fK 3/04 Bertram

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die multilokale Mehrgenerationenfamilie

Eine Lebensform von Familien im 21. Jahrhundert

von Hans Bertram

René König und Ernest W. Burgess entwickelten in den 1940er Jahren Konzepte für die Familie, deren innerer Zusammenhalt im Wesentlichen auf den Beziehungen und den Gefühlen der Familienmitglieder beruhte. Deswegen befürchtete König auch die Desorganisation und Desintegration der Institution Familie. Diesem Konzept von Familie setzte Talcott Parsons das Modell einer arbeitsteiligen Familienorganisation entgegen, dessen Stabilität nicht auf den Gefühlen aufbaut, sondern durch die Funktionserfüllung der Familienmitglieder reguliert wird. Hier wird die These vertreten, dass Parsons anders als König und Burgess ein gültiges Modell der Familie der Industriegesellschaft entwickelt hat. Heute wird das von Parsons entwickelte Modell der neolokalen Gattenfamilie abgelöst durch ein multilokales Modell der Mehrgenerationenfamilie.

1945 formulierten Burgess /Locke die These, dass die Familie in der Vergangenheit durch externe Faktoren zusammengehalten worden sei und nun in der Moderne nicht mehr durch externen Zwang, sondern durch interne personale Beziehungen, Sympathie und Kameradschaft ihrer Mitglieder in ihrem Bestand gesichert werde. Diese Personalisierung von Beziehungen, die Abhängigkeit vom wechselseitigen Verstehen der Partner und Kinder bedeutet einerseits eine Individualisierung der Familie als Intimgruppe, führt aber notwendigerweise zu einer höheren Gefährdung der Stabilität dieser Gruppe. Denn Liebe und Zuneigung setzen immer voraus, dass sich Personen unabhängig von äußeren Zwängen nur um der Person des anderen als Individuum willen einlassen und ihn oder sie um ihrer Individualität willen lieben.

Schon ein Jahr später sieht René König (1946) diese Konstruktion der Familie als Intimgruppe in modernen Gesellschaften in besonderem Maße der Gefahr der Desorganisation ausgesetzt. Ihm scheint die Gefährdung der Familie so groß zu sein, dass er den Begriff der Desorganisation als zentrale Kategorie für die Familiensoziologie vorschlägt. Diese Gefährdung der Familie ergibt sich für König zum einen daraus, dass moderne Wirtschaftsgesellschaften einem beschleunigten sozialen Wandel unterliegen, dem die Familie auf Grund ihrer biologisch-sozialen Doppelnatur nicht immer folgen kann. Aus dieser unterschiedlichen Wandlungsfähigkeit von Ökonomie und Familie ergeben sich erhebliche Anpassungsprobleme für die Familie. Diese werden zum anderen noch dadurch verschärft, dass die zunehmende Ausdifferenzierung der Institutionen in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften dazu beiträgt, dass die Familie sich auf die Kerngruppe von Paar und Kindern konzentriert, was wiederum die Gefahr der Desorganisation verstärkt. Denn je kleiner eine Gruppe ist und je mehr diese Gruppe durch personale Beziehungen geprägt ist, umso größer ist das Risiko auseinander zu brechen, wenn eins der Gruppenmitglieder durch Tod oder Scheidung die Gruppe verlässt.

Erstaunlicherweise spielt in der heutigen Diskussion Talcott Parsons, der 1955 Königs These von einer zunehmenden Desorganisation der Familie zurückwies, eine vergleichsweise geringe Rolle, obwohl er gemeinsam mit Robert F. Bales vermutlich das wichtigste und einflussreichste Buch zur Familie der Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert geschrieben hat. In ihrer Arbeit „Family, Socialisation and Interaction Process“ gehen sie zwar auch davon aus, dass moderne Gesellschaften hoch spezialisiert und ausdifferenziert sind, und sie vermuten auch, dass sich die amerikanische Familie parallel zu diesem Prozess der Ausdifferenzierung tief greifend verändert hat. Nach ihren Überlegungen führen jedoch diese Veränderungen nicht zu einer Desorganisation der Familie, sondern zu einer Spezialisierung ihrer Funktionen. Diese Funktionen liegen für Parsons/Bales in der Sozialisation der kindlichen Persönlichkeit und in der Stabilisierung der Persönlichkeit der Erwachsenen. In dieser Perspektive hängt auch die Stabilität der Familie anders als bei König oder Burgess nicht von den personalen Beziehungen der Familienmitglieder zueinander ab, sondern ergibt sich aus der Funktionserfüllung gegenüber den Familienmitgliedern.

Wenn die Annahme richtig ist, dass die Stabilität gesellschaftlicher Teilsysteme von der Kompatibilität, d.h. der Vereinbarkeit ihrer Binnenstruktur mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung abhängig ist, dann lassen sich die Strukturen zukünftiger familiärer Lebensformen zumindest im Ansatz skizzieren. Hier vertrete ich die These, dass die fordistisch organisierte neolokale Gattenfamilie, die im Wesentlichen nur den Generationenzusammenhang zwischen Eltern und Kindern bei einer gleichzeitig klaren, nach innen differenzierten Macht und Aufgabenteilung kannte, zunehmend abgelöst wird durch eine multilokale Mehrgenerationenfamilie, in der Macht und Aufgaben ausgehandelt werden müssen. Neben die Sozialisation der kindlichen Persönlichkeit und die Stabilisierung der Persönlichkeit der Erwachsenen tritt zudem eine weitere Funktion der Familie, nämlich die Solidarität mit der älteren Generation und die Bereitschaft, für diese auch Fürsorge zu übernehmen.

Die neue Pluralität familiärer Lebensformen

Das von Parsons/Bales entwickelte Modell der neolokalen Kernfamilie mit seiner dualen Führungsstruktur und den klaren Machtverhältnissen zwischen Eltern und Kindern hat in der Familienforschung eine solche Bedeutung gewonnen, dass dieses Modell damals wie heute als die „Normalfamilie“ oder auch als die „traditionelle Familie“ bezeichnet wurde und wird. Das ist umso erstaunlicher, weil schon in den 1960er Jahren eine Reihe von Studien vorgelegt wurden, die deutlich machten, dass die Vorstellung von Parsons/Bales, Neolokalität bedeute, dass Familien ihre Beziehungen im Wesentlichen auf den Haushalt der Kernfamilie beschränkten, empirisch kaum haltbar ist.

Spätestens Anfang der 1970er Jahre verschwand das Modell der nicht erwerbstätigen Hausfrau und Mutter in den USA (vgl. Abbildung).

(Abbildung: Kinder mit einem voll erwerbstätigen Vater und einer nicht erwerbstätigen Mutter, 1940-1990 in den USA (in Prozent der Kinder unter 18 Jahren))

Das hatte zur Konsequenz, dass nun doch jenes Konkurrenzverhältnis zwischen Vätern und Müttern am Arbeitsmarkt entstand, das für Parsons ein wesentliches Element der Destabilisierung dieses Modells der fordistisch organisierten Familie darstellte. Statt das Modell von Parsons ernst zu nehmen, den Niedergang dieses Modells nachzuzeichnen und sich zu fragen, ob mit dem Untergang der fordistisch organisierten Industriegesellschaft auch die fordistische Familie durch eine neue Form familiären Zusammenlebens ersetzt wird, hat es einen langen und völlig müßigen Streit um diesen Niedergang gegeben, der sich bis zum Ende des 20 Jahrhunderts fortgesetzt hat.

Die multilokale Mehrgenerationenfamilie

Auch wenn es schwierig ist, die sich in Übergangszeiten neu entwickelnden Formen familiären Zusammenlebens zu identifizieren, gibt es doch einige klar erkennbare Tendenzen, und zwar sowohl in den USA wie in Deutschland, die es erlauben, Aussagen über bestimmte neue Formen familiären Zusammenlebens und familiärer Beziehungen zu machen. Die seit Anfang der 1970er Jahre laufende demografische Veränderung der Alterspyramide in den fortgeschrittenen postindustriellen Gesellschaften führt notwendigerweise zu einer Vertikalisierung familiärer Beziehungen.

Dafür sind zwei Prozesse verantwortlich. Auf der einen Seite führt die steigende Lebenserwartung dazu, dass heute Eltern und Kinder eine gemeinsame Lebenszeit von 55 bis 60 Jahren haben. Selbst bei einem durchschnittlichen Heiratsalter von 28 bis 30 Jahren können Großeltern heute davon ausgehen, noch die Hochzeit ihrer Enkel zu erleben. Durch diese Langlebigkeit überlappen sich die Biografien mehrerer Generationen für einen sehr langen Lebensabschnitt.

Neben dieser Langlebigkeit gibt es einen zweiten Trend, der diese Effekte verstärkt. Wenn in den USA heute (US Bureau of Census 2001) durchschnittlich zwei Kinder pro Frau geboren werden gegenüber etwa vier Kindern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, heißt das zudem, dass heute durchschnittlich auf zwei Kinder vier lebende Großeltern kommen. Das bedeutet aber, dass selbst bei steigenden Scheidungszahlen und dem Auseinanderbrechen des Familienkerns weiterhin im Rahmen des Verwandtschaftssystems Erwachsene zur Verfügung stehen, die Verantwortung und Unterstützung für die Kinder einer solchen Familie mit übernehmen können. So mag es zwar richtig sein, dass heute mehr Kinder von der Scheidung ihrer Eltern betroffen sind als zu Zeiten der fordistischen Familie, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass dies grundsätzlich zu einer Gefährdung der kindlichen Entwicklung führt, weil durch die höhere Lebenserwartung und geringere Geburtenraten ein Mehrgenerationenkontext entstanden ist, der sehr wohl Fürsorge und Sozialisation für die nachwachsende Generation leisten kann.

Gegen diese Argumentation könnte man einwenden, dass dies als Möglichkeit zwar besteht, aber von der Großelterngeneration gar nicht gewünscht oder nicht geleistet werden kann, und zwar nicht gewünscht, weil diese Großeltern beruflich noch so eingespannt sind, dass sie keine Zeit dafür haben, oder nicht leistbar, weil sie beispielsweise in einer mobilen Gesellschaft zu weit von den Kindern entfernt wohnen. Die empirischen Daten sprechen dagegen, denn aus der Wahrnehmung der Großeltern sind Kinder und Enkel die am häufigsten genannten Bezugspersonen; zudem richten sich Fragen von Solidarleistungen sowohl aus der Sicht der älteren wie aber auch jüngeren Familienmitglieder immer fast ausschließlich auf die eigene Familie. Auch zeigen Netzwerkuntersuchungen in urbanen Räumen, dass die Wohnentfernung für die Mehrzahl der Befragten zwischen den Generationen relativ gering ist.

Die zunehmende Bedeutung der Generationenbeziehungen, die sich im Laufe eines Lebens von den Eltern und Großeltern zu den Kindern und Enkeln ändern, verändert aber auch die Bedeutung des gemeinsamen Haushalts. Das gemeinsame Wohnen in einem Haushalt ist seit Mitte der 1930er Jahre zunehmend als Synonym für Intimität und Enge der Beziehungen gehandelt worden. Heute kann man demgegenüber davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen der neu gegründeten Familie und den Herkunftsfamilien auch dann fortbestehen, wenn alle in unterschiedlichen Haushalten leben. Das bedeutet, dass der Haushalt kein geeigneter Indikator für die Intimität von Familienbeziehungen ist. Das gilt im übrigen auch für Paarbeziehungen. Intime Beziehungen von Paaren und Familien sind heute sowohl neolokal wie auch multilokal, und das gilt nicht nur für die jüngeren Paare und Familien. Vielmehr ergänzt die Multilokalität das Konzept der Mehr-Generationenbeziehungen. Damit wird die multilokale Mehrgenerationenfamilie mit einer klaren vertikalen Beziehungsstruktur, die nicht über die Haushaltszugehörigkeit erfasst werden kann, zu einer der dominanten Lebensformen von Familien im 21. Jahrhundert.

Generationenbeziehungen, Solidarität und Liebe

Auch wenn es vielleicht noch zu früh ist, theoretisch und empirisch eine Begründung für die im Lebensverlauf sich wandelnden, aber doch auf Dauer angelegten Generationenbeziehungen im Familienverband formulieren zu können, scheint es mir sinnvoll zu sein davon auszugehen, dass Sympathie, Zuneigung und Liebe sicherlich wichtige und möglicherweise sogar notwendige Voraussetzungen für lebenslange Bindungen im Generationenverbund darstellen. Wir haben bisher wenig Kenntnisse darüber, insbesondere aufgrund fehlender Längsschnittstudien, wie sich solche Bindungen entwickeln und wie sie auf Dauer gestellt werden.

Man sollte aber sehr vorsichtig sein mit der Annahme, die multilokale Mehrgenerationenfamilie hinge in ihrer Stabilität von den positiven Gefühlen der Beteiligten ab. Möglicherweise sind es eher moralische Obligationen, die in unserer Gesellschaft existieren, ohne dass wir sie thematisieren. Denkbar ist allerdings auch, dass Generationenbeziehungen jenem Muster folgen, das Max Weber (1956) als typisch für den Familienkommunismus bezeichnete: Leistung und Gegenleistung werden in einer solchen Beziehung erbracht, ohne dass die Wertigkeit eine Rolle spielt, weil in solchen Beziehungen allein die Mitgliedschaft zählt, die die anderen Mitglieder dazu bringt, mit dem einen Mitglied solidarisch zu handeln. Dies würde bedeuten, dass letztlich das Sozialkapital, das die Familienmitglieder insgesamt teilen, die Basis ihrer Generationenbeziehungen darstellt. Mir scheint, dass eine solche Begründung die Stabilität von Generationenbeziehungen auch unabhängig von den personalen Gefühlen der einzelnen Mitglieder füreinander gewährleisten könnte.

Der Beitrag ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines im Berliner Journal für Soziologie (Heft 4 2002) erschienenen Artikels.

Prof. Dr. Hans Bertram ist Hochschullehrer für Mikrosoziologie an der Humboldt Universität in Berlin

Erläuterungen:

Neolokale Gattenfamilie: Familienmodell, bei dem die Kinder, wenn sie ökonomisch selbständig sind, aus dem Elternhaus ausziehen, um zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen.

Multilokale Mehrgenerationenfamilie: Familienmodell, bei dem die an unterschiedlichen Orten lebenden Familienangehörigen über die Generationen hinweg enge Beziehungen unterhalten.

Fordismus/fordistisch: industriepolitische Konzeption arbeitsteiliger Massenproduktion

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