30 Juni fK 2/08 Viernickel
Themen und Trends in der Frühpädagogik
von Susanne Viernickel
Als vor zehn Jahren die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift frühe Kindheit erschien, war noch nicht abzusehen, dass ihr Titel nicht nur die Programmatik der Deutschen Liga für das Kind wider spiegeln, sondern ebenso eine wichtige Fokussierung erziehungswissenschaftlicher Diskurse und fachpolitischer Entscheidungen der kommenden Dekade vorwegnehmen würde. Mittlerweile hat sich auch in breiteren Bevölkerungskreisen ein Bewusstsein über die Bedeutsamkeit der ersten Lebensjahre entwickelt. Deutlicher als je zuvor tritt dieser Lebensabschnitt als eine Zeit hervor, in der bereits Weichen gestellt werden, die für die Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie für die Bildungsbiografie des jeweiligen neuen Erdenbürgers eine Richtung vorgeben können, die später nur unter großen Anstrengungen wieder korrigierbar erscheint.
Wer aber ist in welcher Form an diesen Weichenstellungen beteiligt, in wessen Verantwortung liegt, ob die Schienen in einer Sackgasse enden oder Kinder zu „FasTracKids“ („FasTracKids“ = „Überholspurkinder“ ist ein in den USA entwickeltes Lernprogramm für zwei bis neunjährige Kinder, das in zwölf computergestützten „Unterrichtseinheiten“ an Themen wie Astronomie, Ökonomie, Technologie und Rhetorik heranzuführen verspricht, www.fastrackids.de) werden, die schon mit zwei Jahren Englisch lernen und mit vier Jahren Werbestrategien entwickeln? Und welche Form und welches Maß an Anregung und Bildung sind in diesem Alter überhaupt angemessen und erstrebenswert? Wen und was benötigen Kinder in den ersten Lebensjahren, um sich gesund und positiv zu entwickeln?
Anhand der Betrachtung des Themenspektrums wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Projekte im frühpädagogischen Bereich und der Reihe im vergangenen Jahrzehnt getroffener fachpolitischer Entscheidungen lässt sich nachvollziehen, welche Antworten auf diese Fragen gegeben wurden. Dabei scheint sich ein Perspektivenwechsel zu vollziehen, der als Bewegung weg von der Analyse der Mikrosysteme in den Settings Familie und Kindertageseinrichtung hin zur Betrachtung ihrer Zusammenhänge und Wechselwirkungen – in der ökologisch-systemtheoretischen Terminologie Bronfenbrenners der Mesosystemebene – charakterisiert werden kann.
Ein „neues“ Bild vom Kind
Wie ein roter Faden zieht sich durch die frühpädagogischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre der genaue Blick darauf, wie sich frühe Bildungs- und Lernprozesse vollziehen und was bereits Säuglinge und Kleinkinder dazu aktiv beizutragen vermögen (vgl. u. a. frühe Kindheit 1/2002: Bildung und Selbstentwicklung des Kindes). Man geht vom Bild des aktiven Kindes aus, das von Geburt an die biologische Ausstattung und Disposition mitbringt, sich mit seiner Umwelt auseinander zu setzen und so die eigene Entwicklung voran zu treiben, handelnd und denkend seine vielfältigen Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten und ihnen Sinn und subjektive Bedeutung zuzuweisen. Man spricht vom kompetenten Säugling, der in der Lage ist, seine Bedürfnisse zu kommunizieren, sich zu regulieren und sozial zu orientieren, und vom „konstruierenden“ Kind, das sich in aktiver Aneignungstätigkeit selbst seine Strukturen des Handelns und Erkennens schafft.
Nicht zuletzt durch technologische Fortschritte in den bildgebenden Verfahren konnte die Entwicklung des kindlichen Gehirns nachvollzogen werden, und so wurde anhand von Hirnstrommessung und Synapsenbildung sicht- und zählbar, was Reformpädagog(inn)en wie Maria Montessori bereits vor einem Jahrhundert in etwas anderer Sprache formulierten: Kinder haben Spaß daran, aus eigenem Antrieb heraus zu lernen. Sie ziehen Befriedigung daraus, Dingen neugierig auf den Grund zu gehen. Und diese selbst gesteuerten Lernprozesse sind in der Regel sehr nachhaltig, insbesondere dann, wenn sie sich im Kontext liebevoller, wertschätzender Beziehungen vollziehen (vgl. frühe Kindheit 4/2001: Beziehung und Erziehung in der frühen Kindheit). Das Vorenthalten von positiven Gefühlserlebnissen und Beziehungserfahrungen, von Spiel- und Explorationsmöglichkeiten und den damit verbundenen Erfolgserlebnissen oder das Erzeugen von Entmutigung und Frustration wirken sich negativ auf Neugiermotivation und Selbstbild aus. All diese frühen Erfahrungen und Lernprozesse hinterlassen im kindlichen Gehirn viel massivere und auch dauerhaftere Spuren als in der späteren Entwicklung. Diese Erkenntnisse verdeutlichen das riesige Potenzial, aber auch die Verletzlichkeit und Störanfälligkeit von Lern- und Bildungsprozessen in der frühen Kindheit.
Diese Vorstellungen von kindlichen Entwicklungs- und Bildungsprozessen beeinflussen grundlegend, wie wir das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind definieren und ausgestalten. In der Frühpädagogik wird die Rolle des Erwachsenen nicht mehr in Begriffen von Anleitung und Belehrung, Belohnung und Bestrafung gedacht. Viel mehr kommt es den Pädagog(inn)en zu, unterstützende Rahmenbedingungen für die kindlichen Selbstbildungsaktivitäten bereit zu stellen, und zwar durch die Gewährung von Sicherheit gebender emotionaler Zuwendung, durch wertschätzenden und anregenden kommunikativen Austausch und durch die bewusste Bereitstellung und Gestaltung entwicklungsangemessener Räumlichkeiten und Alltagssituationen. Dies erscheint wenig, ist jedoch eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe, die generelles Wissen über die kindliche Entwicklung ebenso voraussetzt wie die Fähigkeit, jedes Kind in seiner Individualität zu respektieren und gezielt anzusprechen.
Das veränderte Bild vom Kind impliziert auch, dass Kinder als Träger eigener Rechte wahrgenommen werden, die es zu formulieren und verbindlich abzusichern gilt. Diese Entwicklung wird in Deutschland u. a. sichtbar an der Auseinandersetzung um ein Wahlrecht von Geburt an (vgl. frühe Kindheit 1/2004: Wahlrecht von Geburt an – Konsequenz der Demokratie) und um die Frage, ob Kinderrechten Verfassungsrang zugestanden werden sollte und müsste (vgl. frühe Kindheit 4/2007: Reformen zu Gunsten von Kindern). In der Pädagogik finden sich in den letzten zehn Jahren vermehrt Konzepte und Projekte zur Beteiligung von Kindern über formelle und informelle Wege und Verfahren (vgl. frühe Kindheit 5/2005: Beteiligung von Kindern an Entscheidungen). Kinder als Experten in eigener Sache anzuerkennen und ihnen eine Stimme zu geben, ist ebenfalls Ausdruck des beschriebenen Perspektivenwechsels auf Kinder und Kindheit.
Reformulierung des Verhältnisses von Familie und Gesellschaft
Bei aller Begeisterung über die Potentiale der „starken, kommunikationsfreudigen, aktiv lernenden und gesunden“ Kinder – so z. B. Kapitelüberschriften des Medienpakets der Bertelsmann-Stiftung zur Förderung von Kleinkindern in Kitas, Tagespflege und Spielgruppen (2006) – kann nicht geleugnet werden, dass das Aufwachsen in Deutschland für viele Kinder risikobehaftet bleibt. Gesellschaftliche und soziale Prozesse haben die Lebenswirklichkeiten von Familien und Kindern verändert, was sich u. a. am Rückgang der Geburtenrate, dem Anstieg von Scheidungen (vgl. frühe Kindheit 3/2005: Umgang nach Trennung und Scheidung und 5/2006: Gemeinsame elterliche Sorge nach Trennung und Scheidung) und dem Anstieg der mütterlichen Erwerbstätigkeitsquote festmachen lässt. Dabei kommt Familien ungeachtet ihrer heterogenen Ausdifferenzierungen nach wie vor eine zentrale Funktion für das Funktionieren demokratischer und marktwirtschaftlicher Gesellschaften zu. Hier werden „nicht nur die Grundlagen des Humanvermögens einer Gesellschaft geschaffen, sondern auch die Basis lebenslanger Generationensolidarität und der Bereitschaft, Fürsorge für andere zu übernehmen“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006, S. 245). Über die dafür notwendigen psychischen, sozialen und materiellen Ressourcen verfügen Familien in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Familien mit einem allein erziehenden Elternteil, Mehrkinderfamilien und Familien mit Migrationshintergrund sind einem überdurchschnittlich hohen Armutsrisiko ausgesetzt, welches wiederum mit gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen einhergehen kann (frühe Kindheit 2/1998: Kinder, Armut und seelische Gesundheit).
Die Wahrnehmung der teilweise starken Belastungen und gestiegenen Anforderungen an Familien bei gleichzeitig fragiler gewordenen familiären Bindungen und sozialen Netzwerken führt zu der Erkenntnis, dass Eltern und Familien nicht die alleinige Verantwortung für die gedeihliche Entwicklung und umfassende Förderung ihrer Kinder zukommen kann (vgl. frühe Kindheit 1/1999: Für Kinder stark machen: Familie und Gesellschaft in gemeinsamer Verantwortung). Der 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung mahnte schon 1998 die gesellschaftliche Verantwortung für eine „Kultur des Aufwachsens“ an. Kinder und Familien agieren in einem System, welches ihre Chancen und Risikolagen mitbestimmt und das dementsprechend mit heran gezogen werden sollte, wenn es um das Tragen der Lasten und die Übernahme von Verantwortung geht. Um die mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen einhergehenden Belastungen und Disparitäten auszugleichen und die Lebensbedingungen aller Familien zu verbessern, bedarf es gesellschaftlicher Unterstützungssysteme – unter anderem einer funktionierenden und den individuellen Bedarfen angepassten familienergänzenden Infrastruktur.
Ausbau von familienergänzenden Bildungs- und Betreuungsangeboten
Bereits 1996 hatte die Bundesregierung den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr eines Kindes im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII, § 24) gesetzlich verankert. Der Besuch eines Kindergartens ist seitdem zum Bestandteil der kindlichen Normalbiographie geworden. In den westlichen Bundesländern besuchen 86,1 Prozent der Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren eine Kindertageseinrichtung, in den östlichen Bundesländern sind es sogar 92,4 Prozent (Deutsches Jugendinstitut, 2007). Diese hohen Quoten verschleiern jedoch, dass die Verfügbarkeit eines Kindergartenplatzes aus Sicht von Eltern – insbesondere berufstätigen Müttern – noch nicht bedeutet, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf grundlegend einfacher wird. In vielen Fällen handelt es sich nämlich nach wie vor um zeitlich unflexible Halbtagsplätze.
Noch unbefriedigender stellt sich die Situation für Familien mit Kindern unter drei Jahren dar, die auf einen Betreuungsplatz angewiesen sind. Trotz des vor allem in den vergangenen zwei Jahren massiv vorangetriebenen Ausbaus standen nach Angaben der Bundesregierung zu Beginn des Kindergartenjahres 2006/07 nur für insgesamt ca. 15 Prozent dieser Kinder Plätze in Kindertagesstätten oder in der Tagespflege zur Verfügung (Maywald 2007, S. 35), bei einem starken Missverhältnis zwischen west- und ostdeutschen Bundesländern. Allein aufgrund der mütterlichen Erwerbstätigkeitsquote in Familien mit mindestens einem Kind unter drei Jahren, die für Westdeutschland mit 30,6 Prozent angegeben wird, ergibt sich also ein erheblich höherer Betreuungsbedarf, als das System abdecken kann. Die Politik hat auf diese Situation mit Initiativen auf Länder- und Bundesebene reagiert. Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder (Tagesbetreuungsausbaugesetz/TAG) sah ein Mindestversorgungsniveau für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren von bundesweit ca. 20 Prozent vor. Es soll von Ländern und Kommunen schrittweise bis zum Jahr 2010 erreicht werden. Dieses Ziel ist mittlerweile durch die Vereinbarung zwischen Bund, Länder und Kommunen auf dem so genannten „Krippengipfel“ nochmals höher gesteckt worden. Bis 2013 sollen nun für etwa ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Plätze in Kindertageseinrichtungen und Tagespflege bereit stehen, und der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz soll auf Kinder ab einem Jahr ausgedehnt werden.
Quantität und Qualität – ein Widerspruch?
Der Ausbau familienergänzender Betreuungsangebote kann nicht nur unter familien- und frauenpolitischen Gesichtspunkten bewertet werden, denn Kindertageseinrichtungen haben nicht nur einen Betreuungsauftrag, sondern ebenso einen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen. Dafür bedarf es der Einlösung fachlicher Qualitätsstandards, und gerade das Ersterscheinungsjahr der Zeitschrift frühe Kindheit war geprägt von der gerade heftig geführten Debatte um die Qualität bundesdeutscher Kindertageseinrichtungen (vgl. frühe Kindheit 3/1998: Qualitätsentwicklung in der Kindertagesbetreuung). Wolfgang Tietze, damals einer der wenigen Professoren im Bereich der Pädagogik der frühen Kindheit, legte mit dem Buch „Wie gut sind unsere Kindergärten?“ erstmals im deutschsprachigen Raum eine empirische Untersuchung vor, in der auf der Grundlage eines expliziten Qualitätskonzeptes die pädagogische Qualität in Kindergartengruppen und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindergartenkindern systematisch untersucht wurden (Tietze, 1998). Die Studie ergab große Spannbreiten und teilweise starke Mängel in der pädagogischen Prozessqualität, also bei der Gestaltung von pädagogischen Interaktionen, der Bereitstellung entwicklungsangemessener Materialien und Räumlichkeiten und dem Ausmaß und Qualität der pädagogischen Anregungen. Tietze ermittelte Entwicklungsunterschiede bei Kindern, die auf die pädagogische Qualität im Kindergarten zurückgeführt werden konnten, die im Extremfall einem Altersunterschied von einem Jahr entsprachen.
Deutlich wurde mit den alarmierenden Befunden Tietzes, dass der quantitative Ausbau mit Überlegungen zur Sicherung und Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität einhergehen muss –umso dringlicher, als dass sich zeigte, dass der Rechtsanspruch anscheinend auch auf Kosten der Strukturqualität „erkauft“ wurde, denn mit ihm einher ging zumindest teilweise eine Absenkung von Standards im Bereich von Gruppengrößen, dem Erzieher-Kind-Schlüssel oder den Regelungen zur Freistellung des Leitungspersonals. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend reagierte mit einer mehrjährigen bundesweiten „Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder“. Diese Initiative war kein Investitionsprogramm zur Anhebung der Strukturqualität, sondern ein länder- und trägerübergreifender Forschungsverbund, der sich in mehreren Teilprojekten hauptsächlich der so genannten „Prozessqualität“ zuwandte – also den alltäglichen Erfahrungen, die ein Kind täglich in der Kita mit den Erzieher(inne)n und in der Gruppe machen kann. Auf der Basis der Arbeit der Nationalen Qualitätsinitiative entstanden Kriterienkataloge sowie Evaluationsverfahren zur Beurteilung der pädagogischen Qualität (u. a. Tietze und Viernickel, 2003). Während man sich vor zehn Jahren unweigerlich dem Vorwurf technokratischen und positivistischen Denkens aussetzte, wenn man die Meinung vertrat, dass die Qualität von Kindertageseinrichtungen oder anderer pädagogischer Dienstleistungen anhand begründeter Merkmale beurteilbar sei, ist heute ein deutlicher Einstellungswandel zu bemerken. Im Tagesbetreuungsausbaugesetz (§ 22a, Satz 1) ist erstmalig die Pflicht zur Qualitätsentwicklung und Evaluation formuliert. Qualitätsmanagement, Evaluation und Gütesiegel haben Einzug in die Kitas gehalten (vgl. frühe Kindheit 4/2006: Qualität in der Kindertagesbetreuung).
Kitazeit ist Bildungszeit
Fast zeitgleich zur Qualitätsdiskussion kam es zu einer Betonung des Bildungsauftrags frühpädagogischer Einrichtungen. Dabei ging es zunächst um die Herausforderung, den Bildungsbegriff auf die frühe Kindheit anzuwenden bzw. sich der Eigentümlichkeit frühkindlicher Bildungsprozesse anzunähern (s. o.). Praxisforschungs- und -entwicklungsprojekte wurden initiiert, aus denen wichtige Impulse und neue Bildungskonzepte für den Elementarbereich hervorgingen. Exemplarisch kann hier das bundesweite INFANS-Projekt zum Bildungsauftrag von Kindertagesstätten stehen. Hier wurde in den Jahren 1997 bis 2005 in enger Kooperation mit Kindertageseinrichtungen zunächst ein Vorschlag für die Interpretation des Bildungsbegriffs für den Elementarbereich erarbeitet. Darauf aufbauend entstand ein anspruchsvolles Handlungskonzept für eine „neue“ Frühpädagogik, das Elemente der professionellen Selbstreflexion und Erziehungszielformulierung mit einer Handlungsorientierung verknüpft, die von den Themen der Kinder ausgeht und pädagogisch angemessene, herausfordernde „Antworten“ der Erwachsenen ins Zentrum stellt (Andres und Laewen, 2005).
Der PISA-Schock über das schlechte Abschneiden der 15-jährigen deutschen Schülerinnen und Schüler bei der ersten internationalen standardisierten Leistungsmessung von Basiskompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften brachte eine noch stärkere Dynamik in die Diskussion um Bildung im frühen Kindesalter. Das Forum Bildung in der Bund-Länder-Kommission hob 2001 in seinen zwölf Empfehlungen als Ergebnis einer zweijährigen Arbeit und als konsensuale Grundlage für Bildungsreformen hervor, dass insbesondere die frühe, individuelle Förderung des kindlichen Lernens und das frühe Wecken der Motivation und Fähigkeit zu kontinuierlichem und selbstorganisiertem Lernen notwendig seien (Arbeitsstab Forum Bildung, 2001). Der öffentlichen Kleinkinderziehung kommt hierbei auch im Sinne der Herstellung von Chancengerechtigkeit eine besondere Verantwortung zu, denn stärker als in jedem anderen PISA-Teilnehmerland ist in Deutschland der Bildungserfolg eines Kindes von seiner Herkunft und vom sozialen und ökonomischen Hintergrund des Elternhauses abhängig. Dass der Besuch einer (guten) Kindertageseinrichtung kompensatorische Effekte haben kann, die bis ins Erwachsenenalter hinein reichen, wurde durch amerikanische Längsschnittstudien mittlerweile klar belegt (Lee, Brooks-Gunn, Schnur, 1988).
Der Kindergarten befand sich also „zwischen Bildungskatastrophe und Bildungseuphorie“ (Roux, 2002), als vor ca. fünf Jahren die ersten Bildungsprogramme bzw. Bildungspläne für den Elementarbereich veröffentlicht wurden (vgl. frühe Kindheit 5/2003: Bildungskonzepte für Kindertageseinrichtungen). Mittlerweile sind sie mit unterschiedlichem Verbindlichkeitsanspruch in allen 16 Bundesländern zur Grundlage der Bildungsarbeit in den Einrichtungen avanciert. Sie geben einen inhaltlich-fachlichen Orientierungsrahmen, der weit über die Regelungen in den Kita-Gesetzen hinausgeht, auch wenn sie im Umfang und Detailliertheitsgrad stark variieren. Weitgehend übereinstimmend werden in allen Programmen die sprachliche Bildung, die mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung, der musikalisch-kreative Bereich und der Bereich Körper, Bewegung und Gesundheit adressiert. Abweichende Schwerpunktsetzungen gibt es für Umwelt- und Medienbildung, soziale und kulturelle Umwelten, interkulturelles Lernen, geschlechtssensible Pädagogik, Werteerziehung und religiöse Bildung sowie für die Förderung lernmethodischer Kompetenzen. Viele dieser wichtigen Themenbereiche wurden von der Zeitschrift frühe Kindheit in Schwerpunktheften aufgegriffen und bearbeitet (vgl. u. a. frühe Kindheit 3/2003: Kind und Medien; 6/2003: Interkulturelle Erziehung und Mehrsprachigkeit; 4/2005: Kinder und Musik; 3/2006: Werteerziehung, Religiöse Erziehung und Spiritualität; 4/2007: Jungen und Mädchen – geschlechterbewusste Erziehung).
Spätestens seit Veröffentlichung des 12. Kinder- und Jugendberichts (BMFSFJ, 2005), der die Bedeutung informeller Bildungsprozesse in non-formalen oder semi-formalen Settings und die Potenziale des Lernens in der frühen Kindheit betonte, ist die Kindertageseinrichtung als Bildungseinrichtung akzeptiert. Wie häufig birgt aber auch diese Entwicklung die Gefahr einer Überbetonung, so dass bereits das auch von der OECD gelobte sozialpädagogische Konzept der Integration von Betreuung, Bildung und Erziehung gegen die Einführung schulischen Leistungsdenkens und die Rückkehr zu einer funktionsorientierten Angebotspädagogik – die sich gerne unter dem Deckmäntelchen von Förderprogrammen verbirgt – verteidigt werden muss.
Wechselwirkungen zwischen Familie und frühpädagogischen Institutionen
Auch wenn qualitativ hochwertige Kindertageseinrichtungen einen substantiellen Beitrag zur Förderung von Kindern leisten können, bleibt die Familie nach wie vor der Ort, der am stärksten und nachhaltigsten auf die kindliche Entwicklung Einfluss nimmt. In Anerkennung dieser vielfach empirisch belegten Tatsache (vgl. u. a. Tietze u. a., 2007) und mit Blick auf die beschriebenen wachsenden Herausforderungen, denen zunehmend mehr Familien ausgesetzt sind, ist für eine umfassende Bildungsförderung in früher Kindheit die interne Optimierung institutioneller pädagogischer Arrangements nicht ausreichend. Ebenso dringend müssen Familien als Sozialisations- und Bildungsorte unterstützt und gestärkt werden. In den letzten zehn Jahren sind in dieser Hinsicht zwei verschiedene, einander ergänzende Herangehensweisen erfolgt. Die gemeinsame Basis besteht in ihrer Orientierung auf Potenziale und Lösungen: Familien werden mögliche Handlungsoptionen gespiegelt und erweitert und sie werden in ihrer Identität als mitgestaltende Subjekte ihres Lebensraums ernst genommen und ermutigt, Ressourcen (wieder) zu entdecken oder sich neu zu erschließen (vgl. frühe Kindheit 3/2007: Familienbildung und Stärkung der Elternkompetenz).
Einen Zugang zu Familien, die über staatliche Angebote mit einer Komm-Struktur nur schwer erreichbar sind und darüber hinaus überdurchschnittlich häufig auch keine Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen, bieten direkte und niedrigschwellige pädagogische Unterstützungskonzepte für Familien, z. B. Hausbesuchsprogramme wie „Opstapje – Schritt für Schritt“ oder Hippy (Home Instruction für Parents of Preschool Youngsters). Semiprofessionelle, geschulte Mitarbeiterinnen (meist Mütter aus unterschiedlichen Herkunftsländern) gehen direkt in die Familien und arbeiten dort mit Müttern und Kindern. Durch speziell entwickelte Spielmaterialien, durch das Vorbild der Besucherinnen und durch zusätzliche gemeinsame Müttertreffen sollen die Eltern-Kind-Interaktion unterstützt und die Entwicklung des Kindes gefördert werden.
Ein zweiter wichtiger Zugang bietet sich über die Kindertageseinrichtungen an (vgl. frühe Kindheit 6/2006: Familie allein genügt nicht – Frühe Entwicklung und Bildung in Familien und Tageseinrichtungen). Es ist erwiesen, dass Kinder noch stärker vom Besuch einer Kindertageseinrichtung profitieren und Eltern gerne Anregungen aufgreifen und weniger Scheu haben, bei pädagogischen Fragen um Rat zu fragen, wenn eine positive Verbindung zwischen den beiden Lebensbereichen Familie und Kindertageseinrichtung besteht. Eine solche Verbindung wird insbesondere durch den regelmäßigen persönlichen Kontakt hergestellt und geprägt und erfordert die sensible und überlegte Gestaltung des Austauschs und der Zusammenarbeit. Der neue Begriff der „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ steht für diesen Perspektivenwechsel (vgl. Viernickel, 2006). Im Mittelpunkt der Beziehung steht die Erziehung und Förderung des Kindes, wofür beide Seiten die gemeinsame Verantwortung übernehmen. Eltern werden als Experten für ihre Kinder gesehen; dazu gehört auch, die Unterschiedlichkeit von Familienkulturen anzuerkennen, zu reflektieren und daraufhin zu untersuchen, welche Anregungen sie bereithalten können. In der Kita treffen Eltern auf kompetente Fachleute für Pädagogik der frühen Kindheit, die individuelle Unterstützung und Beratung anbieten, aber auch weiterführende Hilfen vermitteln können. Modellprojekte, die eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Familien und Einrichtungen fachlich begleiten und finanziell unterstützen, können auf ermutigende Ergebnisse verweisen (Fröhlich-Gildhoff, Kraus, Rönnau, 2005).
Die Erkenntnis, dass die Lebens- und Lernorte Familie und Kindertageseinrichtung wechselseitig aufeinander einwirken, findet ihren Niederschlag auch in neuen Konzepten und Organisationsformen. Dazu gehört die Weiterentwicklung bestehender Einrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren, Familienzentren oder auch Mehrgenerationenhäusern, die mit einer bedarfsorientierten Angebotsstruktur Eltern, Kinder und die ganze Familie fördern und unterstützen wollen. Mit dem Anschluss an zusätzliche regionale Angebote und eingebettet in lokale Strukturen bauen sie ein z. T. breit gefächertes Unterstützungssystem auf. Sie halten ein niedrigschwelliges Angebot der Beratung und Unterstützung von Kindern und Familien und ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot bereit und wirken z. B. unterstützend bei der Nutzung einer qualifizierten Kindertagespflege. In Nordrhein-Westfalen gibt es nach Angaben der Landesregierung bereits rund 1.000 Familienzentren, wovon 261 Einrichtungen zertifiziert wurden und das Gütesiegel „Familienzentrum NRW“ erhalten haben (www.familienzentrum-nrw.de).
Zukunft der Frühpädagogik – die Besten für die Jüngsten!
Die dargestellten Themen werden die Frühpädagogik auch in den nächsten Jahren beschäftigen. Familienerziehung und Bildung und Förderung in Kindertageseinrichtungen müssen noch stärker als bisher in Bezug zueinander gesetzt und ihre Wirkungen in einem transaktionalen Modell – also in wechselseitigen Abhängigkeiten – gedacht und gestaltet werden. Dies gilt insbesondere, wenn Konzepte der Aufnahme und Förderung von Kindern unter drei Jahren in pädagogischen Institutionen entwickelt werden, z. B. im Hinblick auf die Gestaltung einer sanften Eingewöhnungsphase. Damit verbunden ist auch die Herausforderung, eine Balance zu finden zwischen dem Anspruch der gleichberechtigten Erziehungs- und Bildungspartnerschaft und der gestiegenen Notwendigkeit, Familien konkrete Hilfestellung und Beratung in Erziehungsfragen zukommen zu lassen. Wie kann dem Unterstützungsbedarf von Familien begegnet werden, ohne Partnerschaft aufzugeben und in eine hierarchische Beratungsbeziehung hinein zu geraten? Pädagogische Fachkräfte werden mehr denn je gefordert sein, sich im Umgang mit Heterogenität und Vielfalt – in den kulturellen Hintergründen, den sozialen und subkulturellen Lebensbedingungen von Kindern und Familien – zu professionalisieren und dabei eine ressourcenorientierte Haltung zu erwerben. Eine wichtige Funktion der Frühpädagogik liegt hier in der Stärkung kindlicher Persönlichkeit und der kindlichen Widerstandsfähigkeit bei belastenden Ereignissen und Lebensumständen (Resilienz) und der Wahrnehmung und Förderung individueller Stärken und Potenziale. Kindertageseinrichtungen zu Bildungsorten weiter zu entwickeln, ohne einen der frühen Kindheit angemessenen Bildungsbegriff aufzugeben, wird auch in den kommenden Jahren eine Herausforderung bleiben.
Damit die angesprochenen Zukunftsaufgaben erfolgreich bewältigt werden können, muss an strukturellen Stellschrauben gedreht werden. Wenn sich die ideelle Aufwertung der frühen Kindheit nicht auch in einer finanziellen Mehrausstattung niederschlägt, werden wir die Chancen der frühen Jahre nicht hinreichend nutzen können. Bisher lassen Kommunen und Träger kaum Anstrengungen erkennen, für die eingeforderte hohe Qualität der frühkindlichen Bildung und Betreuung auch substantiell mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Das vor über zehn Jahren vom EU-Kinderbetreuungsnetzwerk aufgestellte Qualitätsziel, nach dem mindestens ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts in frühkindliche Bildung und Förderung fließen sollten, ist in Deutschland noch längst nicht erreicht. Investitionen sind dabei nicht nur in die personelle Ausstattung von Kindertageseinrichtungen nötig, sondern auch in die bessere Qualifikation des pädagogischen Fachpersonals. Für eine nachhaltige Qualitätssicherung und -entwicklung bedarf es grundlegender Veränderungen auf Ausbildungsebene. Hier hat ein Prozess begonnen, der durchaus als revolutionär bezeichnet werden kann: während im Jahr 2003 noch keine einzige Erzieherin auf akademischem Niveau ausgebildet wurde, existieren heute über 40 akademische Ausbildungsgänge für Frühpädagog(inn)en an deutschen Hochschulen, die zumeist den Abschluss Bachelor of Arts verleihen. Diese positive Entwicklung muss weitergehen, damit der dringend notwendige Transfer von wissenschaftlichem Wissen in Aus-, Fort- und Weiterbildung und in die pädagogische Praxis erfolgen kann.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Susanne Viernickel ist Hochschullehrerin für Pädagogik der Frühen Kindheit an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind.
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