fK 3/01 Haug-Schnabel

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Ansatzstellen für Prävention in der kindlichen Entwicklung – Schutzerziehung gegen Angst, Gewalt und Sucht

von Gabriele Haug-Schnabel

Was versteht man unter Schutzerziehung?

Erziehung kann schützen und stark machen. Dieser Satz bleibt auch angesichts der kontroversen Diskussion, wer den meisten Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes hat, seine Eltern oder andere Sozialisationsbegleiter, bestehen. Wie Kinder ihre Eltern erleben, bestimmt ihr Bild von sich, von Verlässlichkeit und Akzeptanz, von Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit auch bei unterschiedlichem Temperament. Neue Untersuchungen attestieren jedem Kind die prinzipielle Möglichkeit für Urheberschaft und Wirksamkeit beim eigenen Entwicklungsprozess. Die geteilte Umwelt, Merkmale wie Familiengröße, Schichtzugehörigkeit, Lebensstandard und Erziehungsstil wirken auf alle Kinder einer Familie in vergleichbarer Art. Das sind Faktoren, die z.B. für die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten eine große Rolle spielen können. Individuelle Vorlieben und Spezialbegabungen kommen zum Tragen, wenn es um die sogenannte nichtgeteilte Umwelt geht, um entwicklungsbeeinflussende Lebensbereiche, die von jedem Kind der selben Familie unterschiedlich favorisiert, gesucht und mitgestaltet werden. Geschwister unterscheiden sich in einer Vielzahl von Erfahrungen, die sie machen. In der Familie nischt man sich ein und produziert seine eigene Entwicklung parallel, aber durchaus abweichend von der seiner Geschwistern, mit denen man im selben Elternhaus jahrelang zusammenlebt. Aber auch hier sind es die Eltern, die ein Modell für Weltanschauung bieten; mal ist es ein Modell, aus dem eine ängstlich getönte Grundhaltung hervorgehen wird, mal eines, das eine grundsätzlich positive, eine „machbare“ Welt mit vielen lohnenden Erfahrungen signalisiert. Das Zutrauen in sich selbst, das Wissen, was man will und die Suche nach Realisation, also der eigene Lebensweg wird hiervon stark beeinflusst.

Eltern können der einflussreichste Schutzfaktor für ihre Kinder sein.

  • Eltern sind als Bindungspartner gefragt. Das emotionale Band zwischen sich und seinen Eltern ist die erste Beziehung, auf die ein Kind sich einlässt. Sie setzt einen Qualitätsstandard, mit ihr werden alle späteren Beziehungen verglichen.
  • Eltern werden als Sicherheitsbasis erlebt. Nach einem erfolgreich verlaufenen Bindungsprozess ist ein Kind gewappnet, es hat den Ansporn und die nötigen Strategien, andere Menschen und seine Umgebung kennen zu lernen.
  • Eltern sind die ersten Ansprechpartner. Das Erlebnis „richtig“ reagierender Bezugspersonen lässt das Kind die Erfahrung machen, dass und wie es der Umwelt aktiv begegnen und diese bedürfnisgerecht umgestalten kann.
  • Eltern schaffen als Gefühlsbeantworter die Bewertungsbasis für emotionale Erlebnisse. Es ist ein großer Unterschied für den Start ins Leben, ob auf alle Gefühlsäußerungen eines Kindes eine Antwort kommt, oder ob es die Erfahrung macht, dass es auch weniger akzeptierte Gefühle gibt, die verwirrend unbeantwortet bleiben oder gar spürbar abgelehnt werden.
  • Eltern eignen sich als Informationsquelle. Jedes Kind erwartet Antworten auf seine Fragen, außerdem die Bestätigung, dass Mutter oder Vater über ihr Gesicht ausdrücken, was für sein eigenes Handeln relevant ist.
  • Eltern schaffen Lebensraum und Brücken in die Welt. Selbst Erfahrungen sammeln, selbst Entdeckungen machen, kann das Kind, dem Freiräume zum Explorieren, Denken und Gestalten geschaffen werden.
  • Eltern sind viel beobachtete und imitierte Modelle für Kontaktverhalten. Eltern zeigen, auf welchem Weg man sich erfolgreich einbringt, um Kontakt bemüht oder sich eindeutig zu Nahes und Beengendes vom Leibe hält.
  • Eltern führen ins Konfliktmanagement ein. Konflikte lassen sich auf Dauer nicht vermeiden, deshalb müssen sie bewältigt werden, ohne die Betroffenen als Person in Frage zu stellen. Es braucht tragfähige Modelle für Durchstehvermögen und Überzeugungskraft, für Frustrationstoleranz und Nachgiebigkeit sowie für Kompromisse.
  • Eltern sind zuständig für die Vermittlung von Akzeptanz. Sicher gebunden, interaktionsfähig und sozialkompetent wird man am leichtesten, wenn man geliebt, wahrgenommen, verstanden und beantwortet wird.

Eltern bieten wichtige Voraussetzungen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und seinen Weg zu gehen, geschützt vor übermäßiger Angst, unkontrollierter Gewalt und ohnmächtig machenden Abhängigkeiten. In der Schutzerziehung stimmen Eltern und andere am Kind interessierte Bezugspersonen ihr Betreuungs- und Erziehungsengagement auf das Kind und seine Entwicklungsvoraussetzungen ab und arrangieren ihm seine Lern- und Erfahrungsfelder so, dass sie einladende Entwicklungsanreize bieten, von sich aus aktiv zu werden. Innere Zugewandtheit und Wissen über das individuelle Kind und seinen altersgemäßen Entwicklungsstand sind hierfür wesentlich. Stimmen diese Voraussetzungen, ist Schutzerziehung mit Primärprävention identisch.

Schutzerziehung, nicht weil man das schwache, defizitäre und deshalb immer schutz- und förderungsbedürftige Kind vor Augen hat, die tickende Zeitbombe Risiko, sondern weil man dem kompetenten Kind mit eigenen Impulsen, kindgemäßen Fähigkeiten und selbstgeregelten Lösungswegen ein Umfeld geben möchte, in dem es die Chance hat, diese Potenzen zu realisieren, und es ein Anrecht darauf hat, auf seinem Weg möglichst optimal unterstützt zu werden.

Das Angebot des Originals, bevor die Suche nach Ersatz beginnt, heißt eine Zauberformel der Suchtprävention. Jeder Mensch muss von Anfang an seine Originalquellen für Wohlbefinden, gewaltfreie Wirksamkeit und Angstbeseitigung spüren und erleben. Mit diesen Erfahrungen ausgestattet, wird er kritischer und resistenter auf Verlockungen eines Ersatzwohlbefindens reagieren, denn er kennt seine echten Bedürfnisse und verfügt über erfolgreiche Wege ihrer Befriedigung, für die er sich auch stark machen wird.

Wie lernt ein Kind seine Umgebung und sich selbst kennen?

Die wirklich wichtige Baby-Erstausstattung sind engagierte und liebevoll zugewandte Eltern, die Mitgift seitens des Babys sind seine Säuglingskompetenzen. Die verblüffenden Kompetenzen bereits beim Lebensstart dienen allesamt dazu, kindliche Interaktionsbereitschaft zu signalisieren und Erwachsene für ihr Kind zu interessieren, sie emotional anzusprechen, sich ihm zuzuwenden. Die Babyforschung hat im Säugling einen beeindruckenden Interaktionspartner entdeckt, mit differenzierten Einzelfähigkeiten und überzeugenden Leistungen, mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch ausgestattet sowie mit einer fast grenzenlosen Lernkapazität versehen, vorausgesetzt, die Umwelt bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll zugewandt und angemessen für dieses Kind in seinem momentanen Wachheits- und Aufmerksamkeitszustand.

Mikroanalysen zeigen, dass ein Drittel aller Interaktionen zwischen Mutter und Kind bereits sofort optimal koordiniert ablaufen. Der Sender erreicht mit seiner Botschaft den Empfänger. Die Sensation geht noch weiter: 70% aller nicht sofort passenden Interaktionen werden innerhalb von zwei Sekunden repariert, passend gemacht. Dass ein Drittel aller „Gespräche“ zwischen Mutter und Kind sofort harmonisch koordiniert ist, ist beeindruckend, doch langfristig mindestens genauso bedeutungsvoll für die Erfahrung des Kindes sind die vielen schnurstracks nachgebesserten Interaktionen. Die elterlichen Bemühungen zeigen ihm, wie wichtig es seiner Mutter, seinem Vater, ist, es richtig zu verstehen. Diese Reaktionen melden ihm aber auch zurück, dass es durchaus über Fähigkeiten verfügt, sich klar auszudrücken, und auch aktiv daran beteiligt ist, seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Es ist mit Sicherheit ein gutes Gefühl, Spannungs- und Interaktionsregulation als Ergebnis eigener Bemühungen zu erleben.

Eltern sind an Entwicklung interessiert, vor allem an Entwicklungsfortschritten. Solange die Entwicklung von außen betrachtet kontinuierlich verläuft, sind sie beruhigt und lassen dies das Kind auch spüren. Typisch für frühe Entwicklungsverläufe sind aber auch unerwartete Entwicklungsrückschritte, regressive Phasen: das Kind wird wieder abhängiger von der Mutter. Es weint viel mehr, will vermehrt Körperkontakt, kann sich nicht trennen, akzeptiert keinen Babysitter, schläft nicht mehr allein, isst schlechter. Das sind Charakteristika einer normalen Entwicklung. Longitudinalstudien zeigen, dass zumindest in den ersten drei Lebensjahren keine gleichmäßige Vorwärtsentwicklung zu beobachten ist. Ursache sind altersgemäße Veränderungen im Gehirn, das immer mehr ausreift. Zu bestimmten Zeiten, meist im Abstand von einigen Wochen, finden fundamentale Umorganisationen im Zentralnervensystem statt. Sie haben zur Folge, dass das Kind jetzt schlagartig neue Lernformen, neue Wahrnehmungspraktiken und neue Fähigkeiten zur Verfügung hat: es versteht mehr, nimmt mehr wahr und kann einiges besser als noch einige Tage zuvor. Damit kommt das Kind anfangs nicht zurecht, die neuartigen Fähigkeiten wirken verunsichernd und befremdlich. Um den Fortschritt zu verkraften, braucht das Kind Hilfe, es rückversichert sich, klein und hilflos wirkend, bei den Eltern, dass zumindest in der Beziehung zu ihnen alles beim Alten geblieben ist. Diese sind zwar zur Stelle, doch es kommt zum heilsamen Konflikt: der mütterliche Widerstand, die Regression nicht längerfristig, sondern nur zum kurzfristigen Verschnaufen zu akzeptieren, dabei aber schützende Nähe und vor allem Vertrauen in die erweiterten Fähigkeiten des Kindes zu signalisieren, lässt das Wunder geschehen. Die schwache Phase ist überwunden, sie auszulassen, käme einem Erfahrungsentzug gleich. Das Kind hat nämlich gelernt, in schwachen Momenten Hilfe zu holen, um selbständig wieder durchstarten zu können.

Seine Bedürfnisse geregelt bekommen

Es geht darum, kindliche Bedürfnisse wahrzunehmen, diese zu spiegeln und zu beantworten. Das ist der Weg, auf dem es dem Kind immer mehr gelingen wird, eigeninitiativ sich selbst zu regulieren. Doch der wird nicht immer bewusst eingeschlagen, wie eine Beobachtung exemplarisch zeigt: Noah ist beim Stadtbummel hingefallen und hat sich die Handflächen aufgeschlagen. Er weint. Die Mutter läuft herbei, hebt ihn vom Boden auf und wischt über die Hände. „Das ist doch nicht so schlimm, wärst halt nicht so gerannt. Jetzt stell‘ dich nicht so an. Wenn du ruhig bist, gibt es auch ein Eis!“

Eine alltägliche Szene, bei der die Mutter die kindliche Erregung zu dämpfen versucht, den Vorfall für Verhaltensmaßregeln nutzt und für Wohlverhalten eine Belohnung in Aussicht stellt. Nach einem Sturz weint ein Kind und braucht Trost, unabhängig ob Schmerz, Schreck oder die Enttäuschung, kaum gerannt und schon wieder hingefallen zu sein, die Ursache für die Tränen war. Wichtig ist, wie Noah die Situation einschätzt, wie ihm zumute ist. Allein seine Empfindungen sind relevant dafür, wie er jetzt und all die nächsten Male mit vergleichbaren Situationen umgehen kann. Wenn Erwachsene kindlichen Erlebnissen ihren Empfindungsstempel aufdrücken, trauen Kinder schnell ihren eigenen, meist durchaus abweichenden Empfindungen nicht mehr. „Ich muss mich irren, nur andere wissen, was für mich gut ist.“ Was motiviert dann, selbst nach einer Lösung zu suchen? Das sich ohnmächtig fühlende, fremdbestimmte Kind hat Suchtgefahren wenig entgegenzusetzen.

Die Forschung über prädisponierende Faktoren einer Suchtentstehung sensibilisiert dafür, sich das in Aussicht gestellte Eis genauer anzusehen. Wie wird z.B. auf Gefühlsäußerung Schreien bei Säuglingen reagiert? Was muss in einem Säugling vorgehen, der bei jedem Schrei die Brust oder die Flasche in den Mund gesteckt bekommt, mit der Aufforderung „trink“, um wieder still zu werden, auch wenn er mit seinem Schrei etwas ganz anderes melden und verändern wollte als Hunger und Magenfüllmenge, z.B. Einsamkeit, Zuwendungsdefizit, Lust sich zu unterhalten oder gar Angst? Mit Aufmerksamkeit und differenzierter Zuwendung, je nach Schreigrund, oder immer mit Nahrungsangebot? Durch diese Pauschalantwort kann gelernt werden, generell alle negativ besetzten Gefühlszustände mit Nahrungsaufnahme zu beantworten, weil andere Strategien, mit ihnen umzugehen, nicht zur Verfügung stehen. Ein Lernprozess, der in eine Sackgasse führt und abhängig machen kann.

Wird das Befinden eines Kindes an Hand seiner Signale richtig eingeschätzt und auf verschiedene Schreianlässe höchst unterschiedlich mit Blicken, Worten und Taten reagiert, erfährt und verinnerlicht das Kind, dass mit variierenden Befindlichkeiten unterschiedlich umgegangen wird, um sie befriedigend regulieren zu können. An derartigen Prozessen setzt zeitgemäße Suchtprävention an.

Zum Entscheiden erziehen, zum Handeln befähigen

Bei Erziehungspartnerschaften zwischen Kindern und Eltern geht es um gegenseitige Akzeptanz. Das bedeutet nicht Überforderung auf der einen und Verantwortungsabgabe auf der anderen Seite, sondern dass trotz unterschiedlicher Lebenserfahrung, die Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen beider Partner berücksichtigt werden.

Auch hier ein Beispiel: die Startsituation eines Kleinkindes auf Spielplätzen lässt Prognosen über den weiteren Spielverlauf zu. Zweijährige, die nach der Ankunft am Spielplatz noch ein Weilchen bei ihren Eltern sitzen, sich umschauen oder direkt neben der Bank ein kleines Spiel beginnen und dann von sich aus in den Sandkasten krabbeln, spielen dort bedeutend länger für sich allein oder auch mit anderen Kindern zusammen, als die Kinder, die nach der Ankunft recht schnell in den Sand zum Spielen gesetzt wurden. Oft kommen letztere sofort wieder angekrabbelt oder spielen nur ganz kurz, bevor sie wieder den Kontakt zu Mutter oder Vater suchen und fordern.

Was macht den Unterschied aus? Im ersten Fall fasst das Kind selbst den Entschluss und bestimmt den Zeitpunkt, von den Eltern weg in den Sandkasten zu gehen. Im zweiten Fall geben die Eltern den Startschuss zur Trennung und für ein neues Spiel, zu einem Zeitpunkt, der ihnen der richtige zu sein scheint. Vielleicht würde das Kind nach einigen weiteren Minuten in Elternnähe besser vorbereitet aufs Alleinspiel oder einen Kontakt mit anderen Kindern starten können. Eine selbstinitiierte Trennung verläuft zum optimalen Zeitpunkt, nämlich genau dann, wenn das Kind sich orientiert hat, der Elternkontakt nicht mehr vorrangig, seine Spielbereitschaft dagegen hoch ist. War es seine Entscheidung, spielen zu gehen, kann es aktiv werden. Eine geringfügige Änderung des elterlichen Verhaltens hat eine große Wirkung auf die kindliche Handlungsfähigkeit. Sicher auch auf die Emotionen, die diese Aktivität begleiten. Hier fängt es an, sich ohne Kummer kurzzeitig trennen und – wissend um die gute Beziehungsbasis – durchaus mal allein sein zu können, sich dabei wohl zu fühlen und aktiv zu sein. Ein frühes Übungsfeld für tragfähige Beziehungen ohne Abhängigkeit.

Ich bin ein Teil meiner Umgebung, ich gestalte sie mit

Auf welchem Weg erfährt ein Kind, was es darf und was es nicht darf? Wie lernt es zu unterscheiden, was immer möglich ist, was mitunter und was mit Sicherheit nie? Was muss ein Kind in Bewegung setzen, damit es mit seiner Umgebung die einschlägigen Erfahrungen sammeln kann, welche die Reaktionen der anderen vorhersehbar und dadurch auch die Auswirkungen für sich selbst berechenbar werden lassen? Wie kann es soziale Passung erreichen? Das Kind muss aktiv werden. Ohne penetrantes Nachfragen, erneutes Provozieren, ständige Wiederholung und Variation von Probeläufen bis hin zu massiven Grenzverletzungen bliebe einem Kind ein wertvoller Erfahrungsschatz unerreichbar und nicht nutzbar. Jedes Mädchen, jeder Junge muss gegen Widerstände aggressiv angehen, um zu erfahren, wann sein Wille durchsetzbar ist, und wann sich unüberwindbare Grenzen auftun. Ein Kind muss die Auseinandersetzung suchen, gegen soziale Regeln aktiv verstoßen und Reaktionen provozieren, um seinen alterstypischen Handlungsspielraum auszuloten. Das ist der einzig erfolgreiche Weg, um bei der sozialen Orientierung Hilfe zu erhalten. Bleibt man dem fragenden Kind die Antwort schuldig, weil man ihm Frustrationen oder sich selbst die Auseinandersetzung ersparen und einem Konflikt ausweichen möchte, kehrt keine Ruhe ein, im Gegenteil, es wird zu verschärften Provokationen kommen. Das Kind wird unausstehlich, denn es braucht die Antwort, entweder ein freiraumschaffendes Ja oder ein eindeutig bremsendes Nein, mit dem von jetzt ab immer an dieser Stelle zu rechnen ist. Nur das Setzen konsequenter, aber auch einsichtiger Grenzen schafft ohne Demütigung die so wichtigen klärenden Verhältnisse.

Diese aggressive soziale Exploration ist ein wichtiger Teil des sozialen Lernens. Das Kind nimmt am Sozialleben teil, indem es die geltenden Normen abfragt, um heimisch zu werden. Wenn ein Kind sich also zeitweilig aufdringlich und aufmüpfig verhält, erhöht es die Chancen auf eine schnelle und zweifelsfreie Antwort. Die braucht es, um die Verhältnisse klar zu sehen und wieder zur Ruhe zu kommen. Nicht nur seine Umgebung, auch seine Beziehungen gestaltet ein Kind nach Möglichkeit aktiv, um wohltuende Grenzen und damit auch Sicherheit zu erfahren.

Es ist die Sicherheit, dass

  • es Regeln gibt, die immer gelten
  • Reaktionen anderer vorhersehbar werden, das eigene Verhalten danach ausgerichtet werden kann
  • nicht automatisch Angst in unklaren Situationen auftritt, da einige Interaktionselemente immer bekannt sind und der erfolgversprechende Umgang damit vertraut ist
  • eine innere Groborientierung vorhanden ist und nicht darauf gehofft werden muss, dass immer „von außen“ ordnende Strukturen vorgegeben werden
  • Neues eine positive Verunsicherung bewirkt, die motiviert, der Sache auf den Grund zu gehen. Jedes Kind will die Zusammenhänge verstehen, um wieder aktiv werden und mitgestalten zu können. Denn nur dann entsteht das Gefühl dazuzugehören und Einfluss nehmen zu können.

Man spricht in diesem Zusammenhang vom Konzept der Impulsgebung zur handelnden Selbstentfaltung. Sich bewegen dürfen, ist Lust pur. Eigenbestimmt spielen zu dürfen, ist eine kognitive, emotionale und soziale Zukunftsinvestition. Selbstgemachte Erfahrungen und selbstgesteuerte Entdeckungen bedeuten Förderung, denn errungene Fähigkeiten machen einzigartig und für andere attraktiv

Selbstbildungsprozesse stehen heute in verschiedenen Disziplinen zur Analyse an. Allein durch neue oder bestätigende Erfahrungen beim Erkunden, Spielen und Nachahmen entsteht eine differenziertere Art des Begreifens, die verantwortlich dafür ist, dass ein Kind mit sechs Jahren plötzlich schulreif wird. Es ist die spielerische Phantasie, die Begabungskomponente Kreativität, die Kinder ihre angeborenen Denkkonzepte anhand immer neuer Erfahrungen revidieren und dadurch verbessern lassen. Anfangs sammelt ein Kind scheinbar wahllos Eindrücke, Ideen und Erfahrungen. Es folgt eine Auswahlphase, in der es sich für bestimmte Dinge mehr zu interessieren beginnt, es spezialisiert sich. Das Interesse wechselt seine Priorität, einige Aktivitäten rangieren jetzt auf einem niedrigen Rang der Attraktivitätsskala. Man merkt dem Kind seinen Arbeitseifer an, es beschränkt seine Kräfte auf einen Tätigkeitsbereich. Wie lange ein Kind bei seinem momentanen Topthema verweilt, ist unterschiedlich; typisch ist, dass eine wieder erweiterte Reizsuche, ein wieder vergrößertes Aktivitätsspektrum die bevorstehende Verschiebung des Interessenschwerpunktes anzeigt.

Gefahr droht diesen internen Entwicklungsimpulsen durch unbedachtes Erwachsenenverhalten, z. B. der Versuch, Fehler zu vermeiden: Erwachsene meiden Fehler, weil diese für sie Rückschläge bedeuten. Für Kinder sind Fehler nicht automatisch ein Misslingen, sondern Varianten, die anders als erwartet ausgehen, im Moment nicht direkt brauchbar, aber eine vorstellbare Option, auf die zukünftig zurückgegriffen werden kann. Spielerfahrung bedeutet momentanen Genuss und lässt Urheberschaft und Selbstwirksamkeit erleben. Langfristig erlaubt sie auf Unerwartetes reagieren zu können, mit spontanen Ereignissen zurecht zu kommen und nach Alternativlösungen zu suchen, wenn bekannte Wege nicht zum Ziel führen.

Ein Kind, das auf seine Umgebung Einfluss nehmen kann, fühlt sich nicht ohnmächtig und ausgeliefert. Wenn statt dessen alles nur mit ihm geschieht, ohne dass es auf den Ablauf korrigierend einwirken kann, kommt es zum Kontrollverlust. Schwach werden ist hiervon nur noch wenig entfernt. Ein Kind mit selbst erarbeiteten Fähigkeiten und wohl wissend um seine Kompetenzen hat – wenn es darauf ankommt – mit größerer Wahrscheinlichkeit Ideen, Fantasie und Lösungswege parat hat. Ihm droht nicht, auf Dauer mit unbefriedigenden Hilfskonstruktionen, die letztlich nicht die Lösung darstellen, über die Runden kommen zu müssen. Oder feststellen zu müssen, dass seine Probleme sowieso nur von anderen gelöst werden können. Beides hätte fatale Konsequenzen auf seine Eigenwahrnehmung und sein Verhalten.

Schutzerziehung lässt ein Kind seinen Weg finden, denn sie bringt die E-Kette in Gang. Schutzerziehung beeinflusst die Erwartungen, Erlebnisse, Erfahrungen und Emotionen eines Kindes.

Jedes Kind startet mit individuellen Erwartungen, z.B. an seine Bezugspersonen. Nehmen sie mich wahr, achten sie auf meine Signale, ist es ihnen wichtig, meine Bedürfnisse zu erfüllen? Was erlebe ich? Das Kind vergleicht seine Erwartungen mit seinen Erlebnissen. Habe ich es so erwartet oder mit etwas ganz anderem gerechnet? Je nach Ergebnis dieses Abgleichs fallen seine Erfahrungen aus. Das war eine gute Erfahrung, hierauf kann ich bauen. Das war eine schlechte Erfahrung, die ich nicht mehr machen möchte. Die Erfahrungen haben Einfluss darauf, wie das Kind sich fühlt. Sie prägen seine Emotionen.

Auf Erlebnisse und Erfahrungen haben Eltern und alle einem Kind nahe stehenden Personen Einfluss. Über diese Erlebnisse und Erfahrungen nehmen sie auch Einfluss auf alle weiteren Erwartungen des Kindes und auf seine Emotionen. Denn hiervon hängt es ab, welche Erlebnisse ein Kind zulässt, eigeninitiativ sucht oder bewusst meidet. So geben Eltern auch den Erlebnisrahmen vor. Der entscheidet darüber, ob es zu neuen Erfahrungen kommen kann, vielleicht zu besseren als bisher. Das hätte sofort Auswirkungen auf die kindlichen Emotionen. Wären sie positiver, zuversichtlicher, selbstbewusster, würden sich auch die Erwartungen des Kindes ändern. Das traue ich mir jetzt zu, ich versuche es, ich glaube, ich kann es, außerdem weiß ich, wer mir hilft! Und schon würde es nach anderen Erlebnissen suchen, die es andersartige Erfahrungen machen lassen würden: Ich gestalte meine Umgebung mit, ich suche mir Erlebnisse und Interaktionspartner, ich bringe mich ein, ich nehme Einfluss, bewirke etwas, ich bin stark. Die großen Sackgassen Angst, Gewalt und vor allem Sucht sind weit entfernt.

Dr. Gabriele Haug-Schnabel ist Mitglied der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM) in Kandern bei Freiburg

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