fK 2/09 Kraft

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinderhospize in Deutschland

Unheilbar erkrankte Kinder haben ein Recht auf umfassende Gesundheitsversorgung

von Sabine Kraft

Gemäß den Bestimmungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat jedes Kind ein Recht auf individuelle sowie kulturell und für sein Alter angemessene, palliative Versorgung. Die spezifischen Bedürfnisse Jugendlicher und junger Menschen müssen dabei Berücksichtigung finden und in die Versorgung einfließen (www.icpcn.org.uk).

Petra ist eine junge Frau, eine Kämpferin, aber das Schicksal hat es nicht sehr gut mit ihr gemeint. Mit ihren 35 Jahren hat sie schon viel aushalten und durchhalten müssen. Fritz, der kleinste der drei Kinder, ist gerade sieben geworden. Seine ältere Schwester Sarah ist zwölf und sein Bruder Thomas 13 Jahre alt. Die älteren Kinder sind beide unheilbar krank. Nach vielen Untersuchungen kam die Diagnose – Spinale Muskelatrophie, Typ II – eine genetische Erkrankung, zuerst bei Thomas diagnostiziert, dann auch bei Sarah festgestellt. Heute sitzen beide Kinder im Rollstuhl und haben ihre Fähigkeit zu laufen bereits verloren. Thomas kann sich nicht mehr alleine bewegen.

Zielgruppe der Kinderhospizarbeit
Mehr als 20.000 Kinder und Jugendliche leben in Deutschland mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung. Jedes Jahr sterben etwa 2.500 Kinder und Jugendliche. Die Erkrankungen verlaufen progredient, das heißt, sie verschlechtern sich zunehmend und führen zum frühen Tod in der Kindheit oder im jungen Erwachsenalter. Zu den Krankheitsbildern zählen neurodegenerative und neuromuskuläre Erkrankungen, zum Teil Stoffwechselerkrankungen, Erkrankungen durch chromosomale Anomalien und genetisch bedingte Fehlbildungen. Auch Schädigungen der Organe, schwerste Behinderungen bei der Geburt oder durch Unfälle sowie HIV-Erkrankungen gehören dazu.

Die Situation der Familien
Mit der Diagnose einer lebensbegrenzenden Erkrankung beginnt die Trauer um den Verlust von mitgebrachten oder erworbenen Fähigkeiten des Kindes. Die Eltern/Angehörigen stehen im Widerstreit mit ihren Gefühlen, diese Tatsache anzunehmen. In der permanenten Abschiedlichkeit zu leben, ist für sie eine schwere seelische Belastung. Hinzu kommen die Dauerbereitschaft und der körperliche Einsatz, der durch die intensive und zeitaufwändige Pflege die Eltern erschöpft. Für die ganze Familie ist der Alltag komplett durchorganisiert. Die Eltern müssen zur Pflege und Betreuung des erkrankten Kindes Familie und Beruf in Einklang bringen und den Geschwisterkindern gerecht werden. Für die Pflege der Paarbeziehung bleibt ihnen wenig Zeit.

Petras Ehe hat diese Belastungen nicht ausgehalten, sie ist alleinerziehend.

Soziale Kontakte brechen ab
Durch die Erfordernisse in dieser Lebenssituation ist der Anschluss an soziale Kontakte außerhalb der Familie erschwert und mit viel Organisation verbunden. Manchmal hindert die Eltern ein Gefühl des Angebundenseins, das ihnen nicht die Ruhe gibt „weg zu sein“. Frühere Freundschaften gehen manchmal verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass das soziale Umfeld den Kontakt meidet, da das Thema ‚sterbendes Kind‘ hilflos macht.

Petra meint dazu: „Früher habe ich den Leuten noch erzählt, was meine Kinder haben. Dann ist der Kontakt abgebrochen, heute erzähle ich das nicht mehr“

Die finanzielle Situation der Familie ist häufig angespannt, da zumeist ein Elternteil durch die Pflege des erkrankten Kindes nicht arbeitsfähig ist. Aufgrund der besonderen familiären Situation entstehen Kosten, die über die Leistungen der Kostenträger hinausgehen, wie zum Beispiel der Umzug in eine behindertengerechte Wohnung.

Petra ist stolz darauf, dass sie Teilzeit in der Pflege arbeitet, auch wenn das Einkommen trotzdem durch Sozialleistungen aufgestockt werden muss. Doch die plötzliche Verschlechterung des Krankheitszustands von Sarah macht ihr große Sorgen. Sie kann sie nun nicht mehr alleine lassen und weiß nicht, wie sie dies in den Ferien regeln soll. Thomas lebt bei seinem Vater und wünscht sich sehr, bei der Mutter und den Geschwistern leben zu können. Petra ist erschöpf: „Ich bin wie versteinert und funktioniere nur noch als Maschine“.

Geschwisterkinder
Die Geschwisterkinder wachsen angesichts dieser Situation in einem Spannungsfeld zwischen Behütetsein und Auf-sich-selbst-gestellt-sein auf. Einerseits macht sie das zu selbständigen, zeitweise aber auch zu bedürftigen Kindern. In dem Wissen darum machen sich Eltern oft Sorgen, ob ihre Kinder einerseits „zu gut funktionieren“ und andererseits „nicht funktionieren“. Die Erziehung wird zur Gratwanderung.

Fritz, der Kleine in der Familie hat große Probleme in der Schule. Er findet keine Freunde und die „Lehrerin mag mich auch nicht“. Fritz hat einen ungewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, aber er wird dieses Schuljahr trotzdem nicht versetzt werden.

Manchmal plagen die Kinder ihre heimlichen Wünsche, der Bruder oder die Schwester wäre endlich tot, was zu psychischen Belastungen führt. Geschwisterkinder finden in der Regel keine ‚Peers‘, mit denen sie sich über diese belastende Situation austauschen können. Verhaltensauffälligkeiten, Schulprobleme und Rückzug in sich selbst sind mögliche Reaktionen.

Erschöpfung
Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod ist ein immerwährendes Thema, mit dem sich die Eltern beschäftigen. Sie stehen kritischen Situationen gegenüber, in denen der Abschied ganz nah scheint und aus denen heraus sich das Kind plötzlich wieder erholt. Dies ist ein emotionaler Kraftakt, dem Eltern manchmal über längere Zeit ausgesetzt sind und der sie erschöpft.

Ergänzung der bestehenden Versorgungsstrukturen
Kinderhospizarbeit ergänzt die bestehenden Versorgungsstrukturen (Akutkrankenhaus, ambulante Pflegedienste), ohne dabei zu diesen in Konkurrenz zu treten. Sie schließt eine bestehende Versorgungslücke. Sie gliedert sich in einen ambulanten und einen stationären Arbeitsbereich. Beide Bereiche ergänzen sich und haben zum Ziel, die Familien auf ihrem Weg zu stärken.

Der ambulante Kinderhospizdienst
Kinder oder junge Menschen, deren begrenzte Lebenserwartung ärztlich attestiert wurde, sowie deren Angehörige, benötigen nach der Diagnose „unheilbar krank“ zunächst vor allem pädagogische und psychologische Begleitung.

Ambulante Kinderhospizdienste unterstützen die betroffenen Familien unmittelbar in der Bewältigung ihres Alltags zuhause durch ehrenamtliche qualifizierte Mitarbeitende. Sie verbringen Zeit mit dem kranken Kind, sie beschäftigen sich mit Geschwistern, sie sind Gesprächspartner für die Familie, übernehmen alltagspraktische Tätigkeiten und schaffen zeitlichen Freiraum, den die Eltern für sich nutzen können.

Vor vier Jahren hat Petra einen Unfall gebaut, sie wollte einfach nicht mehr leben. Ich lebe nur noch im Moment und versuche das Beste daraus zu machen. Sarah, die Tochter, spricht seit kurzem darüber, was ist, wenn sie tot ist. Sie ist derzeit oft schlecht gelaunt. Noch vor wenigen Monaten hat sie davon geträumt, Tierpflegerin zu werden.
Die Mitarbeiterin des ambulanten Kinderhospizdienstes besucht die Familie regelmäßig und macht auch Ausflüge mit Fritz, der sich sehr darüber freut, jemanden mal ganz für sich zu haben. Die Fachkraft des Kinderhospizdienstes mit pädiatrischer palliativer Kompetenz berät Petra und unterstützt sie in ihren Entscheidungen.

Das stationäre Kinderhospiz
Im Kinderhospiz finden die Kinder und deren Familien ein Umfeld, das sich sehr vom klinischen Erleben unterscheidet. Der Mensch steht im Mittelpunkt, die medizinische und pflegerische Versorgung ist gewährleistet, aber nicht im Vordergrund. Ein liebevolles, offenes, kindgerechtes Umfeld sorgt dafür, dass trotz der schrecklichen Diagnose Lachen und Freude ebenso im Kinderhospiz zum Alltag gehören wie die Trauer und der offene Umgang mit dem Tabuthema – Kind und Sterben.

Stationäre Kinderhospize sind Einrichtungen, die für unheilbar kranke Kinder und deren Familien da sind. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose ist eine Aufnahme möglich – vorübergehend zur Unterstützung – und auch in der Zeit des Abschiednehmens vom Leben, wenn das Kind bzw. der junge Mensch nicht zuhause sein kann oder möchte. Im Kinderhospiz ist die palliative Versorgung gewährleistet. Gesundheitskinderpflegerinnen und -pfleger und weitere medizinische, psychosoziale und pädagogische Fachkräfte stehen den Familien zur Seite.

Die räumlichen Gegebenheiten in einem Kinderhospiz sind an den Bedürfnissen lebensbegrenzend erkrankter Kinder und ihrer Familien orientiert. Sie sind so eingerichtet, dass sie für die Pflege der erkrankten Kinder und für den Aufenthalt aller Familienmitglieder ein Ort der Erholung und des Wohlbefindens anbieten, fern von jeglicher Krankenhausatmosphäre.

Die Geschwister sind in das ganze Geschehen integriert und erleben eine wertvolle Zeit mit ihren Eltern und mit ehrenamtlichen Mitarbeitenden, die ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen können. Eltern und Kinder werden in der letzten Lebenszeit des erkrankten Kindes und darüber hinaus liebevoll begleitet. Die Familien finden auch nach dem Tod ihres Kindes im Kinderhospiz Aufnahme und können auf ihrem Trauerweg begleitet werden.

Petra hat sich mit dem Gedanken angefreundet, in ein Kinderhospiz zu gehen. Sie braucht eine Auszeit. Die ganze Familie kommt mit, auch die Großmutter, deren Wohnung nicht behindertengerecht ist und die so gerne mit ihren Enkeln Zeit haben möchte. Fritz kann dann endlich mit seiner Mami das Nilpferd im Zoo besuchen.

Das erste Kinderhospiz in Deutschland
Betroffene Eltern haben in den 1980er Jahren nach Wegen gesucht, wie den umfassenden Problemen und Bedürfnissen der erkrankten Kinder und ihrer extrem belasteten Familien Rechnung getragen werden kann. 1997 entstand der erste ambulante Kinderhospizdienst in Berlin und 1998 eröffnete das Kinderhospiz Balthasar in Olpe. Vorbild war die Kinderhospizbewegung in Großbritannien, wo die Idee einer eigenständigen Kinderhospizarbeit geboren und mit dem Helen House in Oxford 1982 das erste Kinderhospiz weltweit eröffnet wurde. Heute gibt es neun Kinderhospize und etwa 70 Kinderhospizdienste in Deutschland.

Die Finanzierung
Kinderhospizarbeit ist mit ihrem spezifischen Ansatz und Arbeitsformen nur partiell kompatibel mit den unterschiedlichen Abrechnungsmodalitäten im Gesundheits- und Sozialwesen. Deshalb besteht für ihre Finanzierung ein evidenter Regelungsbedarf. Die überwiegend von Ehrenamtlichen getragenen ambulanten Kinderhospizdienste erhalten Zuschüsse zu den Personalkosten für die Koordinations-Fachkräfte. Die Zuschüsse decken jedoch bei weitem nicht den Bedarf.

Stationäre Kinderhospize haben einen Spendenanteil, der mit über 50 Prozent extrem hoch ist. Die bestehenden gesetzlichen Grundlagen decken die Kosten für die kranken Kinder zum Teil, für die mit aufgenommenen Familien aber gibt es keine Finanzierung.

Bundesverband Kinderhospiz e.V.
Die prekäre finanzielle Situation und die geringe Akzeptanz des eigenständigen Kinderhospizansatzes führten 2002 dazu, dass Kinderhospizinitiativen einen Dachverband gründeten. Heute ist der Bundesverband Kinderhospiz Ansprechstelle für Kinderhospizinitiativen und -einrichtungen, Interessierte, Ehrenamtliche, Fachkräfte, Kostenträger, Politik und Spender.

Der Bundesverband Kinderhospiz ist als Verhandlungspartner der Kostenträger bundesweit anerkannt. Wir setzen uns für bessere Rahmenbedingungen und eine Existenz sichernde Finanzierung der Kinderhospizarbeit ein. Wir informieren die Bevölkerung über die Inhalte und Möglichkeiten der Kinderhospizarbeit und vernetzen und vermitteln Kinderhospizangebote. Fortbildungsangebote und Qualitätsentwicklung von Kinderhospizorganisationen ist zwingend, damit ein so junges Angebot flächendeckend verlässliche Mindeststandards bietet. Wissenschaftliche Projekte zur Situation von Geschwisterkindern, Mitarbeitenden und Analysen der Gesamtsituation sind ebenso Teil der Aufgaben und Ziele. Wir setzen uns national und international für die Palliativversorgung von Kindern und jungen Menschen ein.

Bundesstiftung Kinderhospiz
Mit der Gründung der Bundesstiftung Kinderhospiz im Jahr 2007 konnte ein weiterer Meilenstein erreicht werden. Die Stiftung hat es sich u. a. zur Aufgabe gemacht, die Kinderhospizarbeit in Deutschland zu fördern und betroffene Familien zu unterstützen.

Mithilfe des Laptops kann Sarah sich mit Gleichaltrigen im Web austauschen. Thomas könnte ohne das Gerät keine Schulaufgaben mehr bearbeiten.

Ausblick
Es gibt noch viel zu tun, und wir brauchen engagierte Unterstützer(innen), damit der Inhalt des Wortes Kinderhospiz so gut verstanden wird wie das Wort Kindergarten. Wir brauchen die Unterstützung von Politik und Fachleuten, damit die Versorgungslücke für Familien mit lebensbegrenzend erkrankten Kindern flächendeckend und bedarfsgerecht geschlossen und ein nachhaltiges und verlässliches Angebot geschaffen wird.

www.bundesverband-kinderhospiz.de
www.bundesstiftung-kinderhospiz.de

Sabine Kraft ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes Kinderhospiz e.V.

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