23 Jul fK 2/07 Trautner
Die Entwicklung der Geschlechtsidentität im Lebenslauf
von Hanns Martin Trautner
„Ein Junge!“ – „Ein Mädchen!“ So wird jeder neue Erdenbürger nach Inaugenscheinnahme seiner äußeren Geschlechtsmerkmale bei seiner Geburt begrüßt. Als Mädchen oder als Junge geboren zu werden hat Konsequenzen, die über die chromosomalen und hormonellen Unterschiede und die darauf basierende genitale Differenzierung weit hinausgehen. Sollte man aus der Kenntnis eines einzigen Merkmals den Lebensweg eines Menschen voraussagen, dürfte die Geschlechtszugehörigkeit das beste Kriterium sein. Fast jedes menschliche Verhalten und Erleben hat eine „geschlechtliche Färbung“. In allen Kulturen werden Menschen nicht nur in zwei Geschlechter eingeteilt, sondern mit dieser Einteilung verbinden sich eine Vielzahl von geschlechtsbezogenen Erwartungen oder Vorschriften. Dies gilt in unserer Gesellschaft zum Beispiel für Spielzeuge, Kleidung, Freizeitangebote, sowie Aufgaben in der Familie und im Beruf.
Nicht nur das Individuum selbst ist mit seiner Geburt lebenslang männlich oder weiblich (von den seltenen Fällen einer Geschlechtsumwandlung einmal abgesehen), sondern es wird auch in eine Welt hineingeboren, die nach männlich und weiblich unterschieden ist. Während die Natur bestimmt, ob wir männlich oder weiblich sind, legt die Kultur fest, was es bedeutet, weiblich oder männlich zu sein. Bevor ein Kind sich selbst als Junge oder Mädchen einordnet und erlebt, beginnt es, die Welt nach männlich und weiblich zu ordnen, und wird es von anderen als Junge oder Mädchen behandelt, d.h. er/sie macht geschlechtsspezifische Erfahrungen. Was es für einen bedeutet, männlich oder weiblich zu sein, und die in der sozialen Umwelt vorgefundene Geschlechterdifferenzierung sind eng miteinander verbunden.
Aufgrund der großen sozialen Bedeutung des Geschlechts eines Menschen ist es nicht verwunderlich, dass das Geschlecht für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Identität eines Individuums eine zentrale Rolle spielt. Welchem Geschlecht wir angehören, ist ein integraler Bestandteil dessen, wer wir sind, wie wir uns selbst erleben, und wie andere mit uns umgehen. Unter entwicklungspsychologischer Perspektive ist daher nicht nur die Entwicklung von Geschlechtsunterschieden im beobachtbaren Verhalten, in kognitiven Fähigkeiten oder in Persönlichkeitseigenschaften von Interesse, sondern auch, wie männliche und weibliche Individuen ihre eigene Geschlechtstypisierung und die Geschlechtstypisierung in ihrer sozialen Umwelt wahrnehmen und verarbeiten, und wie dies wiederum mit ihren Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Eigenschaften zusammenhängt.
Während die biologischen und die sozialen Geschlechterkategorien dichotom und invariant sind, handelt es sich bei den mit diesen Kategorien verbundenen physischen und psychischen Charakteristika um abgestufte Merkmale, d.h. für männliche und weibliche Individuen mehr oder weniger zutreffende Merkmale, die sich im Laufe der Entwicklung aufbauen und auch wieder verändern können. Ein Kind kann nur entweder ein Junge oder ein Mädchen sein, ein Erwachsener nur ein Mann oder eine Frau. Kinder und Erwachsene können jedoch sowohl feminine als auch maskuline Verhaltensweisen zeigen, wobei sich die einzelnen Kinder und Erwachsenen im Grad ihrer Maskulinität und Femininität unterscheiden.
Bei der Beschreibung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern ist entsprechend zwischen geschlechtsspezifischen und geschlechtstypischen Merkmalen zu unterscheiden. Geschlechtsspezifisch sollte ein Merkmal nur dann genannt werden, wenn es ausschließlich bei einem Geschlecht vorkommt. Dies trifft nur auf die wenigen direkt mit den spezifischen Funktionen der Geschlechter im biologischen Reproduktionsprozess verbundenen Merkmale zu (z.B. dass nur Frauen menstruieren, Kinder gebären und stillen können, nur Männer Kinder zeugen können; wobei letzteres im Falle des Klonens von Töchtern auch ohne Männer möglich sein wird). Geschlechtsspezifische Unterschiede sind somit bipolar-dichotom verteilt. Geschlechtstypisch sind hingegen alle Merkmale, die relativ häufiger oder stärker ausgeprägt bei einem Geschlecht vorkommen, d.h., statistisch ausgedrückt: die zwischen den Geschlechtern deutlich stärker variieren als innerhalb einer Geschlechtsgruppe. Psychische Variablen (Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften, soziales Verhalten u.ä.), aber auch die meisten physischen Variablen, sind, soweit überhaupt nachweisbare Geschlechtsunterschiede auftreten, geschlechtstypisch und nicht geschlechtsspezifisch verteilt.
Allgemein scheinen Gesellschaften dazu zu neigen, anstelle des bei den beiden Geschlechtern tatsächlich gegebenen Mehr-oder-Weniger physischer oder psychischer Merkmale ein striktes Entweder-Oder zu setzen. Angenommen, Frauen wären z.B. im Durchschnitt etwas stärker für die Kinderpflege geeignet als Männer und Männer etwas stärker an außerfamiliären Dingen interessiert als Frauen, so wird daraus leicht die Erwartung oder gar Forderung abgeleitet, nur Frauen sollten sich um die Kinderpflege, nur Männer sollten sich um außerfamiliäre Dinge kümmern. Die psychische Realität und das soziale Stereotyp können also auffällig voneinander abweichen.
Die Entwicklung der Geschlechtsidentität
Der Aufbau und die Veränderungen der Geschlechtsidentität im individuellen Lebenslauf sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels biologischer, sozialer und individueller Entwicklungsbedingungen. Am Anfang stehen die Festlegung des genetischen oder chromosomalen Geschlechts (XX oder XY) und die dadurch etwa ab der fünften Schwangerschaftswoche angeregte weibliche oder männliche Ausdifferenzierung der Gonaden (Ovarien oder Testes). Deren Hormonausschüttungen führen ab der zehnten bis zwölften Schwangerschaftswoche zur Ausbildung weiblicher oder männlicher innerer und äußerer Genitalstrukturen. An den äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen (dem morphologischen Geschlecht) wird dann bei der Geburt das soziale oder Erziehungsgeschlecht bestimmt.
Bereits die vor der Geburt stattfindenden Entwicklungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass die aufeinander folgenden Entwicklungsschritte in einem bestimmten zeitlichen Rahmen auftreten (müssen) und dass die jeweils vorangegangenen Festlegungen in weiblicher oder männlicher Richtung zu den späteren Zeitpunkten sozusagen bestätigt werden müssen, wenn die weitere Differenzierung in der einmal begonnenen Richtung fortgesetzt werden soll. Kommt es an irgendeiner Stelle zu einer Störung des normalen Entwicklungsverlaufs, d.h. geraten aufeinander folgende Stufen miteinander in Konflikt, kann der einmal eingeschlagene Weg unter Umständen eine andere Richtung nehmen.
Dieses Bild einer zeitlich festgelegten Kette ineinander greifender und aufeinander abgestimmter, d.h. in eine Richtung gehender Entwicklungsprozesse ist im großen und ganzen auch auf die weitere Entwicklung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter anwendbar. Eine biologisch determinierte, an bestimmte Zeitpunkte gebundene feste Abfolge von Entwicklungsschritten findet sich allerdings nur im Bereich der körperlichen Veränderungen (z.B. bei der Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und der Menarche in der Pubertät oder der Menopause). Die nicht unmittelbar mit den verschiedenen Funktionen der Geschlechter in der biologischen Reproduktion und den hormonellen Unterschieden verbundenen kognitiven, affektiven und verhaltensmäßigen Komponenten der Geschlechtsidentität sind in ihrem zeitlichen Ablauf und ihrer individuellen Ausprägung hingegen eher von den in den einzelnen Entwicklungsphasen gegebenen sozialen und individuellen Entwicklungsvoraussetzungen abhängig.
Sämtliche Entwicklungsprozesse im Zusammenhang mit den zuvor beschriebenen Entwicklungsaufgaben beginnen in den ersten Lebensjahren. In ihrem weiteren Verlauf folgen sie überindividuell gültigen Entwicklungssequenzen, die sich bestimmten Altersabschnitten zeitlich zuordnen lassen. Allerdings gibt es hinsichtlich der Entwicklungsgeschwindigkeit und der Ausprägung der einzelnen Komponenten der Geschlechtsidentität teilweise erhebliche interindividuelle Differenzen.
Null bis zwei Jahre
Was wissen Säuglinge und Kleinkinder über ihre eigene Geschlechtsidentität und diejenige anderer Menschen? – Zwar kann man Kinder in diesem Alter noch nicht befragen, man kann aber mit Hilfe experimenteller Methoden (z.B. der Habituationsmethode oder der Fixations-Präferenz-Methode) feststellen, welche kategorialen Unterschiede wahrgenommen und/oder präferiert werden. Aus derartigen Experimenten weiß man, dass Säuglinge ab dem dritten Lebensmonat, spätestens jedoch mit sechs Monaten, die Stimmen männlicher und weiblicher Erwachsener auseinander halten und mit neun bis zwölf Monaten männliche und weibliche Gesichter unterscheiden können. In diesem Alter wissen sie auch, welche Gesichter und Stimmen zusammengehören.
Aus Untersuchungen weiß man, dass bereits zehn bis 14 Monate alte Säuglinge bei der Betrachtung von simultan dargebotenen Filmen, auf denen Kinder des eigenen und des anderen Geschlechts zu sehen sind, Kinder des eigenen Geschlechts signifikant länger anschauen. Dies gilt insbesondere für Mädchen. Die zur visuellen Unterscheidung herangezogenen Merkmale sind in erster Linie die Haarlänge und die Kleidung, die Genitalien spielen für die Unterscheidung in diesem Alter noch keine Rolle.
In einer Untersuchung zeigte sich, dass 18 Monate alte Kinder Bilder von geschlechtstypischen Spielzeugen (Puppen bei Mädchen, Autos bei Jungen) länger ansahen als Bilder geschlechtsuntypischer Spielzeuge und auch Gesichter, die mit geschlechtstypischem Spielzeug gepaart waren, länger betrachteten. Lässt man Kinder eine Serie von Bildern oder Gegenständen in zwei Gruppen „für Jungen (Männer)“ und „für Mädchen (Frauen)“ sortieren, kann man überzufällige Trefferquoten am Ende des zweiten Lebensjahres oder früher beobachten. Allerdings sind Kinder in diesem Alter noch nicht in der Lage, die Frage „Bist Du ein Junge (Mädchen)?“ korrekt zu beantworten, oder Bilder, auf denen sie selbst zu sehen sind, zuverlässig nach der Geschlechtszugehörigkeit einzuordnen. Dies gelingt erst mit circa zweieinhalb bis drei Jahren.
Festzuhalten bleibt: Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres können Kinder die beiden Geschlechter klar unterscheiden und besitzen ein – zumindest rudimentäres – Wissen über Gegenstände und Verhaltensweisen, die zu den Geschlechtern passen. Bis dahin zeigen sie auch in ihrem Spielverhalten geschlechtstypische Spielzeugpräferenzen. Dabei zeichnen sich Jungen im Vergleich zu Mädchen durch eine stärkere Vermeidung geschlechtsuntypischen Spiels aus, während Mädchen früher als Jungen gleichgeschlechtliche Spielpartner bevorzugen.
Drei bis sechs Jahre
Die Unterscheidung der Geschlechter erfolgt zunächst auf der Grundlage äußerer Merkmale (insbesondere Haartracht, Kleidung und Stimme), und das Wissen über die Verhaltensunterschiede der Geschlechter ist noch sehr begrenzt. Bis ins dritte Lebensjahr werden männlich und weiblich (Junge/Mädchen bzw. Mann/Frau) wie Namen gebraucht, sie werden nicht als erschöpfende Klassen erkannt, in die alle Menschen eingeordnet werden können, ohne die Zugehörigkeit zu anderen Klassen (z.B. Erwachsene, Kinder, Schüler) auszuschließen. Es fehlt in diesem Alter auch noch das Verständnis der Geschlechtskonstanz über die Zeit und unabhängig von Wünschen oder Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes.
Die auffälligste Veränderung im Verlauf der nächsten drei Jahre ist die nun in allen Bereichen der Geschlechtstypisierung (Konzepte, Identität, Präferenzen, Verhalten) dramatisch anwachsende Bedeutung der Geschlechterkategorien. Sie lässt sich im Wesentlichen auf die in diesem Alter (weiter) zunehmende Tendenz zur Gruppierung von Dingen nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zurückführen, wofür sich die Geschlechterkategorien aufgrund ihrer Invarianz und ihrer sozialen Gewichtung in besonderem Maße eignen. Auch spielt eine Rolle, dass die Kinder allmählich erkennen, dass ihre Geschlechtszugehörigkeit durch den Wunsch nach einem Geschlechtswechsel, durch Veränderungen der äußeren Erscheinung oder die Äußerung geschlechtsuntypischen Verhaltens nicht berührt wird.
Nun erweitern die Kinder sehr schnell ihr Wissen über die in ihrer Kultur mit den beiden Geschlechtsgruppen assoziierten Attribute. Sie entwickeln die Überzeugung, dass bestimmte Gegenstände, Aktivitäten oder Eigenschaften besser zum einen als zum anderen Geschlecht passen. Die Entwicklung dieser Geschlechterstereotypen erfolgt bei Mädchen und Jungen etwa gleich schnell, und auch der Inhalt der Stereotypen weist große Ähnlichkeiten auf. Allerdings werden „gute“ Eigenschaften tendenziell eher der eigenen Geschlechtsgruppe zugeschrieben, unabhängig davon, ob diese Eigenschaften männlich oder weiblich stereotypisiert sind.
Kinder in diesem Alter assoziieren bereits auch bestimmte metaphorische Eigenschaften mit Männlichkeit und Weiblichkeit, ohne dass es dafür objektive Anhaltspunkte gibt. So klassifizieren sie z.B. Feuer, Blitze, Haie oder Gorillas, Stofftiere mit langen, gefährlich aussehenden Zähnen und Gegenstände, die groß, dunkel, spitz oder rau sind, als männlich bzw. „für Jungen“. Weiche, glatte und abgerundete Gegenstände, kleine oder zerbrechlich aussehende Objekte (wie z.B. Schmetterlinge, Entchen oder Wolken) oder Pastellfarben werden als weiblich bzw. „für Mädchen“ klassifiziert. Ein zorniger Gesichtsausdruck wird als männlich, ein fröhlicher als weiblich erlebt.
Auch die Wahl oder Ablehnung von Spielsachen oder Spielaktivitäten orientiert sich nun zunehmend am Kriterium ihrer Geschlechtsangemessenheit. Von nun an werden bevorzugt die sozialen Einflüsse verhaltenswirksam, die sich an die kindliche Geschlechtsidentität und die vorhandenen Geschlechterkonzepte assimilieren lassen. Bedingt durch die Unzulänglichkeiten des Denkens des Vorschulkindes (z.B. Zentrierung, fehlende Klassifikationsfähigkeiten) sind die Geschlechterkonzepte und die geschlechtsbezogenen Einstellungen und Präferenzen sehr rigide. In Situationen, wo außer der Geschlechtszugehörigkeit einer Person keine weiteren Informationen vorliegen, wird das Denken und Verhalten der Kinder von einer einfachen Theorie der Intragruppen-Ähnlichkeit und der Intergruppen-Verschiedenheit bestimmt. Die Geschlechterrollen werden außerdem eher den Bereichen absolut gültiger Naturgesetze oder moralischer Prinzipien zugeordnet als dem Bereich von kulturell vereinbarten sozialen Konventionen.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass, neben der Geschlechtsangemessenheit, allmählich auch die (gleiche) Geschlechtszugehörigkeit von Interaktionspartnern und Verhaltensmodellen für die Wahl und Bewertung von Aktivitäten und Objekten zunehmend wichtiger wird. In diesem Alter gewinnen daher auch geschlechtshomogene Gruppen als Kontext, in dem Kinder soziale Erfahrungen sammeln, immer größere Bedeutung. In diesen homogenen Mädchen- bzw. Jungengruppen entwickeln sich unterschiedliche (Spiel-)Kulturen. Ein Hauptunterschied ist, dass Jungen intensiver als Mädchen Dominanzhierarchien aufbauen und darauf aus sind, ihren Status zu sichern, was sich u.a. an den Themen von Rollenspielen oder beim Austragen von Konflikten zeigt. Die Segregation der Geschlechter wird dadurch gestützt, dass viele Mädchen die Spielweise der Jungen als zu grob und ungestüm empfinden und die Erfahrung machen, dass Jungen sich durch Mädchen weniger beeinflussen lassen als durch Jungen und als es Mädchen untereinander gewohnt sind.
Sieben bis elf Jahre
Zwischen sieben und elf Jahren steht weniger der Erwerb neuer Entwicklungsmerkmale als die Differenzierung des früher Erworbenen im Vordergrund, und es treten gegenüber universellen Entwicklungsveränderungen stärker individuelle Unterschiede des Entwicklungsverlaufs hervor. Neue Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit der Geschlechterdifferenzierung stellen sich erst wieder in der Adoleszenz.
Die sichere Unterscheidung zwischen äußerer Erscheinung und erschlossener Wirklichkeit und die Erkenntnis der genitalen Grundlage des Geschlechts als zwei zentrale Entwicklungsvoraussetzungen für ein volles Verständnis der Geschlechtskonstanz sind nun gegeben.
Bis zum Beginn des Grundschulalters haben sich die Geschlechtszuordnungen der Kinder hinsichtlich Spielzeugen, Aktivitäten und Berufsrollen weitgehend den kulturellen Geschlechtsrollenstandards angenähert. Etwas langsamer entwickelt sich das Wissen über geschlechtstypische Persönlichkeitseigenschaften. Ermöglicht durch weitere Fortschritte in der kognitiven Entwicklung (z.B. den Erwerb höherer Klassifikationsfähigkeiten, die Unterscheidung von Naturgesetzen, moralischen Prinzipien und sozialen Konventionen) werden die bislang rigiden Geschlechter-Stereotypen allmählich flexibler. Es wird erkannt, dass neben Geschlechtsunterschieden auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Geschlechtern existieren und dass geschlechtstypische Merkmale auch innerhalb eines Geschlechts variieren. Parallel dazu sind die Kinder auch besser in der Lage, zwischen geschlechtstypischen und geschlechtsneutralen Merkmalen zu unterscheiden.
Die Rigidität oder Flexibilität der kindlichen Geschlechtsrollen-Stereotype variiert außerdem mit dem jeweiligen Inhalt. Höhere Rigidität bzw. geringere Flexibilität findet sich: bei Merkmalen der Erwachsenenrolle im Vergleich zu Merkmalen der Kinderrolle, eher bei maskulinen als bei femininen Attributen, und eher bei Aktivitäten als bei Persönlichkeitseigenschaften. Auch in Bereichen, wo eine starke soziale Betonung der Geschlechterdifferenzierung zu beobachten ist (z.B. bei Spielzeugen oder bei Berufstätigkeiten) ist die Flexibilisierung der kindlichen Konzepte eher verlangsamt.
Während Vorschulkinder über die Eigenschaften und Vorlieben von Kindern oder Erwachsenen, die sie nicht kennen, ungeachtet anderer verfügbarer Informationen, fast ausschließlich auf der Grundlage des Geschlechts dieser Personen urteilen, können Grundschulkinder auch weitere, individuelle Informationen in ihr Urteil einbeziehen. Allerdings sind die Befunde uneinheitlich, ob damit einhergehend die Akzeptanz geschlechtsuntypischer Aktivitäten während der mittleren Kindheit ansteigt. Es gibt auch Untersuchungsergebnisse, die auf eine Verfestigung der Ansichten über geschlechtstypisches und -angemessenes Verhalten sowie eine Abnahme der Toleranz gegenüber Abweichungen von traditionellen Geschlechtsrollen in diesem Alter deuten.
Lässt sich die Entwicklung der Geschlechtsidentität im Vorschulalter hauptsächlich durch die starke Zunahme der Bedeutung der Geschlechterkategorien und die ausgeprägte Rigidität der geschlechtsbezogenen Konzepte und Einstellungen charakterisieren, so zeichnet sich die Entwicklung im Grundschulalter vornehmlich durch eine Differenzierung der kindlichen Konzepte und Einstellungen und deren allmähliche Flexibilisierung aus. Dabei bleibt allerdings die herausgehobene Bedeutung der Geschlechterkategorien insbesondere in den Ich-nahen Bereichen (dem Selbstkonzept eigener Maskulinität-Femininität und den für die personale Identität als wichtig erachteten Personen, Dingen und Aktivitäten) weitgehend erhalten oder verstärkt sich sogar noch. Von der zunehmenden Flexibilisierung ausgenommen sind die Tendenz zur Geschlechtersegregation und die negative Bewertung von anderen Kindern mit geschlechtsabweichendem Verhalten.
Geschlechtsidentität in der Adoleszenz
Über die weitere Entwicklung der verschiedenen Komponenten der Geschlechtsidentität in der Adoleszenz ist weniger bekannt als über die zuvor geschilderten Entwicklungsprozesse im Kindesalter. Dabei ist die Geschlechterdifferenzierung in männlich und weiblich, wie bereits in der Kindheit, auch im Jugendalter ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung. Im Vergleich zu den vorangehenden Jahren (der Latenzphase) gewinnt die Geschlechtsvariable sogar eher wieder eine erhöhte Bedeutung.
Die Entwicklung der Geschlechtsidentität im Jugendalter ist auf dem Hintergrund der in dieser Zeit erhöhten Selbstaufmerksamkeit und zunehmenden Beschäftigung mit der eigenen Person zu sehen (Wer bin ich? Wo komme ich her? Was soll ich, was könnte ich werden? Wie gut bin ich? Wie sehen mich die anderen?). Damit wird die Gewinnung einer personalen Identität, wovon die Geschlechtsidentität ein wesentlicher Teil ist, zu einer zentralen Entwicklungsaufgabe dieser Entwicklungsperiode.
Mit der Pubertät und den in dieser Zeit eintretenden körperlichen Veränderungen (Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale, Auftreten sexueller Triebregungen, Menstruation, Pollution) stellen sich nun neue Entwicklungsaufgaben, die zu einer allmählichen Verschiebung der zentralen Inhalte der Geschlechtsidentität führen. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität im Jugendalter ist daher nur teilweise als kontinuierliche Fortsetzung der Kindheitsentwicklung zu betrachten. Erhalten bleiben die globale Geschlechtsidentität (das Selbsterleben als männlich oder weiblich) und das Wissen über die kulturellen Definitionen der Maskulinität und Femininität. Auch die bevorzugte Orientierung an der eigenen Geschlechtsgruppe dominiert weiterhin. Für die nun erforderliche Anpassung an die physiologischen und psychologischen Aspekte der sexuellen Reifung reichen die während der Kindheit erworbenen Merkmale der Geschlechtsidentität aber nicht mehr aus. Folgende Inhalte und Kontexte der Geschlechtsidentität werden im Jugendalter – teilweise zum ersten Mal – thematisiert:
(1) die Akzeptierung des eigenen männlichen bzw, weiblichen Körpers; (2) der Aufbau einer sexuellen Orientierung; (3) die Aufnahme neuartiger Beziehungen zu Gleichaltrigen; (4) die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechtsrollen; (5) die Ausbildung schulischer und beruflicher Interessen und (6) die Vorbereitung auf die (überwiegend geschlechtstypisch verteilten) familiären und beruflichen Rollen.
Oft zentrieren sich die Selbstwahrnehmung und die Selbstbewertung in diesem Alter auf die Frage der Akzeptierung durch die anderen und die Frage der eigenen Attraktivität für Angehörige des anderen Geschlechts. Dabei gilt auch heute noch, dass das Aussehen für Mädchen wichtiger ist als für Jungen, wobei sicher auch die größere Sichtbarkeit (z.B. Brüste als Sexualreiz) eine Rolle spielt.
Hormonell bedingt werden in der Pubertät die physischen Geschlechtsunterschiede markanter. Außerdem findet die körperliche Reifung bei Mädchen etwa zwei Jahre früher statt als bei Jungen, was die Aufrechterhaltung bzw. Bildung gleichgeschlechtlicher Freundschaften unter Gleichaltrigen fördert. Allerdings gibt es hinsichtlich der hormonellen Differenzierung und dem Alter der sexuellen Reifung erhebliche interindividuelle Unterschiede innerhalb der Geschlechtsgruppen. Je nach der Übereinstimmung oder der Abweichung von tatsächlichem Reifegrad und Selbsterleben bzw. Idealselbst können die eintretenden Veränderungen als positiv oder als belastend erlebt werden.
Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter
Die weitere Entwicklung der Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter wird vor allem durch die Auseinandersetzung mit drei neuen Entwicklungsaufgaben beeinflusst: (1) dem Eingehen einer dauerhaften Partnerbeziehung; (2) der Ausfüllung einer Berufsrolle und (3) der Übernahme elterlicher Pflichten. Hierzu sind die aus der Kindheit und Jugend mitgebrachten Verhaltenstendenzen (die Tendenz zur Geschlechtersegregation, geschlechtstypische Interaktionsstile und das Dominanzgefälle zwischen den Geschlechtern) entsprechend den neuen Anforderungen zu transformieren. Die in früheren Jahren in den geschlechtshomogenen Gruppen von Gleichaltrigen aufgebauten Interaktionsmuster erweisen sich dabei in den Beziehungen zu Angehörigen der eigenen Geschlechtsgruppe zwar weiterhin als brauchbar, sind aber für die Interaktionen mit Angehörigen der anderen Geschlechtsgruppe in den neuen Rollen als liebender Partner, Arbeitskollege und Eltern weniger geeignet.
Die heute noch immer vorhandene starke Rollendivergenz von Männern und Frauen in Beruf und Familie führt dazu, dass die Geschlechtsidentität erneut eine besondere Bedeutung für die erwachsene Persönlichkeit erhält, mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten für die beiden Geschlechter, und zwar relativ unabhängig von den psychischen Voraussetzungen der Beteiligten. Für die weibliche Identität ist traditionell die Rolle als Frau und Mutter zentral, für die männliche Identität die Rolle des Geldverdieners. Durch diese Rollenvorgaben wird der Verhaltensspielraum von erwachsenen Frauen und Männern weit stärker festgelegt als dies durch die Geschlechterrollen in der Kindheit der Fall war. Was in der Kindheit nur unterschiedliche Interaktionsstile von Jungen und Mädchen waren, wird nun zu strukturellen Unterschieden der sozialen Positionen von Männern und Frauen.
In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich – vor allem in den USA und Westeuropa – ein allmählicher sozialer Wandel zumindest der Frauenrolle ab. Folgende Veränderungen lassen sich beobachten: eine stärkere Ausrichtung auf den Beruf, insbesondere auf höhere Ausbildungsgänge, ein Hinausschieben des Heiratsalters und ein Absinken der Kinderzahl, sowie die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung oder Berufstätigkeit nach einer Phase der Hausfrauentätigkeit bis ins mittlere Lebensalter. Komplementäre Veränderungen der Männerrolle, mit Ausnahme vielleicht einer stärkeren Beteiligung von Vätern an der Kindererziehung, sind nicht festzustellen.
In der zweiten Lebenshälfte scheint dann eine gewisse Annäherung der beiden Geschlechter in ihrer Geschlechtsidentität stattzufinden. Aus evolutionsbiologischer Perspektive ließe sie sich auf den in diesem Lebensabschnitt, d.h. nach der Reproduktionsphase nicht mehr notwendigen ausgeprägten Geschlechterdimorphismus zurückführen.
Der Artikel ist die stark gekürzte und veränderte Fassung eines Beitrages in: Rolf Oerter und Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Lehrbuch. Weinheim, Beltz Verlag 2002. (5. Auflage). Wir danken dem Verlag für die Genehmigung.
Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Die Literaturhinweise sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Hanns Martin Trautnerhat den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologe und Pädagogische Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal.
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