fK 3/05 Salgo

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Umgang mit Kindern in Familienpflege – Voraussetzungen und Grenzen

von Ludwig Salgo

Im Mittelpunkt dieses Beitrags sind Pflegekinder, bei denen erhebliche Konflikte um den Umgang mit ihnen durch ihre Eltern bestehen. Im Zentrum stehen mehrfach vorbelastete, zumeist traumatisierte Pflegekinder, die wegen erheblicher Gefährdungen unterschiedlicher Art nicht mehr mit ambulanten Hilfen in ihrem Herkunftsmilieu erreichbar waren und deshalb auf Dauer in Familienpflege leben. In solchen Fällen stellen sich die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs in ganz spezifischer Weise.

Pflegekinder sind keine „Scheidungskinder“

Die einschlägige familienrechtliche Regelung des Umgangs findet sich in § 1684 BGB. Dem Wortlaut dieser zentralen Bestimmung des Familienrechts ist nicht zu entnehmen, dass die Regelung ohne weiteres auch dann gelten soll, wenn das Kind nicht (mehr) bei seinen Eltern, auch nicht bei einem Elternteil lebt. Der Wortlaut des § 1684 BGB, die umfangreiche Fachliteratur aus unterschiedlichen Disziplinen, empfohlene Standards zu Umgangsregelungen, Fachtagungen u.v.a.m., sie alle stellen den Umgang des bei einem Elternteil lebenden Kindes mit dem anderen Elternteil in den Mittelpunkt. Erst nach intensivem Suchen in der regierungsamtlichen Begründung zu § 1684 BGB wird man fündig: „Auch gegenüber Dritten, in deren Obhut sich das Kind befindet, wird dem Elternteil, der die Sorge hat, ein Umgangsrecht zugestanden (etwa gegenüber Pflegeeltern)“. Die herrschende Meinung wie die regierungsamtliche Begründung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz gehen davon aus, dass das Umgangsrecht kein Restbestandteil der elterlichen Sorge (§ 1626 BGB) ist, sondern sich aus dem natürlichen, von der Verfassung geschützten Elternrecht ergibt, d.h. auch Eltern ohne oder mit eingeschränkten sorgerechtlichen Befugnissen zusteht. Sorgerechtsbeschränkungen wegen Kindeswohlgefährdung gemäß §§ 1666, 1666a BGB – solche bestehen bei einer Vielzahl der Pflegekinder – führen folglich noch nicht automatisch zu Umgangsbeschränkungen; solche sind einer gegenüber § 1666 BGB vorrangigen Regelung und der Entscheidungsbefugnis des Familiengerichts gemäß § 1684 Abs. 3, 4 BGB vorbehalten.

Das Kindschaftsrechtsreformgesetz verschweigt zwar mögliche Zielkonflikte zwischen Umgangsrecht und Kindeswohl nicht, formuliert indes die Voraussetzungen für Beschränkungen bzw. Ausschluss des Umgangs fast durchgehend aus dem Blickwinkel des Elternstreits anlässlich Trennung und Scheidung und geht dabei von der Grundannahme positiver Wirkungen von Umgang auf das Kindeswohl aus (vgl. § 1626 Abs. 3 BGB), weshalb die Voraussetzungen für Umgangsbeschränkungen bewusst hoch angesetzt worden sind. Der Beziehungserhalt zwischen Kind und dem nicht den Alltag mit diesem teilenden Elternteil scheint nach den Einstellungen vieler Richter und zahlreicher psychosozialer Professionellen im Zentrum aller Bestrebungen zu stehen. Im Zuge der Implementierung des Gewaltschutz- und des Kinderrechteverbesserungsgesetzes wird endlich auch mit Bezügen auf die nationale und ausländische Forschungslage die ansonsten regelhaft unterstellte positive Auswirkung des Umgang auf das Kindeswohl jedenfalls für Kinder mit erheblichen Vorbelastungen wie etwa durch häusliche Gewalt nicht mehr anerkannt. Auffallend ist angesichts der wissenschaftlich solide fundierten Forschungslage z.B. zu häuslicher Gewalt und Umgang und deren Berücksichtigung in Gesetzgebung und Rechtsprechung in zahlreichen Ländern die verzögerte, bisweilen ganz ausbleibende Rezeption dieser Wissensbestände in Deutschland.

Umgang bei Pflegekindern ohne traumatische Erfahrung

Zweifelsohne: nicht nur traumatisierte und/oder schwer vernachlässigte Kinder leben bei Pflegeeltern und zweitens: es gibt gute und unproblematische Kontakte zwischen Pflegekindern und ihren Eltern ohne Schwierigkeiten. Beiden Aussagen kann nicht widersprochen werden. Nur, in welchen Fallkonstellationen und unter welchen Umständen gibt es solche positiven Verläufe? Hier wären repräsentative Untersuchungen gerade von positiv verlaufenden Umgangskontakten zwischen Pflegekindern und ihren Herkunftsfamilien hilfreich. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für möglichst wenig verunsichernde Kontakte ist die Klarheit hinsichtlich der Zukunftsperspektiven des Pflegeverhältnisses. Die geforderte „Hierarchie der wichtigen Regelungsaufgaben“ fordert hier eindeutig, zuerst den generellen Aufenthalt zu regeln und somit die mittel- und langfristige Perspektive des Pflegekindschaftsverhältnisses zu klären: „zeitlich befristete oder auf Dauer angelegte Lebensform“ (§ 33 Abs. 1 Satz 1 KJHG).

Handelt es sich um einen Fall ohne traumatisierende Erfahrungen auf Seiten des Kindes, um einen vorübergehenden Ausfall von Eltern wegen Krankheit o.ä., dann kommt dem Umgang eine zentrale Bedeutung zu, die Gefährdungen durch Umgang sind kein Thema. Allerdings: Wenn überhaupt ein solches Kind fremdplaziert werden muss – warum finden sich keine Lösungen in Verwandtschaft oder Nachbarschaft? Warum kommen keine ambulanten Maßnahmen in Betracht? Ein solches Kind ist räumlich und sozial so nahe wie nur möglich am Herkunftsmilieu zu plazieren; je mehr und je häufiger es Umgang hat und ihm seine Bezugswelt (Schule, Freunde, Verwandtschaft) soweit wie nur möglich erhalten bleibt, um so besser sind die Chancen einer alsbaldigen Realisierung der Rückkehroption: Die Herkunftsfamilie sollte so viele der Elternfunktionen wie nur möglich behalten bzw. sobald wie möglich alle nach und nach von den Pflegeeltern wieder übernehmen. Vielleicht kann sie partiell trotz der Notwendigkeit vorübergehender Unterbringung manche Elternaufgabe behalten und wahrnehmen. Funktionierender Umgang ist hier der beste Schlüsselindikator für die alsbald zu realisierende Rückkehroption mit der Übernahme sämtlicher Elternaufgaben. „Während dieser Zeit soll durch begleitende Beratung und Unterstützung der Familien darauf hingewirkt werden, dass die Beziehung des Kindes oder Jugendlichen zur Herkunftsfamilie gefördert wird“ (§ 37 Abs. 1 Satz 3 KJHG).

Es gibt auch zahlreiche positiv verlaufende Umgangskontakte bei auf Dauer angelegten Pflegekindschaftsverhältnissen. Das Geheimnis hier ist banal: Hier handelt es sich entweder nicht um traumatisierte oder schwer vernachlässigte Kinder und vor allem wurde in diesen Fällen die „Hierarchie der wichtigen Regelungsaufgaben“ beachtet, d.h. es herrscht Einigkeit zwischen Eltern, Pflegeeltern, Jugendbehörde, ggf. Gericht und Kind über die Zukunftsperspektive des Pflegeverhältnisses. Oder: Nach Überwindung entsprechender traumatischer Erfahrungen durch therapeutische Hilfen bei den Kindern und entsprechenden Veränderungen auf Seiten der Eltern kann über Umgang neu nachgedacht werden. Aus einer gesicherten Perspektive, häufig nach entsprechenden therapeutischen Hilfen, können Kinder ihren Eltern anders begegnen. Zu dieser Klarheit und Transparenz und zur Beendigung der Doppelmoral, die immer auf dem Rücken des Kindes ausgetragen wird („Du bleibst auf Dauer bei uns“ – „Du bist bald wieder bei mir“), fordert das seit 1991 geltende KJHG unmissverständlich auf. Elternarbeit mit Eltern fremdplazierter Kindern – ob mit oder ohne Rückkehroption – stellt in jedem Falle eine Herausforderung an die Träger der Kinder- und Jugendhilfe dar und könnte eine realistischere Sicht zu den Möglichkeiten und Grenzen der Eltern vermitteln, auch präventiv zum Konfliktabbau beitragen und von besonderer Bedeutung für weitere Kinder in der Herkunftsfamilie werden.

Vorbelastungen von Pflegekindern und deren Auswirkungen auf den Umgang

Pflegekinder haben häufig – im Gegensatz zum Regelfall des Kindes bei Scheidung und Trennung – eine unterbrochene, oft gestörte, nur zu oft überhaupt keine tragfähige Beziehung zu den Eltern. Sozialrechtlich gesprochen – und die meisten Pflegekinder sind im Rahmen von „Hilfen zur Erziehung“ gem. §§ 27, 33 KJHG in Familienpflege untergebracht –, war eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung in der Herkunftsfamilie nicht gewährleistet (§ 27 Abs.1 KJHG) und die Fremdplazierung des Kindes notwendig geworden. „Notwendig“ ist hier zumeist im wortwörtlichen Sinne zu verstehen: es bestand sehr häufig eine Notsituation, die dringender Abhilfe bedurfte, um eine nicht anders veränderbare erhebliche Defizit- und Gefährdungssituation zu beenden oder abzuwenden – ohne Not keine Fremdplazierung. Wenn auch Trennung und Scheidung für die davon betroffenen Kinder erhebliche – auch langfristige – Belastungen bedeuten können, ist die Situation dieser Kinder i.d.R. nicht mit der von Pflegekindern vergleichbar; anders allerdings, wenn sie häuslicher Gewalt oder vergleichbaren Situationen ausgesetzt waren. Die in- und ausländische Pflegekinderforschung nennt in großer Einmütigkeit eine Reihe von Inpflegegabegründen, von denen in der Regel mehrere gleichzeitig vorliegen: Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, schwere psychische Störungen und Erkrankungen der Eltern, schwerwiegende Erziehungsunfähigkeit/-schwierigkeiten, emotionale Ablehnung des Kindes, gravierende Ehe-/Partnerprobleme, schwer belastende Eltern-Kind-Konflikte, Abwesenheit/Verschwinden/Tod von Elternteilen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Kriminalität.

Solchen gravierenden Problemlagen kann die Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem ohnehin finanzpolitisch bedrohten Interventionsrepertoire kaum begegnen. Gefordert wären weit über ihren Handlungshorizont hinausreichende sozialpolitische, sozialpädagogische und therapeutische Maßnahmen, die freilich nicht immer erfolgreich sind, aber auch im Hinblick auf die Entwicklungsprozesse der Kinder meist zu spät kommen. § 37 Abs. 1 S. 2 KJHG fordert inzwischen immerhin, dass „durch Beratung und Unterstützung ( ) die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums (…) verbessert werden (…)“ und knüpft damit am Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts an, wonach sich nämlich das Verhalten der Eltern „in dem für die Entwicklung des Kindes entscheidenden Zeitraum“ (BVerfGE 24, 119, 146) ändern muss, damit die Kinder (wieder) bei ihnen leben können. Einer oder zumeist aber mehrere der genannten Inpflegegabegründe liegen vor, das Jugendamt aber glaubt in einem Teil der Fälle aufgrund der „Verhandlungen“ mit den Eltern das Gericht nicht einschalten zu müssen. D.h., dass nach Ansicht des Jugendamtes die Schwelle des § 50 Abs. 3 KJHG noch nicht erreicht schien. Nachgewiesen und in zahlreichen Untersuchungen belegt ist auch, dass die Jugendhilfe in Deutschland – entgegen Behauptungen in der Boulevardpresse und anderen Medien – nicht leichtfertig Kinder von ihren Eltern trennt; im Gegenteil ist sie in den letzten Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert, zu lange zuzuwarten und auch in aussichtslosen Fällen unzureichende ambulante Hilfeformen einzusetzen und das ganze Hilfsrepertoire erst einmal auszuprobieren, um nicht fremdplazieren zu müssen. Nur etwa 40 Prozent der Pflegekinder kehrten wieder in ihre familiären Verhältnisse zurück (zu Eltern, zu einem Elternteil mit Stiefelternteil/Partner, zu einem alleinerziehenden Elternteil, zu Großeltern/Verwandten).

Hinsichtlich der Rückkehrwahrscheinlichkeit in die Herkunftsfamilie vollzieht sich kein Wandel der Vollzeitpflege – hatte doch der Achte Jugendbericht bereits darauf hingewiesen, daß 60 Prozent der Pflegekinder in den Pflegefamilien bleiben und in ihnen groß werden. Angesichts dieser Tatsachen machen Beteuerungen zum prinzipiellen Vorrang der Rückkehroption wenig Sinn, weil ausschließlich das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen ausschlaggebend ist. Für sie gilt es, stabile und ihrem Wohl förderliche und „auf Dauer angelegte“ Lebensformen zu sichern (vgl. § 37 Abs. S. 4 KJHG). Im übrigen: Immer wieder wird bezüglich des Vorrangs der Rückkehroption wie des grundsätzlich bestehenden Umgangsrechts auf das Bundesverfassungsgericht verwiesen. In der ersten, für Pflegekindschaftsfälle wichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) heißt es: „Wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB bei der Wegnahme des Kindes nicht vorlagen, wird verstärkt nach Möglichkeiten gesucht werden müssen, um die behutsame Rückführung des Kindes erreichen zu können. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß § 1632 Abs. 4 BGB Entscheidungen ermöglicht, die aus der Sicht der Eltern nicht akzeptabel sind, weil sie sich in ihren Elternrechten beeinträchtigt fühlen. Die Verknüpfung von Rechten und Pflichten unterscheidet das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG von anderen Grundrechten; hierbei ist die Pflicht nicht lediglich eine das Recht begrenzende Schranke, sondern ein wesensbestimmender Bestandteil des Elternrechts“ (BVerfGE 68, 176,189f.).

Wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB, d.h. Gefährdungslagen, gegeben waren oder wenn andere durch den beabsichtigten Umgang oder die beabsichtigte Herausnahme nunmehr bestehen – es kann sich durchaus um andere Gefährdungsgründe als zum Zeitpunkt der ursprünglichen Intervention handeln –, sind Einschränkungen des Elternrechts auf Umgang und/oder Herausgabe zulässig und geboten, weil Elternrechte nicht nur um ihrer selbst willen bestehen, sie vielmehr immer die gebotene Rücksichtnahme auf das Kind fordern; niemals darf ihre Ausübung in eine Kindeswohlgefährdung ausarten; Elternrechte sind weder Herrschaftsrechte noch gar mit der Rechtsposition von Eigentümern oder Besitzern auch nur vergleichbar. Kinder dürfen niemals als „Schadensersatz“ benutzt werden, auch wenn die Eltern von noch so schweren Schicksalsschlägen und/oder extremer gesellschaftlicher Benachteiligung betroffen waren.

Lebensgeschichtliche Erfahrung und Zukunftsplanung in Pflegekindschaftsverhältnissen

Das oft anhaltende Belastungs- und Konflikterleben in bedrohlich deprivierten Lebenssituationen macht einen besonderen Schutz dieser Kinder notwendig. Psychologen unterschiedlicher Schulen warnen deutlich vor Retraumatisierungen durch Umgang beziehungsweise vor einem gut belegten Prozess der Sensitivierung, d.h. betroffene Kinder neigen in der Konfrontation mit früheren Erfahrungen familiärer Gewalt zu einer zunehmend heftigeren Verstörungs- und Belastungsreaktion, wie sich auch durch physiologische Messungen nachweisen lässt. Ob und wann Kinder mit solchen Erfahrungen ihren Eltern ohne weitere zusätzliche Belastungen begegnen können, ist eine äußerst schwierige Frage, die häufig übersehen oder von Juristen ohne Hinzuziehung von Expertenwissen nach der „Lebenserfahrung“ beantwortet wird. Die positive Entwicklung vieler Pflegekinder bei ihren Pflegeeltern sollte nicht auf ihre hohe Belastbarkeit schließen lassen; ihre positive Entwicklung hängt nicht zuletzt mit dem Ende ihrer bedrohlichen Erfahrungen und den Erfolgen vielfältiger pädagogisch-therapeutischer Hilfen zusammen. Diese Entwicklung wird durch den Umgang immer wieder erheblichen Belastungen ausgesetzt. Auch die Psyche von Kleinkindern scheint traumatische Erfahrungen zu speichern; nicht zuletzt daraus lassen sich Verwirrung, Erstarrung und Angst vieler Kinder in solchen Situationen erklären.

Nachdenklich machen sollte alle beruflich mit Umgangskonflikten in diesem Bereich Tätigen ein Hinweis der Psychoanalytikerin und Rechtswissenschaftlerin Gisela Zenz: „Keinem Traumatherapeuten würde es einfallen, in der Arbeit mit traumatisierten Menschen das Opfer immer wieder mit seinem Peiniger zu konfrontieren, um dadurch die Aufarbeitung dieser Erfahrungen zu ermöglichen. Im Gegenteil – die gesamte Psychotherapieforschung belegt, dass die Aufarbeitung von Gewalt- und Leiderfahrungen nicht möglich ist ohne eine sichere Distanz zu diesen Erlebnissen und ohne den Beistand eines Menschen, der eindeutig und verlässlich auf Seiten des Patienten steht – sei es in einer therapeutischen oder in einer real gelebten Beziehung – wie z.B. in einer Pflegefamilie“.

Forcierter Umgang kann bei schwer beeinträchtigten und traumatisierten Kindern sogar einen zusätzlichen Risikofaktor im Hinblick auf die gelingende Bewältigung ihrer vielfältigen Entwicklungsstörungen bedeuten. Auf die Gefahren von retraumatisierenden Umgangskontakten für die Gehirnentwicklung macht die jüngste Traumaforschung aufmerksam. Auch das Bundesverfassungsgericht hat vor den Folgen einer Traumatisierung des Kindes gewarnt: „Es ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten, bei einer Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie – unter Berücksichtigung der Intensität entstandener Bindungen – einzubeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin auch im Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Nur so tragen die Instanzgerichte neben dem Elternrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 24, 119 <144>) und der Grundrechtsposition der Pflegefamilie aus Art. 6 Abs. 1 und 3 GG Rechnung (vgl. BVerfGE 68, 176 <189>; 79, 51 <60>)“ (BVerfG, FamRZ 2000, 1489).

Es bleibt dabei: Kindeswohlgefährdungen bei und durch Umgang müssen i.d.R. zum Ausschluss des Umgangs führen. Manche Gerichte weichen, wie aus der Praxis berichtet wird, dieser sicherlich nur schwer zu treffenden Entscheidung aus, indem sie „betreuten Umgang“ auch in solchen Fällen anordnen, die früher eindeutig zum Umgangsausschluss geführt hätten; andere Gerichte stellen auch im Umgangskontext das Wohl des Kindes und nicht die Bedürfnisse der erwachsenen Beteiligten des Verfahrens in den Mittelpunkt. Sicherlich ist es äußerst belastend für den Richter, Eltern gegenüber den Umgang auszuschließen. Mit diesen psychischen Belastungen der professionellen Akteure dürften viele der aus Kindeswohlgründen an sich unzulässigen „Kompromisse“ in der familiengerichtlichen Praxis zusammenhängen – nach dem Motto „die Eltern kriegen zwar das Kind nicht, aber ein Umgang muss ihnen (zum Ausgleich) eingeräumt werden“.

Hinzu treten die in der beruflichen Sozialisation von Juristen prägenden Gerechtigkeitsideale; eine dieser Gerechtigkeitsvorstellungen findet sich in der „verteilenden Gerechtigkeit“ (justitia distributiva); die Justitia wird in Allegorien häufig als nicht sehend, mit der Waage und mit dem Schwert dargestellt. Jeder bekommt etwas, wenn auch nicht soviel wie gedacht. Keiner soll sich als Verlierer, jeder am Ende des Verfahrens als Gewinner sehen (sog. Win-Win-Situation). Dies mag bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten tatsächlich dem Rechtsfrieden dienen, Kompromisse erleichtern und den Justizhaushalt schonen. Es geht in zivilrechtlichen Kindesschutzverfahren hingegen, wie schon die Bezeichnung dieser Verfahren besagt, häufig nicht um die Herstellung von „Gerechtigkeit“ im herkömmlichen Sinne; die klassischen zivilrechtlichen Instrumentarien zur Kompensation sind hier verwehrt; es geht meistens um die schwierige Suche nach der „am wenigsten schädlichen Alternative“ (Goldstein/Freud/Solnit), eine Formel, die darauf hinweist, „dass das betreffende Kind bereits ein Opfer seiner sozialen Umweltbedingungen geworden ist, dass es in hohem Maße gefährdet ist, und dass schnelles Handeln geboten erscheint, damit weiterer Schaden von der gesunden psychischen Entwicklung abgewendet werden kann.“

Bedeutung und Reichweite von § 1684 BGB für Umgangsregelungen bei Pflegekindern

Das „Recht des Kindes auf Umgang“ mit jedem Elternteil“ in § 1684 Abs. 1 BGB zielt eindeutig auf die Situation nach Trennung der Kindeseltern. Auch die Wohlverhaltensklausel in § 1684 Abs. 2 BGB zielt auf getrennt lebende Eltern, stößt auch dort, etwa bei häuslicher Gewalt, eindeutig auf Grenzen und kann bei Kindern, die erheblichen Gefährdungen durch ihre Eltern ausgesetzt waren und deshalb fremdplaziert werden mussten, keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Pflegeeltern sollen eine akzeptierende, von gegenseitigem Verständnis und Achtung geprägte Beziehung den leiblichen Eltern gegenüber entwickeln, die es dem Kind ermöglicht, ohne Loyalitätskonflikte positive Beziehungen zu Pflegeeltern und leiblichen Eltern zu entwickeln. Diese bereits von Wissenschaftlern und erfahrenen Praktikern kritisierte Verhaltenserwartung, aber auch eine immer wieder den Pflegeeltern abverlangte neutrale Haltung, kann sich verheerend auf das Kind auswirken: Es ist eine unehrliche So-tun-als-ob-Strategie, eine Doppelmoral, eine Unehrlichkeit. Wollen Pflegeeltern den Kindern gegenüber glaubwürdig bleiben, so stößt die hier geforderte Loyalitätspflicht eindeutig an Grenzen.

Resümee

(1) Die Regelung des Umgangs eines Pflegekindes mit seiner Herkunftsfamilie beurteilt sich nach völlig anderen Mustern als der Umgang im Kontext von Trennung/Scheidung der Kindeseltern. Die Grundannahme positiver Wirkungen von Umgang auf das Kindeswohl und der Beziehungserhalt können bei der Mehrzahl der wegen erheblicher Gefährdungen fremdplazierten Pflegekinder keine Gültigkeit beanspruchen.

(2) Bei Pflegekindern mit kurzer Aufenthaltsdauer oder ohne traumatisierende Erfahrungen als Unterbringungsgrund ist funktionierender Umgang eine der besten und anerkannten Schlüsselindikatoren für die alsbald zu realisierende Rückkehroption mit der Übernahme sämtlicher Elternaufgaben durch die Herkunftsfamilie. Das Wissen um die eigene Herkunft sowie das Kennenlernen von Eltern ist nicht mit regelmäßigem Umgang zu verwechseln. Nach Überwindung entsprechender traumatischer Erfahrungen durch therapeutische Hilfen bei den Kindern und entsprechenden Veränderungen auf Seiten der Eltern kann über Umgang neu nachgedacht werden.

(3) Das frühere Belastungs- und Konflikterleben vieler dieser traumatisierten Pflegekinder birgt die Gefahr von Retraumatisierung bzw. Sensitivierung durch Umgangskontakte und bedroht damit den Erfolg von therapeutischen Prozessen. Die betroffenen Kinder neigen in der Konfrontation mit früheren Erfahrungen angstbesetzter Erlebnisse zu zunehmenden Verstörungen und Angstbelastungen; diese Reaktionen – wie die vorausgegangenen Entwicklungsstörungen – lassen sich inzwischen mit physiologischen Messungen und bildgebenden Verfahren nachweisen. Erkenntnisse der Trauma-, Risiko- und Hirnforschung müssen in diesen Fallkonstellationen unbedingt Eingang in die Entscheidungspraxis finden, mit der richterlichen Lebenserfahrung allein ist es in diesen komplexen Entscheidungssituationen nicht mehr getan.

(4) Die zivilrechtlichen Gerechtigkeitsideale einer „verteilenden Gerechtigkeit“ oder eine „Win-Win-Situation“ können in Verfahren, die mit gutem Grund vom Amtsermittlungsgrundsatz bestimmtet sind, nicht den Entscheidungsmaßstab bilden: Es handelt sich häufig um bereits in hohem Maße gefährdete oder bereits geschädigte Kinder, die sich mitten im Prozess der Überwindung und Verarbeitung überwältigender Lebenserfahrungen befinden. Bei Entscheidungen in diesem Bereich bildet nach Art. 6 Abs. 2 GG das Wohl des Kindes immer den Richtpunkt, so dass bei Interessenkollisionen zwischen dem Kind und seinen Eltern sowie den Pflegeeltern das Kindeswohl letztlich bestimmend sein muss.

(5) Mit der im SGB VIII verankerten Interventionsphilosophie einer geplanten, zeit- und zielgerichteten Intervention bietet sich die Chance für einen rational durchschaubaren und gesteuerten Prozess der Hilfeplanung und Unterbringung unter Berücksichtigung des gesetzlich im SGB VIII besonders hervorgehobenen kindlichen Zeitempfindens. Damit böte sich die Chance für mehr Transparenz und für eine Beendigung der fragwürdigen, die Kinder erheblich belastenden Kompromisse zur Besänftigung der Eltern im Umgangsbereich.

(6) Insgesamt zeigen sich erhebliche Forschungsdefizite. Ebenso bestehen nach wie vor erhebliche Informations- und Wissenslücken bei Teilen der Richterschaft – leider gilt das auch und gerade für die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und den Mitarbeitern der Jugendämter sowie bei Gutachtern hinsichtlich der Bedeutung und Auswirkung von traumatischen Erlebnissen, der Gefahren von Retraumatisierung und Sensitivierung.

(7) In allen gerichtlich ausgetragenen Umgangskonflikten müssen den in Familienpflege lebenden Kindern und Jugendlichen erfahrene, sensible, unabhängige und für diese Aufgabe qualifizierte Verfahrenspfleger an die Seite gestellt werden.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Ludwig Salgo ist Hochschullehrer am Fachbereich Rechtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main und am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Frankfurt/M.

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