fK 2/07 Walter

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Geschlechtergerechte Erziehung ohne reale Frauen- und Männervorbilder?

von Melitta Walter

Mädchen und Jungen sollen geschlechtergerecht durch die Kindheit und Jugend begleitet werden. So schreiben es EU-Richtlinien vor – so steht es in den Bildungs- und Erziehungsplänen. Auch wenn wir diese Aufforderung sinnvoll finden, wie werden wir ihr in der Alltagspraxis gerecht? Wie setzten wir die theoretischen „Gender Mainstreaming“-Regeln in der Kinderbetreuung, in der Schule um? Funktioniert dieses Vorhaben ohne eine gesamtgesellschaftliche Reflexion? Und – nicht zuletzt – wie sehen wir uns selbst als Frau, als Mann im 21. Jahrtausend?

Schon ein Säugling bekommt mit: Mutter und Vater verhalten sich nicht gleich. Das familiäre Umfeld hat bestimmte Erwartungen, wie Enkelinnen und Enkel, Nichten und Neffen erzogen werden sollen. Bei Mädchen wird immer noch Wohlverhalten gewünscht, bei Jungen intensiv der Bewegungsdrang gefördert. Diese Zuschreibungen finden unterschwellig und unbewusst statt. Oft zeigt es sich in Kleinigkeiten wie dem Tonfall und der Mimik. Großeltern und Freunde schenken weiterhin dem Jungen den Kran und dem Mädchen die rosa Haarspange – all dies prägt schon früh die kindliche Vorstellung von dem, wie Frauen und Männer sind, wie sie selbst einmal sein sollen.

Als hätten wir es mit einem ungeschriebenen Gesetz zu tun, begegnen sich wesentlich mehr Frauen als Männer, wenn das Thema „Bildung und Erziehung“ auf der Tagesordnung steht. Wird dann noch der gesamtgesellschaftliche Auftrag des „Gender Mainstreaming“ oder gar die im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan mit immerhin acht Seiten gewürdigte „geschlechtergerechte Pädagogik“ zum Zentrum der Veranstaltung, verschwindet das männliche Geschlecht fast gänzlich. Geschlechterpädagogik scheint ein Frauenthema zu sein. Dies ist bedauerlich, denn uns allen ist doch bewusst, dass Mädchen und Jungen – insbesondere in den frühen Jahren – beide Geschlechter brauchen, um sich später einmal als Frauen oder Männer in der Welt zurecht zu finden.

Während die nachwachsende Generation ganz überwiegend von Frauen betreut wird, besteht die gesellschaftspolitische Landschaft auf der Ebene der Entscheidungstragenden überwiegend aus Männern. Bei der Bundestagswahl im September 2005 wurden 613 Abgeordnete in den Bundestag gewählt, darunter 193 Frauen. Dies entspricht einem weiblichen Anteil von 31,5 Prozent. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit auf dem 17. Platz.

Diese Männer, die wir als Bevölkerung gewählt haben, sind die „Bestimmer“, wie Kinder sagen. Wie aber bestimmen sie über das, was den kleinen Mädchen und Jungen gut tut? Sie bestimmen, dass Kindergruppen 25 Kinder zählen müssen. Sie bestimmen, dass Frauen weniger Geld für die gleiche Arbeit bekommen. Sie bestimmen, dass Väter Probleme am Arbeitsplatz bekommen, wenn sie den Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen wollen. Männer entscheiden überwiegend, wo unsere Steuergelder hinfließen, sie bestimmen, wie Städte und Siedlungsräume entwickelt werden, ob Kinderbetreuungseinrichtungen gebaut werden.

All dies hat Vorbildfunktion. Mir geht es nicht um eine Geschlechterschelte, mir geht es um Bewusstseinsbildung, denn wir alle sind ‚gegendert‘, das heißt, alle heute erwachsenen Frauen und Männer sind mit den von ihrer Elterngeneration vorgegebenen Ge- und Verboten erzogen worden. Und eine wesentliche Erziehungsbotschaft war, dass Männer die Macht fest in den Händen halten. Erst einmal scheint der Mann Mann zu sein und erst viel später wird er Vater und damit Erzieher seiner Söhne und Töchter. Wir haben auch gelernt, dass die Erziehung kleiner Kinder „Frauensache“ ist, denn mehr als 90 Prozent der Menschen, die den Kindern in der frühen Kindheit bis zum Alter von 10 Jahren begegnen, sind Frauen.

Von der Geburt bis zum Übergang in die Oberschule entscheiden demnach fast ausschließlich Frauen über die Darstellung des eigenen und anderen Geschlechtes. Sie wählen die Bilderbücher aus, sie entscheiden, welches Spielzeug den Mädchen und Jungen zur Verfügung gestellt wird. Sie richten Puppenecken und Bauteppichlandschaften ein. Dies tun sie oftmals unbewusst, das heißt, ohne Bewusstsein für die Prägung der Geschlechter durch ihr eigenes Vorbild.

Der Blick ist weiblich sozialisiert und so werden die Wünsche und Bedürfnisse der kleinen Jungen oftmals übersehen. Kein Wunder, denn Geschlechterpädagogik findet auch heute nur in Ausnahmefällen einen Platz in den sozialpädagogischen Ausbildungsstätten.

Vorbild sein – eine Alltagsherausforderung
Wenn wir uns bewusst entscheiden, Kindern und Jugendlichen ein Vorbild sein zu wollen, müssen wir darüber nachdenken, welche Werte wir ihnen vermitteln möchten. Hier einige Beispiele von Antworten, die Kinder im Kindergartenalter auf die Frage „Was ist ein Vorbild?“ gegen haben:
„Das ist ein Bild, das vor jetzt war. Irgendein altes eben“ (Junge, 6 Jahre); „Vielleicht ist das so ein Bild, wo ich dann die Zahlen mit Farben ausmale“ (Mädchen, 5 Jahre); „Ist es das, wenn ich in den Spiegel gucke, wenn ich mich angucke?“ (Mädchen, 5 Jahre); „Mama sagt immer zu meiner Oma ‚dass Oma ihr Vorbild ist. Ich glaube, sie sagt, dass sie auch so viel schafft, wie Oma“ (Junge, 5 Jahre); „Das sagt, dass der einer ist, den soll ich mir merken“ (Junge, 6 Jahre); „Mein Papa sagt, wenn im Fernsehen die Leute aus der Politik sich streiten, dann sagt er ‚Und das sollen Vorbilder sein?’ Und damit sagt mein Papa, dass dann die Leute, die das gucken, auch streiten. Und das findet er nicht richtig. Ich auch nicht“ (Mädchen, 6 Jahre).

Diese Mädchen und Jungen gehen sehr praktisch mit der Vorbild-Frage um. Sie nehmen sie wörtlich. Überrascht hat mich die weitsichtige Antwort „Wenn ich in den Spiegel gucke…“.

Kinder brauchen uns als Vorbilder. Wie wir uns als Frauen und Männer präsentieren, wird von ihnen nachgeahmt. Erst wenn beide Geschlechter gleichwertig zur Nachahmung zur Verfügung stehen, können Kinder sich in einem breiten Spektrum stabilisieren. Sie können, so die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, ein reicheres, flexibleres, quasi „doppeltes“ Über-Ich aufzubauen. Dieses Über-Ich schafft Sicherheit und kommt dem kindlichen Bedürfnis nach Gerechtigkeit entgegen.

Vorbild zu sein heißt: die Kinder im Aufwachsen liebevoll und anteilnehmend zu begleiten. Vorbild zu sein bedeutet, eine eigene Meinung zu haben und diese auch mitzuteilen. Ein Geschlechtervorbild zu sein setzt voraus, sich im eigenen Geschlecht bewusst zu entwickeln. Vorbilder werden Menschen, die sich mit ihrer eigenen Person als mögliches Beispiel des Frau- oder Mannseins anbieten.

Nicht das Prahlen mit eigenem Erfolg, nicht die Rücksichtslosigkeit des Wettbewerbs und die Anhäufung von Prestigeobjekten hat weibliche oder männliche Vorbildqualität, sondern die Kontinuität der Anteilnahme, die Bereitschaft zum Dialog mit dem eigenen und anderen Geschlecht. Im Berufsleben heißt das: Wenn Menschen mit Personalmacht Frauen und Männer gleich behandeln, wenn Auszubildende als junge Frauen und Männer gesehen und ermutigt werden, den Betrieb mitzugestalten, wenn Betriebe familienfreundliche Arbeitszeiten und betriebseigene Kinderbetreuungseinrichten zur Verfügung stellen, sind der Chef oder die Chefin verlässliche Vorbilder für die Ausgestaltung des Lebens als Frau, Mann, Mutter und Vater im weitesten Sinne.

Wenn Männer abwertend über Frauen sprechen, erleben die kleinen Jungen, dass Frauen weniger wert sind. Wenn Mütter den Vätern die Fähigkeit absprechen, sich verantwortlich um das Kind zu kümmern, lernen die kleinen Jungen, dass Männer eben keine Ahnung von Kindererziehung haben. Wenn Frauen über Frauen abwertend sprechen, die zielstrebig ihren eigenen Weg gehen, dann lernen kleine Mädchen, dass eine Frau sich besser mit dem Mittelmaß zufrieden gibt, wenn sie geliebt werden will. Diese Wenn’s lassen sich endlos fortführen… Schauen Sie heute Abend doch einmal in den Spiegel und fragen Sie sich, wie kleine Mädchen und Jungen Sie wohl wahrnehmen als Frau oder Mann.

Geschlechterpädagogik als Querschnittsaufgabe
Endlich kommt Dynamik in diesen so elementar wichtigen Wirkungsbereich: die Realisierung von Artikel 3 des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes, in dem die „Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ verankert ist, findet mehr Aufmerksamkeit in der Elementarpädagogik.

Nun müssen die Fachkräfte reagieren: Als ich in den 1970er Jahren begann, mich mit der Geschlechterfrage beruflich zu befassen, ging es mir in erster Linie um die Aufwertung der Mädchen, der weiblichen Jugendlichen, die unter dem Begriff „Kinder und Jugendliche“ mit erfasst, aber nicht bemerkt und deshalb auch nicht in Planung und Ausgestaltung der Angebote geschlechtsspezifisch berücksichtigt wurden. Hier haben wir wirklich sichtbare Erfolge zu verzeichnen: Wir beobachten täglich, dass die kleinen Mädchen mit mehr Selbstbewusstsein durch den Alltag gehen. Sie erleben berufstätige Mütter, oft alleinerziehende Frauen. Sie haben eine größere Auswahl an Vorbildern als die Generationen zuvor. Mädchen trauen sich mehr zu, sie erobern Spiel- und Bewegungsräume, die früher ausschließlich den Jungen vorbehalten waren. Mädchen werden endlich stärker, selbstbewusster und unabhängiger, wenn wir sie sich nur in Ruhe entfalten lassen, wenn wir sie nicht ständig auf die Rolle der Haushaltsgehilfin oder der emotional Ausgleichenden fixieren.

Die Jungen sind im Alltag der pädagogischen Arbeit die Zielgruppe, die das Personal in den Kindertagesstätten am meisten beunruhigt. Kleine Jungen sind oftmals unkonzentriert, hypermotorisch, aggressiv und bilden den Großteil der von der Schule zurückgestellten Kinder, füllen überwiegend die Gruppen der so genannten Verhaltensauffälligen. Ihnen geht es sichtbar schlecht. Im Gegensatz zu den Mädchen, die ja mit Erwachsenen des eigenen Geschlechts aufwachsen, fehlen den Buben die realen gleichgeschlechtlichen Vorbilder. Männer tauchen in der Elementarpädagogik sehr selten auf und wenn sie es tun, gelten sie als Exoten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts deutet Vieles darauf hin, dass die Jungen in unserer Kultur auf der Strecke bleiben. Ernsthaft Sorgen machen müssen wir uns um sie, denn die Grenze zwischen Spiel und bitterem Ernst ist mittlerweile bei dem männlichen Geschlecht schon in jungen Jahren gefährlich verwischt. Wir alle sind also zum Handeln aufgefordert, wir müssen uns der Aufgabe der geschlechtergerechten Pädagogik stellen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Kindertageseinrichtungen sind nicht nur äußerlich Teil der gesellschaftlichen Geschlechterordnung, sondern auch bis in ihre innersten Strukturen von dem Regelwerk dieser Ordnung durchzogen. Sie sind ein institutioneller Ort, an dem die Geschlechterstrukturen in ihren traditionellen Formen durch das alltägliche Handeln der Akteurinnen und Akteure immer wieder kopiert wird.

Die Aufgaben der heutigen Erzieherinnen sind anspruchsvoller und umfangreicher, als es an vielen Ausbildungsstätten gelehrt wird. Erzieherinnen fungieren als Sozialarbeiterinnen, vermitteln zwischen Kindern vieler Kulturen, zwischen Kind und Eltern, zwischen Kind, Eltern und Sozialamtsstellen, halten den Kontakt zu Kinderschutzzentren, der Kinder- und Jugendpolizei. Das Anforderungsprofil an erzieherische Kompetenz, organisatorisches Talent und Fähigkeit zur Erwachsenenbildung platzt aus allen Nähten, denn wir leben im Zeitalter der „Qualitätssicherung“. Eine Analyse des Tätigkeitsprofils der Erzieherin macht deutlich, wie entscheidend für das zukünftige Leben der ihr anvertrauten Kinder Umsicht, Kompetenz und Handlungsfähigkeit sind.

Viele Kinder in Deutschland zumindest in den Großstädten wuchsen und wachsen die Lebensjahre zwischen drei und sechs in Kindertagesstätten auf, viele besuchen im Anschluss daran Horte. Die Kinderanzahl in den Gruppen ist viel zu hoch, um das Individuum begleiten zu können. Und dies, obwohl doch die öffentliche Erziehung einen wesentlich größeren Umfang einnimmt, als die elterliche am Wochenende. Das Spannungsfeld zwischen privater und institutioneller Erziehung ist teilweise explosiv.

Es stellt sich die drängende Frage: Was ist uns misslungen? Uns, den Eltern, den Erzieherinnen, den Grundschullehrerinnen und nicht zuletzt den Politikerinnen und Politikern, die doch zum Wohle des Volkes Entscheidungen treffen sollen? Wo liegen die Schwachstellen der pädagogischen Konzepte und Handlungsstrategien?

Im Bezug auf die Jungen lässt sich schlussfolgern, dass ihnen nicht deutlich genug vermittelt wird, welche gesellschaftlichen Spielregeln einer Demokratie zuträglich sind und mit welchen Verhaltensweisen Gewalt und Schrecken verbreitet werden. Der Mythos vom starken Mann ist noch lange nicht ausgestanden. Welche Rolle, welche gesellschaftlich relevanten Aufgaben muss eine zeitgemäße Elementar- und Hortpädagogik übernehmen, damit wir, die wir heute Kinder erziehen, im Alter ohne Angst die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft erleben können? Wie bereiten wir Mädchen und Jungen auf eine Lebensrealität vor, die Arbeitsteilung auch in der Kindererziehung, Konfliktfähigkeit, Toleranz und Durchhaltevermögen erfordert, und zwar von beiden Geschlechtern?

Lange beschäftigte sich die Geschlechterforschung mit Fragen der biologischen Anlagen von Frau und Mann – den Genen. Je nach Ausgangsstandpunkt werden Unterschiede belegt oder widerlegt. Besonders feministisch geprägten Soziologinnen kommt das Verdienst zu, auf die rollenspezifische Vorbildfunktion für beide Geschlechter durch die Erwachsenen hinzuweisen. Bisher fehlt jedoch an vielen pädagogischen Ausbildungsstätten die Sensibilisierung für die Geschlechterfrage, es wird versäumt, die individuelle Lebenserfahrung durch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsrolle als Frau (oder Mann) zu ergänzen.

Der Erzieherinnenberuf gehört zu den weiblichsten der weiblichen: behüten, schützen, trösten, vermitteln. Ressourcen für Reflexion, beobachtenden Rückzug oder gar pädagogische Grundsatzdiskussionen sind aufgrund der permanenten Personalengpässe kaum realisierbar. Männer sind eine Randerscheinung in diesem Beruf (in München ca. drei Prozent), leider. Die Väter, falls real vorhanden, fühlen sich oftmals nicht zuständig, oder sie haben Arbeitszeiten, die gegenläufig zum Familienleben stattfinden. Aber sie tauchen immer häufiger auf Elternabenden auf. Kleine Jungen üben ihre männliche Geschlechtsrolle ohne männliche Korrektur. Sie „spielen“ Mann sein, und viele Frauen amüsieren sich, sind nachsichtig und inkonsequent. Andere unterstützen dieses auftrumpfende Verhalten, denn was ein richtiger Mann werden soll, der muss die Rolle des „starken“ Geschlechts schließlich ausprobieren können.

Unreflektiert werden die Jungen so in klassischen Rollenmustern unterstützt, oder, wenn sie „Probleme“ machen, energisch gemaßregelt. Wenn wir wollen, dass die Herausforderung „beide Geschlechter haben das gleiche Recht auf individuelle Entfaltung“ positiv angenommen wird, müssen wir dafür sorgen, dass Pädagoginnen mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen werden. Sie brauchen fachliche Unterstützung und Entlastung. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Statistiken und pädagogische Forderungen prallen ab, wenn die Aufgabenstellung vor Ort nicht anschaulich vermittelt wird.

Für die Zukunft unserer Gesellschaft wird es von großer Bedeutung sein, ob Vorstellungen, Forderungen und Begabungen von Frauen und Männern gleichwertig behandelt werden, oder nicht. Eine wirkliche Gleichberechtigung der Geschlechter in Wort und Tat wird von der Geburt des Kindes an ermöglicht oder verhindert. Für die Gegenwart und nahe Zukunft, die sich aus vielen Kulturen, Religionen und Geschlechterspielregeln zusammensetzen, ist es notwendig, dass sich die Frage nach der Gleichwertigkeit von Mädchen und Buben nicht mehr stellt. Grundsätzlich sind beide Geschlechter gleichermaßen in der Lage, sich zu selbständigen und verantwortlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu entwickeln. Ist diese Wahrnehmung allgemein akzeptiert, können wir uns der Förderung der Begabungen beider Geschlechter widmen.

Die Frauen, die man nicht sieht
Ein kürzlich publiziertes Bildersachbuch zur Entstehung der Menschheit bietet den Kindern erneut die Entwicklung vom Affen zum Mann. Klischeehaft richtet sich der Mann im Laufe der Evolution auf zum Kämpfer. Das weibliche Geschlecht scheint es in der Entwicklungsgeschichte nicht gegeben zu haben. Was lernen kleine Mädchen und Jungen daraus? Nur Männer sind wichtig!

Mädchen wollen auf Faschingsfeiern immer wieder als Prinzessin auftreten. Doch wie lebte und lebt eine wirkliche Prinzessin? In einem Hort studierte ich mit acht Mädchen das Leben von bayerischen Herrscherinnen ein. Jedes Mädchen wählte sich ihre Lieblingsherrscherin und als wir diese historischen Frauen dann präsentierten, stellte sich heraus, dass jedes Mädchen sich die Figur herausgesucht hatte, die ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten am meisten entsprach.

Mit Mädchen zwischen drei und sechs Jahren thematisierte ich das Thema „Denkmal“ und die Kleinen schufen Frauendenkmäler, sie stellten diese Figuren dar und malten Frauen, an die wir denken sollen, weil sie als Frauen etwas Besonderes leisten. Und plötzlich sind auch die Jungen neugierig, wie lebten die Könige wirklich, warum werden Herrscher am Rathaus verewigt und Herrscherinnen nicht? Warum finden wir in den Museen so wenige Gemälde von Malerinnen, und wenn wir Kunst von Frauen ansehen, malen sie anders als Männer? Für Kinder sind dies spannende Fragen, denen sie sich ernsthaft stellen. Da gibt es kein Gekicher mehr, da staunen dann beide Geschlechter über die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern und finden das „ungerecht“ – Recht haben sie!

Und damit sind wir wieder beim Personal und der Notwendigkeit der weiblichen (und männlichen) Vorbildfunktion. Die Kinder haben einen scharfen Blick und erkennen schnell, wie Frau und Mann sich selbst definieren. Kinder sind lernbereit, neugierig auf alles, das anregend ist – und die Geschlechterfrage lässt sich wunderbar in den pädagogischen Alltag integrieren. Natürlich gelingt dieses Vorhaben dort am besten, wo auch Mütter und Väter eingebunden werden.

Die Erziehung der Geschlechter ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die politischen Entscheidungstragenden sind gefordert: wir brauchen eine kinderfreundliche Stadtplanung, Wohnraum, der Kindern mehr Platz ermöglicht. Wir brauchen kleinere Kindergruppen, gut ausgebildetes und besser bezahltes Personal. Wir brauchen überall Frauen und Männer, die sich als Vorbilder zur Verfügung stellen, ob in der Nachbarschaft, im Sport oder in der Politik.

Egal, ob ein Kind als Mädchen oder Junge geboren wird, beide Geschlechter haben ein Anrecht auf unsere Fürsorge und Solidarität – und wir alle, ganz gleich, ob wir selbst Kinder gezeugt oder geboren haben – müssen uns einmischen. Wer meint, es ginge ihn oder sie nichts an, täuscht sich: wir alle sind abhängig von den heute Kleinen. Sie werden darüber entscheiden, ob wir in Würde und Freude alt werden können. Denn in 30 Jahren werden die Kinder von heute als Frauen und Männer darüber bestimmen, wo öffentliche Gelder hinfließen und ob sie selbst noch bereit dazu sind, Kinder in diese Welt zu setzen.

Melitta Walterist Fachbeauftragte für Geschlechtergerechte Pädagogik der städtischen Kindertagesstätten in München.

Literaturhinweis
Melitta Walter
Jungen sind anders, Mädchen auch
Den Blick schärfen für eine geschlechtergerechte Erziehung
Kösel Verlag 2005, 240 Seiten
15,95 Euro

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