fK 3/06 Beer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Religiöse Erziehung in den Bildungsplänen der Länder

von Peter Beer

Religion, Glaube, religiöse Erziehung in Bildungsplänen – ist das überhaupt nötig? Oder anders gefragt: Ist das überhaupt zulässig? Diese Fragen scheinen nicht unberechtigt zu sein, setzt man das, was Bildungspläne sind und sein wollen, mit dem in Beziehung, was Religion, Glaube bzw. religiöse Erziehung nach landläufiger Meinung ausmachen.

Schwierigkeiten, Probleme und offene Fragen
Die Einwände gegen die Aufnahme des Phänomens Religion und alles, was dazu gehört (Bezug zu Glaubensgemeinschaften, unterschiedliche Brauchtümer, gottesdienstliche Formen etc.), in Bildungspläne lassen sich knapp folgendermaßen zusammenfassen.

(1) Bildungspläne beschreiben Standards für die pädagogische Arbeit und deren Gelingen in unterschiedlichen Kontexten. Sie sind so gesehen ein nicht zu unterschätzendes Instrument der Qualitätssicherung, welche mit objektiven Verfahren durchgeführt werden kann. Religion näher hin Glaube sind aber etwas Subjektives. Wer will überprüfen, ob man nun wirklich oder „richtig“ Gott erfahren hat? Wer möchte sich das Recht herausnehmen können, angesichts unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten Schiedsrichter darüber zu spielen, wer nun frömmer und damit erfolgreicher bestimmte Prozesse religiöser Erziehung durchlaufen hat?

(2) Bildungspläne stellen meist ein Unternehmen in staatlicher Verantwortung dar (um genau zu sein oftmals der Bildungs- oder Sozialministerien). Nach dem Selbstverständnis des demokratischen sowie säkularen Staates sind jedoch Kirche bzw. Religion und Staat voneinander getrennt. Will der Staat nicht in einen Selbstwiderspruch kommen, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als auf Distanz zu Religion und/oder Kirchen zu gehen. Warum also sollte der Staat mit seinen Bildungsplänen jene Distanz aufgeben, indem er Religion in seine Pläne aufnimmt?

(3) Bildungspläne haben mit ihrer Gültigkeit für ganze Bundesländer eine gewisse Integrationsfunktion. Die nicht selten große Vielzahl unterschiedlicher Qualitätssicherungsinstrumente sowie Qualitätsbeschreibungen haben mit jenen Plänen einen Fixpunkt, der nicht übersehen werden kann und darf. Von juristischen Problemen einmal abgesehen, würde eine Vernachlässigung dieses Fixpunktes die Vergleichbarkeit der pädagogischen Angebote verschiedener Träger verunmöglichen, die Kooperationen zwischen gleichwertigen Partnern erheblich erschweren und Synergieeffekte, z.B. bei der Weiterqualifizierung des pädagogischen Personals anhand einheitlicher Standards, verschwinden lassen. Dem offensichtlich intendierten integrativen Element der Bildungspläne steht der offenbar plurale Charakter des Religiösen entgegen. In zunehmendem Maße ist auch unsere Gesellschaft in religiöser Hinsicht einem Pluralisierungsdruck ausgesetzt. Warum also die Integrationsfunktion der Pläne gefährden, indem das disperate Phänomen Religion darin aufgenommen wird?

(4) Bildungspläne haben als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen das Kind und dessen Wohl. Die Ausführungen in den Plänen wollen Auskunft darüber geben, wie Kinder optimal in ihrer Entwicklung unterstützt werden können und wie sie stark für das Leben werden. Entsprechend neuerer entwicklungspsychologischer Einsichten finden die Eigenaktivität der Kinder und ihr ko-konstruktives Handeln im Bezug zu dem der Erwachsenen bei der Auseinandersetzung als auch Aneignung der Lebenswelt besondere Beachtung. Religion aber ist doch eher ein Thema gelungenen ästhetischen Ausdrucks eigener Gefühlslagen als gelingender Lebensvorbereitung (denkt man an die nahezu zahllosen ganzheitlichen Gottesdienstelemente wie Lied, Symbol, Geschichten, Tanz, Kerzen etc.). Und Religion ist doch eher das Erlernen unveränderlicher offenbarter Wahrheiten als die Entfaltung freier Eigenaktivität. Warum also die weithin akzeptierte und ebenso geforderte Konzentration auf die Entwicklung des Kindes in Bildungsplänen schwächen oder gefährden, indem in den Plänen Religion und die darauf bezogene Erziehung Berücksichtigung finden?

(5) Bildungspläne würden missverstanden, setzte man sie mit „Betriebsanleitungen“ gleich, denen es im Wesentlichen nur um das Funktionieren von Lehrenden und Lernenden ginge, wobei so Grundsatzfragen wie jene nach dem zugrunde liegenden Menschenbild, der Sinn- und Werthaftigkeit des beschriebenen pädagogischen Tuns keine Rolle spielten. Klare Hinweise auf die den Plänen zu Grunde liegende Wertbasis und die sich dem Humanismus verpflichtet wissenden Leitlinien sind des Öfteren auszumachen. Dabei ist ebenso weitgehend klar, jene Wertebasis, jener Humanismus ist auch an die heranwachsende Generation der Kinder weiterzugeben. Warum also durch die Aufnahme von Religion in die Pläne diese Wertethematik unnötig verdoppeln, geht es doch bei religiöser Erziehung auch immer um Werte? Und noch dazu: Warum eine unnötige Verdoppelung, die darüber hinaus auch Schwierigkeiten bereitet, gilt doch der Humanismus für alle, das mit der Religion Zusammenhängende aber immer nur für verschiedene Anhänger bestimmter Religionen?

Chancen, Potenziale und klare Aussagen
Religion, Glaube religiöse Erziehung in Bildungsplänen – das ist mehr als zulässig, wenn nicht sogar notwendig. Für diese These lässt sich folgendes anführen.

(1) Die Aufnahme von Religion bzw. religiöser Erziehung in die Bildungspläne widerspricht nicht deren Eigenart als Qualitätssicherungsinstrument. Bei der Beschreibung religiöser Erziehung in den Bildungsplänen geht es weder um die Intensität einer wie auch immer gearteten persönlichen Beziehung zu einem Göttlichen noch um die Perfektion in gewissen Glaubenspraktiken. Es dreht sich vielmehr alles um die Beschreibung der Bedingungen, die eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion und Glaube möglich machen. Kinder müssen nicht zwangsweise glauben, aber sie sollen die Möglichkeit haben, Religion und Glauben als Teil der sie umgebenden Lebenswelt kennen zu lernen, um sich selbst ein Urteil bilden zu können.

(2) Unbeschadet der Trennung von Kirche und Staat und einzelnen Religionen ist es nicht im Interesse der staatlichen Organe, das Phänomen Religion grundsätzlich und vollständig zu vernachlässigen. Ein funktionierendes Gemeinwesen, für das der Staat Sorge zu tragen hat, ist auf den Ausgleich der Interessen, Meinungen und Überzeugungen angewiesen. Nun lässt es sich nicht leugnen, dass gerade in unserer Zeit die Zahl der Menschen, die sich in besonderer Weise einer Religion verpflichtet fühlen, nicht nur ab-, sondern in bestimmter Weise auch zunimmt (vgl. z.B. Muslime). Die Bemühungen um interkulturelle Arbeit und Integration im Kontext von Migration lassen sich ohne Bezug zu Religion und Glaube kaum realisieren. Allein dies mag schon als Hinweis gelten, wie bedeutsam die Berücksichtigung von Religion in Bildungsplänen ist. Je eher Kinder schon frühzeitig lernen, wie Religion das Leben von Menschen prägt, was zu Religion alles gehört und wie sie sich ausdrückt, desto nachdrücklicher kann das gegenseitige Verstehen trotz bestehender Unterschiede wachsen und die Grundlage für ein plurales, friedliches Miteinander gelegt werden.

(3) Die Beschreibung religiöser Erziehung in den Bildungsplänen berücksichtigt die integrative Funktion jener Pläne. Es wird der allgemeine Rahmen für religiöse Erziehung beschrieben, nicht jedoch der spezifische Inhalt dieses Rahmens, der den einzelnen Trägerorganisationen von Kindertageseinrichtungen mit ihrem je eigenen weltanschaulichen bzw. religiösen Hintergrund überlassen ist. Der in den Plänen skizzierte Rahmen umfasst jene Vorstellungen von religiöser Erziehung, die diese eher als Einführung in relevantes Kulturwissen bzw. Reden über Religion verstehen, genauso wie jene Konzeptionen religiöser Erziehung, die eher den aktiven Glaubensvollzug im Auge haben. Eine entscheidende Formulierung im Bezug auf den erwähnten allgemeinen Rahmen ist die vom „Umgehen können mit im Lebensumfeld vorhandenen Religionen“. Damit soll zum einen der jeweils eigenen religiösen bzw. weltanschaulichen Identität der Kinder und deren Familien Rechnung getragen werden, die es zu entwickeln gilt – sei es nun als Angehörige einer Glaubensgemeinschaft oder nicht. Zum anderen ist damit aber auch auf die Pluralitätsfähigkeit der je eigenen Identität abgezielt, die sich nicht nur von anderen abschließen und abgrenzen kann.

(4) Religiöse Erziehung bekennt sich zur Förderung des Kindes und stellt somit einen bereichernden Baustein von Bildungsplänen dar. Dabei geht es immer wieder um die Interessen sowie Fragen von Kindern, die die Suche nach Sinn und Orientierung zum Ausdruck bringen. „Wer hat den Himmel gemacht?“ „Wo war ich bevor ich auf die Welt kam?“ Solche und ähnliche Äußerungen von Kindern zeigen die Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, nimmt man Kinder wirklich ernst. Religiöse Erziehung bietet dafür Raum, Zeit und Gelegenheit vor dem Hintergrund der großen (Erzähl-)Traditionen der Religionen. Wer für sich Lebenssinn und/oder eine Orientierung für das Leben gefunden hat, der wird sich leichter so manchen Unsicherheiten stellen können. Damit wird auch ein gewichtiger Beitrag zur Förderung der Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und der Fähigkeit zum Umgang mit Transitionen (Lebensübergängen wie z.B. Änderung der Familienkonstellation durch die Geburt eines Geschwisterkindes, Trennung der Eltern, Eintritt in die Schule) von Kindern geleistet.

(5) Religiöse Erziehung in die Bildungspläne aufzunehmen, bedeutet keine unnötige Verdoppelung im Bezug auf die in den Plänen angeführte Wertebasis oder das klar gelegte Menschenbild. Religiöse Erziehung möchte darauf hinweisen, dass es auch andere Sichtweisen auf die Wirklichkeit gibt, die sich zumindest nach Überzeugung der Religionen nicht allein auf Innerweltliches beschränken lässt. In diesem Sinn eröffnet Religion den Blick über die Welt hinaus, ohne darüber die Konsequenzen für die Gestaltung des Lebens innerhalb der Welt zu vergessen. Hier liegt der Berührungspunkt zur Werte- bzw. Sozialerziehung, wobei religiöse Erziehung eben wegen ihrer eigenständigen Blickrichtung nicht damit in eins fällt. Zumindest um jene Blickrichtung zu wissen, von ihr schon einmal gehört zu haben, kann das Leben bereichern. Multiperspektivität hilft Einseitigkeiten, Einbahnstraßen im Denken zu vermeiden und stärkt die Dynamik in der eigenen persönlichen Entwicklung.

Anforderungen, Herausforderungen und Leitlinien
Die Aufnahme von religiöser Erziehung in die Bildungspläne sollte für die Verantwortlichen religiöser Erziehung Anspruch und zugleich Ansporn sein, sich den damit verbundenen Anforderungen zu stellen. Diese Anforderungen können unter Umständen nicht immer zu jeder Zeit vollkommen abgedeckt werden. Nichtsdestotrotz können sie Innovationsschübe für religiöse Erziehung mit sich bringen, die letztlich allen am pädagogischen Prozess Beteiligten ein Gewinn sind. Eine gewisse Aktualität besitzen unter anderem folgende Anforderungen.

(1) Es gilt die Entwicklung und Durchführung spezifischer Qualitätssicherungsmaßnahmen zu fördern, die die in den Bildungsplänen für religiöse Erziehung vorgegebenen Standards realisieren helfen. Die Qualität religiöser Erziehung alleine danach zu bemessen, wie viele Kirchgänger oder Moscheegänger sie „produziert“ hat, ohne z.B. eigene Entscheidungsgrundlagen dafür zu berücksichtigen, würde zu kurz greifen.

(2) Es ist von großer Bedeutung, dass mit religiöser Erziehung das immer drängendere Problem von Identität und Pluralität aufgegriffen wird, an dem unsere Gesellschaft zu zerbrechen droht, sollten Einseitigkeiten in die eine oder andere Richtung Oberhand gewinnen. Dabei kann eine Leitidee die der Wahrung des gesellschaftlichen Grundkonsenses sein, der Einheit und Verschiedenheit versöhnt.

(3) Religiöse Erziehung sollte sich vor Ort in den einzelnen Einrichtungen dem öffentlichen Diskurs mit Eltern, Familienangehörigen und Erziehungspersonal stellen. Es reicht nicht mehr, nur einen „schönen“ Gottesdienst zu feiern, der zwar eine Unmenge von kreativen Elementen bietet, dessen Bedeutung aber nicht klar gemacht werden kann. Unterschiedliche Auffassungen können so abgeklärt, Missverständnisse aufgeklärt und die eventuell gemeinsame Grundintention religiöser Erziehung einladend zur Sprache kommen.

(4) Das situationsorientierte Arbeiten in religiöser Erziehung gilt es zu stärken, um die Bedeutung des Themas Religion für die kindliche Entwicklung klar zu machen. Ein bloßes „Abfeiern“ religiöser Feste ist zu wenig. Das stetige Bemühen und Erarbeiten zentraler Schlüsselsituationen kindlichen Lebens und das lebendige In-Beziehung-Setzen dieser mit religiösen Inhalten als Deutungshilfen des Lebens ist sinnvoll.

(5) Die Vernetzung religiöser Erziehung mit anderen Förderschwerpunkten innerhalb der Bildungspläne (z.B. Sprache, Naturwissenschaften, Ästhetik) kann dazu beitragen, klar zu machen, worin das Unterscheidende aber zugleich das Bereichernde religiöser Erziehung liegt. Es gilt, davon Abstand zu nehmen, religiöse Erziehung als ein pädagogisches Angebot sich vorzustellen, das unverbunden neben anderen steht.

Unterschiede, Spielarten und Variationen
Ein Blick auf die entsprechenden Internetseiten mit den landesspezifischen Bildungsplänen (www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite=2027) zeigt die Vielfalt von Formulierungen, Schwerpunktsetzungen und Überlegungen bei den Bemühungen, Bildung und Erziehung sachgerecht darzustellen. Dabei spiegeln sich die unterschiedlichen Kontexte wider, innerhalb derer die Bildungspläne verfasst wurden. Dies gilt auch und gerade im Bezug auf die religiöse Erziehung, die in einem Bundesland wie Bayern anders gefasst ist als beispielsweise in einem Bundesland im Osten der Republik mit seiner spezifischen Geschichte der Säkularisierung.

Solche Vielfalt kann als Belastung, aber genauso als Bereicherung gedeutet werden. Vielfalt, die zur Unübersichtlichkeit tendiert und Austausch verhindert, ist sicherlich belastend. Vielfalt, verstanden als Ideenpool, der dazu anregt, immer wieder Neues zu lernen, bereichert. In diesem Sinne wäre es sicherlich wünschenswert, wenn in Bezug auf die Texte zur religiösen Erziehung in Bildungsplänen nach einer gewissen Zeit der Praxiserprobung bundesweit der Dialog darüber in Gang käme, welche gedanklichen Ausführungen der kindlichen Entwicklung am förderlichsten sind.

Prof. Dr. Dr. Peter Beer ist Professor für Religionspädagogik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos Benediktbeuern.

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