25 Jun fK 2/09 Andler
Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland
Helle Seiten – Dunkle Seiten
von Werner Andler
Die Pädiatrie blickt auf eine großartige Erfolgsgeschichte zurück. Ihre Gründung vor 125 Jahren war eine schiere Notwendigkeit. Hoch war die Sterblichkeitsrate, besonders im Säuglings- und Kleinkindalter. Die Geburtenrate war für heutige Verhältnisse enorm, die allgemeine gesundheitliche Situation katastrophal. Blättert man in alten Familienchroniken, so ist es keine Seltenheit, dass Frauen um die vorletzte Jahrhundertwende 10 oder 20 Kinder zur Welt brachten, von denen nicht einmal die Hälfte das Erwachsenenalter erreichte. Besonders die armen und bildungsfernen Bevölkerungsschichten waren schon damals mehr noch als heute massiv benachteiligt.
Haupttodesursachen waren neben der Geburtensterblichkeit akute Ernährungsstörungen und Infektionskrankheiten. Konnte eine Mutter ihr Kind nicht stillen, war es so gut wie verloren. Geeignete künstliche Nahrungen gab es nicht und bei den miserablen hygienischen Bedingungen stellten sich bald Durchfallserkrankungen ein. Wenn das Kind auch noch erbrach, war es dem Tode geweiht. Bakterielle Infektionskrankheiten konnten erstmals vor 60 Jahren effektiv behandelt werden, als die Antibiotika allmählich zu ihrem Siegeszug ansetzten. Heute gibt es kaum mehr bakterielle Krankheiten, die nicht erfolgreich behandelt werden können. Eine Ausnahme sind Meningokokkeninfektionen, die so foudroyant verlaufen können, dass die Therapie zu spät kommt.
Zehn Jahre nach der Implementierung der Antibiotika wurden Medikamente entwickelt, mit denen sich auch die Tuberkulose erfolgreich behandeln ließ, die auch unter Kindern einen hohen Tribut forderte. Vor allem Kinder mit tuberkulöser Hirnhautentzündung belegten ganze Stationen von Kinderkrankenhäusern, ohne dass auch nur die geringste Heilungschance bestand. Im günstigsten Fall entwickelten sie einen Wasserkopf und siechten langsam dahin. Zusammen mit der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen verschwand diese Krankheit ziemlich rasch aus dem Krankheitsspektrum.
Kinderkrankheiten wie Kinderlähmung und Diphtherie wurden nach Einführung von Impfungen rasch zurückgedrängt und sind hierzulande längst eradiziert und aus dem Krankheitsspektrum verschwunden. Keuchhusten und Masern, die zwar nicht so häufig tödlich verlaufen, aber doch zu schweren Behinderungen führen können, könnten längst ausgerottet sein, wenn die Impfprogramme strikt eingehalten würden.
In den 1960er Jahren kam es zu entscheidenden Fortschritten in der Neonatologie. Selbst extrem unreife Frühgeborene bis hinunter zur 24. Schwangerschaftswoche können heute nicht nur am Leben erhalten, sondern unbeschadet erwachsen werden. Dieser rasante Fortschritt ist der Entwicklung der modernen Beatmungstechnik zu verdanken, aber auch der Entwicklung eines Stoffes (Surfactant), der den Kollaps der Lungenbläschen in den unreifen Atmungsorganen des Frühgeborenen verhindert. Aber auch die Entwicklung besonderer Strukturen der Perinatologie (Perinatalzentren) trug entscheidend zu diesem Fortschritt bei. Unreife Frühgeborene kommen in Zentren zur Welt, in denen Kreissaal und neonatologische Intensivstation Tür an Tür liegen. Dadurch sind Transporte solcher Kinder aus geburtshilflichen Abteilungen nicht mehr nötig, sie werden sozusagen in utero in das Zentrum verlegt, wenn ein Risiko absehbar ist. Seither müssen viele extrem unreife Frühgeborene nicht einmal mehr künstlich beatmet werden.
Mit dem Rückgang der neonatalen Sterblichkeit wurde ein anderes Problem evident, dem man angesichts der hohen perinatalen Sterblichkeit damals wenig Bedeutung schenkte, dem Plötzlichen Kindstod, der sich auf einmal zur häufigsten Todesart im ersten Lebensjahr jenseits der vierten Lebenswoche entwickelte.
Etwa 1,6 Promille bis dahin gesunder Kinder jedes Jahrgangs, die abends scheinbar gesund schlafen gelegt wurden, fanden die Eltern am nächsten Morgen tot in ihrem Bettchen. Selbst der Pathologe findet bei der Obduktion keine Todesursache. Sie ist bis heute nicht geklärt.
Was man aber herausfand war, dass weitaus die Mehrzahl dieser Kinder in Bauchlage schlafen gelegt und auch nach dem Todeseintritt in dieser Lage aufgefunden wurde, während das Risiko in Rückenlage weitaus geringer war. Allein die Empfehlung an die Eltern, ihr Kind auf den Rücken schlafen zu legen, hat in kurzer Zeit die Todesrate entscheidend verringert. Sie hat sich rasch halbiert und liegt heute noch bei 0,4 Promille. Durch das Vermeiden von Rauchen in der Schwangerschaft und nach der Geburt könnte der Anteil noch weiter sinken.
Selbst bösartige Erkrankungen haben wenigstens einen Teil ihres Schreckens verloren. Während bis 1970 Kinder mit leukämischen Erkrankungen ihre Diagnose nur kurze Zeit überlebten, berichteten Kinderonkologen zunächst in den USA, bald darauf in Europa erstmals über Heilungen, die bald zur Regel wurden. Heute überleben mindestens 75 Prozent dieser Kinder ihre Krankheit ohne Rückfälle. Mutige Kinderärzte haben sich getraut, eine Therapie durchzuführen, für die sie zunächst wegen der Aggressivität der Medikamente viel gescholten wurden. Längst sind die Kritiker verstummt.
Natürlich wurden diese Erfolge zunächst mit schweren Nebenwirkungen erkauft. Aber im Laufe der Zeit ist es gelungen, die unerwünschten Begleiterscheinungen abzumildern, so dass die Behandlung ihren Schrecken weitgehend verloren hat.
Neue Schwerpunkte
Die Entwicklung brachte es mit sich, dass die notwendige Anzahl von Akutbetten in Kinderkrankenhäusern immer weiter zurückging. Andere Probleme sind an ihre Stelle getreten. Während die Belegung im Bereich der rein somatischen Kinder- und Jugendmedizin rückläufig ist und die Auslastung dieser Betten überwiegend unter 75 Prozent liegt, hat der Bedarf an psychosomatischen, vor allem aber an kinder- und jugendpsychiatrischen Plätzen kontinuierlich zugenommen. Diese Abteilungen sind fast immer überbelegt, häufig beträgt die Auslastung trotz des Aufbaus von ambulanten Einrichtungen und Tageskliniken über 100 Prozent.
Nach wie vor, den Bemühungen von allen Seiten zum Trotz, spielen Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen eine beängstigende Rolle. Dies gilt auch für den sexuellen Missbrauch. Nie wurden so viele Fälle dieser schrecklichen Form der Misshandlung bekannt wie heute, wobei diese Zunahme wahrscheinlich einfach mit der Abnahme der Dunkelziffer korreliert. Dabei liegt das Beginnalter dieses hauptsächlich intrafamiliären Missbrauchs oder dieses Beziehungsinzests meist weit vor dem Diagnosealter, so dass viele dieser Kinder die Welt gar nicht anders kennen und erst mit zunehmendem Alter durch den Umgang mit anderen Kindern oder Erwachsenen im Kindergarten oder in der Schule merken, dass da etwas nicht stimmt.
Schwere Vernachlässigung, körperliche Misshandlung bis zur Todesfolge, haben sich in den letzten Jahren durch besonders schreckliche Fälle in unser Bewusstsein eingebrannt. Sie haben nicht unbedingt zugenommen, sind uns aber bewusster geworden.
Eine besondere Form der Misshandlung, die heute wegen ihres Ausgangs weitgehend vollständig erfasst wird, ist das Schütteltrauma von Säuglingen. In höchster emotionaler Erregung wird das Baby, das nicht aufhören will zu schreien oder das Essen zurückweist, beidseitig an den Oberarmen oder am Brustkorb gefasst und geschüttelt, wobei der Kopf mit großer Geschwindigkeit vor und zurück schlägt. Im Bruchteil einer Sekunde wird irreversibel aus einem gesunden Kind mit allen Chancen für die Zukunft ein behindertes Kind, wenn es das Trauma überhaupt überlebt. Seit 20 Jahren sind wir in der Lage, diese Art der Schädigung ziemlich sicher zu diagnostizieren, so dass wir den Schädiger (oder die Schädigerin) nicht fragen müssen, ob er sein Kind geschüttelt hat. Wir können es ihm sagen.
Vor solchen emotionalen Ausbrüchen ist kein Erwachsener wirklich gefeit. Aber es ist klar, dass er nicht nur sein Kind für immer geschädigt hat, weil Blutgefäße im Gehirn zerreißen oder – noch schlimmer – Nervenfasern, sondern auch seine Familie unwiderruflich zerstört hat. Dabei müssen wir uns hüten, Misshandlung und Vernachlässigung allzu schichtenspezifisch zu sehen. Dieses Klischee hat schon manchem Kind sogar das Leben gekostet.
Ein Thema, das unmittelbar mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung einhergeht, ist die Sorge um die Gewichtsentwicklung unserer Kinder und Jugendlichen. Bewegungsmangel und falsche Ernährungsgewohnheiten haben in den letzten Jahrzehnten zu einer kontinuierlichen Zunahme übergewichtiger Kinder und Jugendlicher geführt. Tatsächlich darf man davon ausgehen, dass aus dicken Kindern im Allgemeinen adipöse Erwachsene werden. Nicht nur dass diese Kinder unter Diskriminierung durch die Gleichaltrigen sehr leiden, sie legen die Grundlagen für alle großen Volkskrankheiten, die dann zumindest in viel jüngerem Alter in Erscheinung treten: Herz- und Kreislauferkrankungen, Zuckerkrankheit und Arthrosen. Tatsächlich treffen wir heute schon in zunehmender Häufigkeit im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt auf Diabetes Typ II, auch als Altersdiabetes bezeichnet. Insgesamt verringert sich die Lebenserwartung der betroffenen Gruppe.
Wir finden schon bei zehnjährigen adipösen Kindern eine Verdickung der Wände der Halsschlagader, ein Hinweis auf Veränderungen, die unweigerlich zu beginnendem Bluthochdruck, später Durchblutungsstörungen des Gehirns und anderer Organe führen, sowie am Ende zu Schlaganfällen und Herzinfarkten.
Zwar ist vorbeugen besser als heilen. Doch muss man auch etwas für die bereits übergewichtigen Kinder und Jugendlichen tun. Dabei ist es nicht mit einem Arztbesuch oder einer Ernährungsberatung getan. Das wissen wir aus leidvoller Erfahrung.
Deshalb wurden ambulante Programme entwickelt, z. B. Obeldicks, die ausreichend lang sind (ein Jahr) und alle Elemente beinhalten, die zur Gewichtsentwicklung beigetragen haben. Es muss ein Paket aus Gesichtspunkten der Ernährung, der Bewegung und der psychologischen Unterstützung sein. Der Schalter wird im Kopf umgelegt.
Unter diesen Bedingungen liegt die Erfolgsquote auch noch fünf Jahre nach dem ambulanten Programm bei über 70 Prozent. Besonders erfreulich: Auch bereits eingetretene Blutgefäßveränderungen sind in diesem Alter reversibel.
Fortschritte hat der Kinder- und Jugendmedizin zuletzt die ernsthafte Beschäftigung mit der Schmerztherapie gebracht. Hatte man bisher im Schmerz hauptsächlich ein Symptom von Krankheiten gesehen, das man unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten gar nicht bereit war mit großem Ernst und Konsequenz zu bekämpfen, besann man sich allmählich auf seine wahre Bedeutung. Hatte man bis dahin vor lauter Angst vor Nebenwirkungen und der Gefahr der Abhängigkeit von Medikamenten die Dosierung gerade so gewählt, dass es noch wehtat, begann man sich wissenschaftlich mit der Schmerztherapie zu beschäftigen und wo nötig auch Opiate und Morphinderivate einzusetzen. Zunächst erforschte man die Möglichkeiten der Schmerztherapie auf den Kinderkrebsstationen bei therapiebedingten Schmerzen vor allem im Bereich der Schleimhäute (Mukositis). In wenigen Jahren implementierte sich die Schmerztherapie in diesem Bereich fast wie eine Revolution.
Diese Fortschritte bezogen auch die Schmerzvermeidung mit ein. Hatte man noch vor 30 Jahren in manchen Industrieländern Frühgeborene ohne Analgesie am Bauch operiert, weil man der Ansicht war, sie würden Schmerzen kaum empfinden, weiß man heute, dass sie Schmerzen mindestens genauso empfinden wie Erwachsene und vor allem das Schmerzgedächtnis schon sehr früh funktioniert.
Gleichzeitig ändert sich gerade eben die Einstellung zur Palliativmedizin auch im Kindesalter. Gebrauchte man den Begriff „Palliativ“ bisher fast abwertend, ging es bisher nur um „Kurativ“ und sagte man im Stadium einer Krankheit ohne Heilungsaussichten: „Man kann ihm nicht mehr helfen“, besinnt man sich darauf, dass der kleine Patient gerade jetzt besonders auf unsere Hilfe angewiesen ist. Dies gilt auch für die ganze Familie. Pädiatrische Palliativmedizin beginnt sich zu etablieren und dies wird sogar im akademischen Bereich sichtbar, nachdem eben der erste Lehrstuhl für Pädiatrische Palliativmedizin an der Universität Witten Herdecke eingerichtet wurde.
Psychosoziale Gesichtspunkte der stationären Kinder- und Jugendmedizin
Daneben spielten sich im Kinderkrankenhaus fast unbemerkt wichtige Veränderungen nicht primär medizinischer Art ab. Nachdem früher die Angehörigen von kranken Kindern nahezu aus dem Krankenhaus verbannt waren, tat sich 1968 eine Gruppe mutiger Frauen und Mütter zusammen und gründete das „Aktionskomitee Kind im Krankenhaus“ (AKiK). Sie stellten das Paradigma in Frage, dass es aus verschiedenen Gründen für die Gesundung des Kindes besser ist, ja unabdinglich sei, die Mutter vom Kind zu trennen. Dafür wurden vor allem hygienische Argumente in Feld geführt, aber auch (für unsere Generation unbegreiflich) psychologische Gründe. Die Eltern hatten ihr Kind abzugeben, um es nach heute unbegreiflich langen Zeiträumen wieder abzuholen. Allenfalls durften sie es Mittwoch von 15.00 bis 16.00 Uhr besuchen. Der letzte Schrei war ein Telefon mit Sichtverbindung vom Krankenhausbalkon oder vom Flur zum Kind. Es gelang bis Mitte der 1970er Jahre – oft gegen große Widerstände – zunächst die Besuchszeit zu lockern und dann Geschwister als Besucher zuzulassen, bis schließlich die ersten Mütter Tag und Nacht bei ihrem kranken Kind bleiben durften.
Das Kind musste jetzt nicht mehr, wenn es seine Mutter am nötigsten brauchte, also wenn es krank war, auf seine Eltern verzichten. Bis dahin konnte man zu Recht von einem Schock sprechen, der mit der Krankenhauseinweisung verbunden war. Heute sind zu Recht alle Schranken gefallen. Selbst Frühgeborene dürfen von ihren Müttern und sogar von ihren Geschwistern auf den Intensivstationen besucht werden. Und oh Wunder: Es kam nicht zur befürchteten Zunahme von Infektionen. Das Argument der Hygiene hatte in dieser Beziehung ausgedient.
Die Integration der Eltern in den Stationsablauf verläuft auch heute nicht immer ganz harmonisch. Ein Grund dafür sind die oft sehr provisorischen Unterbringungsmöglichkeiten für die mit aufgenommenen Eltern, da die Krankenhäuser von Architektur und Einrichtung primär nicht für diesen Zweck konzipiert sind. Trotzdem wird die Mitaufnahme von Eltern und Pflegepersonal überwiegend positiv beurteilt. Heute übernachten durchschnittlich 40 Prozent der Mütter und Väter bei ihrem kranken Kind.
Mit der Öffnung der Kinderkrankenhäuser gingen andere Entwicklungen einher. Die Fortschritte in Diagnostik und Behandlung führten zu einer rasanten Verkürzung der Verweildauer im stationären Bereich von 15 bis 20 Tage in den 1970er Jahren bis auf heute drei Tage im allgemeinpädiatrischen Bereich. Durch ein dichteres Netz aus Kinderärzten im niedergelassenen Bereich und zuletzt durch den zunehmenden Aufbau einer spezialisierten häuslichen Kinderkrankenpflege ist eine konsequente Anschlussbehandlung gewährleistet. Darüber hinaus sind heute viel weniger kranke Kinder stationär behandlungsbedürftig. Diese Entwicklung führte im Verein mit der kontinuierlich rückläufigen Geburtenrate zum Abbau von Krankenhausbetten für Kinder, zur Verkleinerung der Kinderkrankenhäuser und Abteilungen, aber auch zu Schließungen solcher Einrichtungen.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Aber während stationäre Einrichtungen für Kinderheilkunde und Kinderchirurgie – sie sitzen in einem Boot – vielerorts um ihre Existenz bangen, werden durchschnittlich 32 Prozent der kranken Kinder in Erwachseneneinrichtungen behandelt. Dies hat sich auch nach einem Gesundheitsministerkonferenzbeschluss im Jahre 1997 („Kranke Kinder gehören ins Kinderkrankenhaus“) nicht geändert. Obwohl die Erwachsenenmedizin nicht speziell auf kranke Kinder ausgerichtet ist, nimmt sie kranke Kinder stationär auf. Oder sind viele Eltern nicht bereit, in die nächste Kinderklinik zu fahren, weil das Erwachsenenkrankenhaus in der Regel näher ist? Dabei ist das Netz aus 354 Kinderkliniken oder Abteilungen und 80 Kinderchirurgischen Einrichtungen im Allgemeinen flächendeckend.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie unterscheiden sich nicht nur anatomisch und physiologisch, sie unterscheiden sich in ihrer psychischen Entwicklung. Sie weisen ein spezifisches Krankheitsspektrum auf, mit der die Erwachsenenmediziner und die Pflegenden oft nicht vertraut sind. Die Folge sind im günstigsten Fall unnötige diagnostische Eingriffe und Behandlungsprozeduren und eine längere Verweildauer, wodurch wiederum unnötige Kosten entstehen. Sie erfahren dort jedenfalls nicht die bestmögliche Betreuung. Um ihr Anliegen im Sinne der kranken Kinder besser an die Öffentlichkeit und an die Politik zu bringen und wirkungsvoller vertreten zu können, schlossen sich Anfang der 1990er Jahre alle Berufsverbände, Elterninitiativen und Fachgesellschaften zur Bundesarbeitsgemeinschaft Kind und Krankenhaus (BaKuK) zusammen.
Die Kinderkrankenschwester auf dem Altar der Harmonisierung in Europa
Vor zehn Jahren wurden die Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft Kind und Krankenhaus durch unmissverständliche Signale aus der Politik aufgeschreckt, die auf die Abschaffung des speziellen Ausbildungsberufes der Kinderkrankenpflege abzielten. Eine einheitliche Pflegeausbildung sollte her, die in derselben Zeitspanne (von drei Jahren) wie bisher die Pflege von Frühgeborenen bis zum alten Menschen vermitteln sollte. Ziel war eine Steigerung der Flexibilität am Arbeitsmarkt und eine Harmonisierung in Europa, wo man die „Kinderkrankenschwester“ zu diesem Zeitpunkt nur noch in Deutschland und Österreich kannte. Die Schweiz hatte die spezielle Ausbildung in der Kinderkrankenpflege schon kurz zuvor abgeschafft. Während uns alle nicht deutschsprachigen Länder um die Kinderkrankenschwester beneideten, wollte man sie zum Zwecke der Harmonisierung abschaffen, statt die übrigen europäischen Länder zu ermutigen, diesen wichtigen Beruf zu entwickeln. Wir brauchen keine Harmonisierung um der Harmonisierung willen. Man einigte sich schließlich mit dem Gesetzgeber, auf eine generalistische Ausbildung zu verzichten. Der Kompromiss war eine integrative Ausbildung.
Inzwischen kann man konstatieren, dass die Ausführungsbestimmungen zur Berufsaubildung, die den Ländern obliegen, de facto zu einer Generalisierung führen, da immer weniger Anteile der Ausbildung kindbezogen sind. Manche Länder scheinen sich geradezu gegen die Kinderkrankenpflege verschworen zu haben. So haben wir in den Ländern verloren, was wir in Berlin gewonnen zu haben glaubten.
Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist besonders hervorzuheben. Die jungen Frauen, die den Beruf der Kinderkrankenschwester anstreben, ziehen die Alternative der Erwachsenenkrankenpflege oder der Altenpflege nicht in Betracht. Sie wollen mit Kindern arbeiten, das heißt, wenn sie keine Ausbildungsstelle finden, was wegen des Rückgangs von Ausbildungsplätzen in der Kinderkrankenpflege tatsächlich der Fall ist, wählen sie als Ersatzberuf den der Erzieherin oder andere pädagogische Berufe. Es ist ein besonderer Typ von jungen Frauen oder Männern, die sich für Kinderkrankenpflege entscheiden.
Krankes Kind im Abseits?
Mit der Einführung des Fallpauschalensystems vor sechs Jahren sollten Transparenz und Verteilungsgerechtigkeit im stationären Gesundheitssystem verbessert werden. Dieselbe Krankheit sollte in einem Krankenhaus an der Ostsee soviel kosten wie auf der schwäbischen Alb oder in Ballungsräumen, im Kreiskrankenhaus wie in der Universitätsklinik. Das klingt zunächst sinnvoll.
Dass sie aber bei Kindern gleichviel kosten soll wie im Erwachsenenalter ist falsch. In Jahrzehnten war mit den Kostenträgern ein Konsens erreicht worden, der der Kindermedizin einen höheren Pflegebedarf zugestand. Von Anfang an wurde die stationäre Kinderheilkunde mit den anderen Fächern nivelliert. Man hat sich zwar Mühe gegeben und eine Unzahl von so genannten Alterssplits eingeführt. Einige seltene Krankheiten wurden auf-, die häufigen dagegen abgewertet. Man hat Geld nur immer anders innerhalb der Pädiatrie neu verteilt, ohne dass es unter dem Strich zu einer substantiellen Verbesserung gekommen wäre.
Pädiatrie ist aber teurer. Wenn sich dies heute in den Kostenstrukturen nicht abbildet, dann liegt es daran, dass im ganzen Land Personal in der Pädiatrie abgebaut wurde, insbesondere im Bereich der Pflege. So darf das nicht weiter gehen. Dieser epochale Rückschritt hat das kranke Kind ins Abseits geführt.
Ein anderer Punkt kommt hinzu. Auf der Suche nach den Ursachen, warum besonders große Kinderkliniken völlig unzureichend finanziert sind und trotz Personalabbau mit den Fallpauschalen nicht auskommen, wiesen wir schon früh auf die defizitäre Auswirkung der kostenträchtigen Spezialambulanzen für komplizierte Krankheiten und chronisch kranke Kinder hin. Für diese Kinder gibt es im niedergelassenen Bereich keine Spezialisten. Auch hier waren die Kosten vor Einführung des Fallpauschalensystems im Konsens mit den Kostenträgern aus den stationären Mitteln finanziert. Danach ging das nicht mehr.
Die Träger der Krankenhäuser können diese Zusatzkosten nicht ewig weiter tragen. Sie könnten gezwungen sein, diese Spezialambulanzen zu schließen. Eine Katastrophe für die kranken Kinder.
In diesem Dilemma, das die Selbstverwaltung weder alleine lösen kann noch will, brachte die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg, das vorsieht, dass die Kinderkliniken mit den Kostenträgern über eine Fehlbedarfsfinanzierung aus dem Topf der Fallpauschalen verhandeln können. Das wäre die Lösung. Der Haken ist nur, dass das Gesetz lediglich die Möglichkeit zu Verhandlungen eröffnet, wir aber auf den good will der Kostenträger angewiesen sind. Wir wollen aber unseren berufsspezifischen Optimismus wahren. Wir wollen die Kinder- und Jugendmedizin weiterentwickeln und hoffen nicht, dass sie ihre Erfolgsgeschichte hinter sich hat.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es wichtig ist, dass alle, die sich mit dem Thema Kind und besonders mit dem kranken Kind beschäftigen, ihre Interessen gemeinsam vertreten. Insofern hat sich auch die Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kind und Krankenhaus (BaKuK) vielfach bewährt.
Prof. Dr. Werner Andler ist Ärztlicher Direktor der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln und Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Kind und Krankenhaus e. V.
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