht hat nichts mit Stigmatisierung der muslimischen Eltern zu tun. Wer sich dazu entschlossen hat, sich in Deutschland niederzulassen, muss die hier gültigen Regeln akzeptieren.

Die Diskussion um Kopftuch tragende Lehrkräfte ist zwar zurzeit verstummt, aber wie sie geführt wurde, war bezeichnend. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht zu einer Bestätigung des Kopftuchverbotes für das Lehrpersonal durchringen konnen, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hatte, „dass das Verbot, während des Unterrichts das Kopftuch zu tragen, sich demnäch als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erweist. (….) Schließlich wird den Frauen das Tragen des Kopftuchs durch eine Vorschrift des Korans auferlegt, welche nur schwer zu vereinbaren ist mit der Botschaft von Toleranz, Respekt vor dem Andersdenkenden, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, welche in einer Demokratie jede Lehrkraft ihren Schülerinnen und Schulern vermitteln soll.“ Und weiter: „Es handelt sich (….) nicht um eine Ungleichbehandlung gestützt auf das Geschlecht (Urteil vom 15.2.2001. 42393/98, Kanton Genf/Schweiz).

Der von der ehemaligen Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck, initiierte Aufruf für das Kopftuch zeigt die ganze Naivität in Teilen der Gesellschaft. Die Unterzeichnerinnen behaupteten, „dass gerade Frauen in der Diaspora auf das Kopftuch zurückgreifen, um ihr Anderssein zu markieren“. Auf die naheliegende Frage, warum diese Frauen gerade auf ein Kampfmittel der Fundamentalisten zurückgreifen, gaben die Unterzeichnerinnen die folgende Antwort: „Um eine Differenz im Verständnis von Sittsamkeit und Tugendhaftigkeit gegenüber der Aufnahmegesellschaft zu dokumentieren“. Wollten die Unterzeichnerinnen, dass dieses Verständnis an unseren Schulen gelehrt wirdß Die Unterzeichnerinnen meinten, dass bei einer Nichtzulassung des Kopftuches im offentlichen Dienst nur die Frauen getroffen sein wurden. Entging ihnen, dass bei den meisten Forderungen der Fundamentalisten auch nur Mädchen bzw. Frauen betroffen, das heißt diskriminiert werden?

Die gesellschaftlich-politische Ignoranz gegenüber der ständigen Anwesenheit von einigen Millionen Menschen in Deutschland hat vor allem im Bildungsbereich dazu geführt, dass keine Antwort auf das berechtigte Ansinnen muslimischer Eltern gefunden wurde, ihre Kinder an denn Schule religios zu unterweisen. Deshalb haben fragwürdige Organisationen diese Lücke innerhalb und außerhalb des Bildungssystems gefüllt.

So konnte in Berlin die „Islamische Foderation“, über die der damalige Berliner Senator für Inneres, Dr. Eckart Werthebach, in Beantwortung einer parlamentarische Anfrage am 9.3.2000 festgestellt hatte: „Die tatsächlichen Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen ergeben sich insbesondere aus den engen Verflechtungen zwischen der Islamischen Foderation und der Berliner Gliederung der islamisch-extremistischen „Islamischen Gemeinschaft Milli Gorus e.V. (IGMG)“, vor dem Bundesverwaltungsgericht das Recht einklagen, an den Schulen islamischen Religionsunterricht zu erteilen.

Eines der Hauptprobleme ist die Suche nach Ansprechpartnern. Das Grundgesetz etabliert ein säkulares Staatswesen für die Bundesrepublik. Es ist daher davon auszugehen, dass mit Religionsgemeinschaften Bekenntnisgemeinschaften gemeint sind und keine Organisationen mit (partei-)politischen Hintergründen und Zielen. Der Islam kennt jedoch keine Vermittler zwischen Gott und den Gläubigen. Die „Imame“ sind – wie es die deutsche Übersetzung sehr präzise wieder gibt – „Vorbeter“, also nicht vergleichbar mit Pfarrern oder Priestern. Für die Diskussion in Deutschland ist der wichtigste Aspekt, dass der Islam keine Hierarchien und Organisationen im Sinne von Religionsgemeinschaften kennt und diese sich auch nicht im Laufe der historischen Entwicklung etabliert haben. Ausgehend von dieser Tatsache ist die überwiegende Zahl der Muslime unorganisiert.

Vorhandene islamische Organisationen sind fast ausschließlich politischen Zielen verbunden. Dies ist aber nicht immer ohne weiteres nachweisbar. Zwar sind in einer pluralistischen Demokratie die Grenzen des Zulassigen zurecht großzügig bemessen, wer aber institutionelle Anerkennung beansprucht und damit bestimmte Privilegien erwerben will, muss sich strengeren Maßstäben stellen als z.B. das Vereinsrecht es verlangt.

In der heutigen Welt finden die großten Menschenrechtsverletzungen in Staaten statt, die von sich behaupten, nach islamischen Normen und Gesetzen zu handeln. Deshalb reicht es auch nicht aus, dass Organisationen bzw. deren Vertreter sich verbal zum Grundgesetz bekennen. Sie müssen zu den Verhältnissen in diesen Staaten, zu der Forderung nach der Einführung der Scharia und ähnlichen Fragen eindeutig Position beziehen. Die Sprecher dieser Organisationen sind sich dieser Schwäche bewusst, deshalb versuchen sie, „Auswüchse“ der Scharia (Handabhacken etc.) zu negieren. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt, es geht vielmehr darum, dass die Forderung nach der Anwendung der Scharia, d.h. eines islamisch-religioses Rechts (oder eines anderen religiosen Rechts), grundsätzlich mit der säkularen Ordnung des Grundgesetzes nicht vereinbar ist. Insofern ist eine Diskussion um die Inhalte der Scharia obsolet.

Die vom so genannten Zentralrat der Muslime 2002 veroffentlichte „Islamische Charta“ ist ein „Muster ohne Wert“. Es reicht nicht aus zu sagen, wir halten uns an deutsche Gesetze und akzeptieren die Rechtsordnung der Bundesrepublik, wie das der Zentralrat tut. Die Vertreter der Muslime mussen die Werte, die dieser Rechtsordnung zugrunde liegen, weltweit verteidigen. Aber zu all den Verbrechen, die im Namen des Islam verübt werden, schweigt sich der Zentralrat der Muslime aus.

Zweitens heißt es in der Charta, wir wollen keinen klerikalen Gottesstaat. Das ist ein geschickter Schachzug, denn es gibt im Islam keinen Klerus, somit auch keinen klerikalen Gottesstaat. Den gab es nicht einmal in Afghanistan unter den Taliban, die Herrschenden dort waren vor allem Ingenieure. Man muss sich schon weltweit vom Konzept des Gottesstaates distanzieren und die zivile Rechtsordnung weltweit verteidigen, will man glaubwürdig sein.

Es wird gesagt, Männer und Frauen hätten gleiche Lebensaufgaben und das aktive und das passive Wahlrecht der Frauen wurde akzeptiert – aber das sind nicht die Punkte, auf die es ankommt. Die sind selbst im Iran nicht umstritten. Es gibt andere wichtige Fragen, zu denen die Charta beharrlich schweigt. Zum Beispiel: Wie steht der Zentralrat zu gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, zum Sexualkundeunterricht, zum koedukativen Sport- und Schwimmunterrichtß Das alles sind doch Fragen, die seit Jahren kontrovers diskutiert werden und wo eine Charta Klarheit hatte schaffen konnen.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die nach christlich-abendländischer Logik veranstaltete krampfhafte Suche nach islamischen Religionsgemeinschaften überhaupt sinnvoll ist. Es muss deshalb ernsthaft in Erwägung gezogen werden, ob nicht angesichts der veranderten gesellschaftlichen Verhältnisse eine Ergänzung des Artikel 7 Absatz 3 GG notwendig ist, die die Frage religioser Ansprechpartner für Religionen ohne Organisationsstrukturen neu regelt und dadurch lost, dass wissenschaftliche Institutionen im In- und Ausland als „Ansprechpartner“ akzeptiert werden.

Dennoch ist die Absicht von Bundesinnenminister Schäuble zu begrüßen, ab Herbst eine ständige Islam-Konferenz einzuberufen und mit den Organisationen eine Art Gesellschaftsvertrag auszuhandeln. Sie soll sich je zur Hälfte aus Vertretern des Staates und der Muslim-Verbände zusammensetzen. Angesichts der oben erwähnten Problematik wäre es wünschenswert, auch relevante „weltliche“ Migrantenorganisationen in den Prozess einzubeziehen.

Etwas merkwürdig erscheint dagegen das von Bundesfamilienministerin von der Leyen einberufene „Bündnis für Erziehung“. Hier nur Religionsgemeinschaften – und dann nicht einmal alle – einzuladen, ist schon fast als Verfassungsbruch zu bezeichnen. Die Ministerin mag ihre Kinder nach christlichen Werten erziehen. Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag dagegen ist – trotz der Referenz des Grundgesetzes an das Christentum – ein weltlicher. Falls das Vorhaben der Ministerien Programm werden sollte, wäre das eine zusätzliche Ausgrenzung der Muslime, was radikalen muslimischen Kräften weitere Munition liefern wurde.

Safter Cinar ist Vorsitzender des Türkischen Elternvereins in Berlin-Brandenburg.

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