fK 2/07 Focks

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Typisch Mädchen?

Wie Mädchen in Familie und Kindergarten unterstützt werden können

von Petra Focks

Mädchen sind sensibel, wortgewandt, wild und selbstbewusst. Der Beitrag zeigt auf, wie Eltern und Erzieher(innen) Mädchen unterstützen können, sich nach ihren Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln, damit nicht Klischees vom typischen Mädchen die Entwicklung behindern.

In einer psychologischen Untersuchung wurde zwei Gruppen von Erwachsenen dasselbe Baby gezeigt. Der einen Gruppe sagte man, es handele sich um einen Jungen, der anderen, es sei ein Mädchen. Erstaunlich, wie die Testpersonen reagierten: Die einen, die von einem Jungen ausgingen, beschrieben das Baby als kräftig, stark und unruhig, die anderen dagegen, die von einem Mädchen ausgingen, als lieb, hübsch, artig und ruhig.

Wie kommt diese Fehlleistung zustande? Die Untersuchung zeigt, wie sehr bereits unsere Wahrnehmung beeinflusst wird von kulturell-gesellschaftlichen Vorstellungen vom „typischen Jungen“ und „typischen Mädchen“ und unseren Blick verstellt für das wirkliche Verhalten von Kindern.

Schon in den ersten Lebensphasen beeinflussen – oft unreflektiert und ungewollt – überkommene Geschlechterstereotype die Reaktionen auf Verhaltensweisen von Kindern. Es ist die angenommene Geschlechtszugehörigkeit, die entscheidend für die Verhaltens- und Eigenschaftsbeschreibungen ist, wie die folgenden Beispiele zeigen: Die Mutter hält den einzigen männlichen Erzieher im Kindergarten für den Leiter der Einrichtung; der Vater identifiziert das aggressive und laute Kind im Kindergarten sofort als „Junge“.

Im Alltag werden die biologischen Geschlechtsunterschiede häufig zum Anlass genommen, an das Verhalten von Mädchen und Jungen unterschiedliche Erwartungen zu stellen und sie unterschiedlich zu erziehen. Stereotype vom typischen Mädchen und vom typischen Jungen können so – unbewusst und ungewollt – bestätigt und sogar verstärkt werden. Je nach Perspektive sind Mädchen einfühlsam und sozial kompetent oder eben „zickig“ und passiv. Jungen sind dann entsprechend entweder durchsetzungsfähig und offensiv oder unsensibel und rücksichtslos. Indem wir vor allem die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen wahrnehmen, gerät uns häufig aus dem Blick, wie groß die Unterschiede unter Mädchen sind oder wie unterschiedlich Jungen sind.

Risiken einer geschlechtstypischen Entwicklung
Wenn Eltern oder Erzieher(innen) versuchen, beide Geschlechter gleich zu erziehen und allen Kindern dieselben Spielsachen anzubieten, stellen sie häufig fest, dass eine Entwicklungsphase kommt, in der viele Mädchen Glitzer und Puppen und Jungen nur noch Autos lieben. Wie ist dies zu erklären? Da Mädchen und Jungen im Kindergartenalter ihre geschlechtlichen Identitäten entwickeln, können sie Uneindeutigkeiten noch nicht zulassen. Sie praktizieren die Geschlechterdifferenzen deutlicher, weil ihnen das die Zuordnung erleichtert. Mit Begeisterung stürzen sich viele Kinder auf die angebotenen Rollen – so lieben viele Mädchen zunächst einmal Rosa und Puppen, genauso wie viele Jungen Autos und Toben mit anderen. Sie zeigen damit, dass sie gelernt haben, wie Mädchen und Jungen sein sollen. Mädchen und Jungen imitieren Gesehenes, übertreiben es und setzen vor allem auch eigene Impulse. Dabei probieren sie aus, inwieweit das vorgegebene, vorgelebte und erwartete Verhalten mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu vereinbaren ist und wie die Umwelt reagiert, wenn sie Geschlechterzuweisungen überschreiten.

Wenn Kinder während dieser Zeit nicht darin bestärkt werden, ihr Mädchen- oder Junge-Sein so auszuleben, wie es ihnen entspricht, wenn ihnen keine Spielräume in der Identitätsentwicklung ermöglicht und keine Alternativen zu herkömmlichen Geschlechterrollen geboten werden, orientieren sie sich oft an den traditionellen Bildern von Frauen und Männern. Dies führt zu Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen und kann sich negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirken:

Risiken für den „typischen Jungen“
Um dem Geschlechterstereotyp vom „starken Jungen“ zu genügen, überschätzen manche Jungen beispielsweise ihre körperlichen Möglichkeiten und riskieren häufig nicht nur Schrammen, sondern sogar Verletzungen bei sich und anderen. Sie lernen, dass Angst, Hilflosigkeit und Schwäche „nicht zu Jungen und Männern gehört“ und spalten diese Gefühle von sich ab.

Risiken für das „typische Mädchen“
Auf der Mädchenseite zeigt sich teilweise bereits im Kindergarten ein selbsteinschränkendes Verhalten: Die Mädchen leben ihre Bedürfnisse nach Aktivität oder raumgreifendem Verhalten häufig nicht aus, weil „Mädchen eben nicht so sind“. Ihre Aggression und auch ihre Konfliktbewältigungsversuche richten sich bei einigen Mädchen zunehmend „nach innen“, teilweise sogar gegen den eigenen Körper.

Soziale Ungleichheiten gibt es noch immer
Heutzutage haben Eltern kaum andere Erwartungen an ihre Söhne als an ihre Töchter. Sie wünschen sich beispielsweise für ihr Kind, dass es sozial kompetent, durchsetzungsfähig, klug und einfühlsam ist. Neben diesen Vorstellungen der Erwachsenen beeinflusst jedoch vor allem die Beobachtung konkreter Verhaltensweisen von Frauen und Männern (Modellfunktion) die Entwicklung von Mädchen und Jungen. Vor allem die erlebte Aufgaben- und Arbeitsteilung der Geschlechter und die Beziehungen zwischen Frauen und Männern spielen eine wichtige Rolle.

Kinder erleben, dass Frauen eher für den Bereich der Fürsorge, der Pflege und der Be- und Erziehungsarbeit zuständig sind und somit auch in der Familie und im Kindergarten für Mädchen und Jungen als primäre Bezugspersonen anwesend sind. Zugleich erleben sie, dass Männer eher die entscheidenden Positionen in Politik, Kultur und Wirtschaft innehaben. So ist z.B. in den westlichen Gesellschaften die Beteiligung der Männer an der Kinderversorgung eher gering, in Deutschland werden nur zwei bis drei Prozent der Elternzeit von Männern genommen.

Frauen sind zwar im Prinzip heute überall präsent, aber umso deutlicher unterrepräsentiert, je höher die entsprechenden Positionen sind und je mehr Machtbefugnisse sie beinhalten. Auch Erzieherinnen erleben die sozialen Ungleichheiten am eigenen Leib, indem sie mit hohen, immer neuen Anforderungen im Berufsalltag umgehen müssen und zugleich mit den niedrigen Gehältern, den fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten sowie dem geringen sozialen Ansehen.

Wie Mädchen unterstützt werden können
Modellfunktion der Erwachsenen bewusst erweitern

Worauf Väter achten können: Da vor allem die erlebte Aufgaben- und Arbeitsteilung der Geschlechter wesentlich ist für das, was Mädchen und Jungen als weiblich und männlich betrachten, sollten sich Eltern die Hausarbeit partnerschaftlich teilen. Es ist wichtig, dass der Vater sich aktiv an der Erziehung beteiligt und viel Zeit mit seiner Tochter verbringt. Es ist gut für das Selbstbewusstsein der Tochter, wenn er dabei signalisiert: ich liebe dich so, wie du bist und ich traue dir etwas zu. Denn gerade im Baby- und Kleinkindalter gehen Eltern mit einem Mädchen oft übervorsichtig um und behüten es mehr als den Jungen.

Worauf Mütter achten können: Frauen werden gegenwärtig mit vielen Anforderungen und Rollen konfrontiert: die berufstätige und erfolgreiche Frau, die zugleich Mutter und Hausfrau ist und dabei attraktiv und immer gut gelaunt. Diese Vorstellungen übernehmen Mädchen leicht, doch die ungeheure Anstrengung, die dahinter steckt, können sie nicht erkennen. Deshalb sollten Töchter beobachten dürfen: Mama lässt auch mal „fünfe gerade sein“ und mag sich selbst so, wie sie ist. Außerdem ist entscheidend, dass Mädchen erfahren, dass ihre Mama nicht ganz im Muttersein verschwindet, sondern auch eigene Interessen hat, sich in Konflikten durchsetzen kann und sich den Haushalt mit dem Mann teilt.

Worauf Erzieher(innen) achten können: Erzieher(innen) können in der Einrichtung – je nach Interessen und Fähigkeiten – auch eher geschlechtsuntypische Tätigkeiten übernehmen, indem z.B. der Erzieher die Windeln wechselt oder das Kind tröstet und die Erzieherin notwendige Reparaturen übernimmt und mit den Kindern Fußball spielt.

Eigene Vorstellungen vom „typischen Mädchen“ reflektieren
Damit nicht unreflektierte Vorstellungen über das „richtige“ Mädchen und den „richtigen“ Jungen und überkommene Annahmen zu den Geschlechterverhältnissen unser erzieherisches Handeln beeinflussen, ist es unerlässlich, sich mit dem eigenen Frau- bzw. Mann-Sein und den eigenen Vorstellungen von Mädchen auseinander zu setzen: „Was mag ich an Mädchen, was stört mich?“ Welche Vorstellungen habe ich davon, wie Mädchen sind?

Eine Frau kann ein Mädchen besser verstehen, weil sie selbst einmal ein kleines Mädchen war. Darin liegt eine große Chance als Mutter und als Erzieherin, aber auch die Gefahr, dass die eigenen Bedürfnisse und Interessen auf das Mädchen übertragen werden. Vielleicht interessiert sich das Mädchen nicht fürs Basteln zuhause oder im Kindergarten, sondern eher fürs Buddeln im Hof.

Geschlechtstypisches Verhalten im Alltag hinterfragen
Wichtig ist, nicht nur zu sehen, wo sich Mädchen „typisch“ verhalten, sondern auch jene Seiten wahrzunehmen, die nicht dem Klischee entsprechen. Es gibt sicher zurückhaltende und ruhige Mädchen. Aber auch genauso viele kleine tobende Mädchen, die sehr energisch sind und wissen, was sie wollen. Manche scheinbar weibliche oder männliche Eigenschaft ist eher eine Frage des Temperaments. Es fördert die Entwicklung, wenn Eltern und Erzieher(innen) alle Interessen und Eigenschaften des Mädchens annehmen können und mit ihr das Dreirad reparieren, mit ihr toben oder die Geschirrspülmaschine ausräumen. Kleinkinder lieben es auch einfach mitzumachen und brauchen dazu kein Spielzeug.

Seiten fördern, die vernachlässigt werden
Es ist gut, wenn Mädchen viele unterschiedliche Erfahrungen sammeln. Denn nur so können sie frei entscheiden, was ihnen am besten gefällt und was ihnen liegt. Diese Erfahrungen können ihnen zuhause und im Kindergarten ermöglicht werden:
– Konflikte sind wichtig: Mädchen sollten dazu angeregt werden, ihre Wünsche zu äußern oder sich in Konflikten durchzusetzen. Am Anfang, wenn es z.B. Streit auf dem Spielplatz gibt, müssen Eltern und Erzieher(innen) noch helfen. Aber schnell lernen auch die jungen Kinder, sich auch alleine durchzusetzen und Konflikte zu lösen. – Aggressionen gehören dazu: Es ist gut, wenn Mädchen früh mitbekommen, dass Aggressionen dazugehören und sein dürfen. Denn Gefühle verschwinden nicht nur, weil wir sie nicht wollen. Wenn Mädchen ihre Wut unterdrücken, besteht die Gefahr, dass sie ihre Aggressionen irgendwann gegen sich selbst richten. Eltern und Erzieher(innen) können Mädchen ruhig dazu anregen ihre Wut auszuleben, aber ohne andere zu verletzen.
– Toben macht schlau: Mädchen sollten gefördert werden, sich Raum zu nehmen und körperlich auszutoben. Mädchen können z.B. Angebote gemacht werden, die sie dabei unterstützen: Sie bewegen sich in einem Raum, laufen, rennen, trampeln, mal laut und mal leise; sie stellen sich hin und versuchen stehen zu bleiben, auch wenn ein anderes Mädchen versucht sie „umzuschubsen“, sie messen ihre Kräfte und erproben ihre Standfestigkeit. Auch Eltern können mit ihrer Tochter toben. Dies ist wichtig um die eigenen Kräfte einschätzen zu lernen und stärkt das Selbstbewusstsein.
– Technik ist Mädchensache: Die Interessen von Mädchen an technischen Zusammenhängen und im Umgang mit technischen Geräten (Computer etc.) sollten gefördert werden. Auch kleinere Mädchen lassen sich dafür begeistern.

Beteiligung für mehr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung
Zuhause: Mitsprache ist auch bereits für Kinder im Kleinkindalter erwünscht. „Gehen wir heute zu Luzie in den Garten oder lieber auf den Spielplatz.“ Es fördert das Selbstbewusstsein, wenn Mädchen merken, dass ihre Meinung gefragt ist und sie etwas zu sagen haben.

Im Kindergarten: Kinderkonferenzen sind zwar eine gute Möglichkeit, Kindern in der Einrichtung einen Raum zu bieten, ihre Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken zu können. Je jünger die Kinder jedoch sind, desto mehr müssen Beteiligungsformen gefunden werden, die auf gemeinsamem Handeln im Spiel oder in Alltagssituationen beruhen. Eine Möglichkeit, bereits kleinere Kinder zu beteiligen, besteht darin, mit den Kindern gemeinsam Aufgaben zu verteilen. Zu beachten sind hierbei das Prinzip Freiwilligkeit, die unterschiedlichen Fähigkeiten sowie die Veranschaulichung des Sinns der Aufgaben. Durch Aufgaben, wie Tisch abwischen, für Kassetten bzw. CD’s zuständig zu sein, den Computer ein- bzw. auszuschalten, können Mädchen und Jungen eine gleichwertige und auch geschlechtsuntypische Verteilung von Tätigkeiten erleben. Und so können bereits kleinere Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Auch in die Raumgestaltung können die Vorstellungen, Bedürfnisse und Interessen der Kinder einbezogen werden. So können zum Beispiel geschlechtstypische Funktionsecken vermieden und Gruppen geöffnet werden. Außerdem ist es sinnvoll zu überlegen, welche Räume überwiegend von Jungen und welche von Mädchen genutzt werden und ob Mädchen dabei von Jungen aus Bereichen gedrängt bzw. Jungen von Mädchen aus bestimmten Bereichen gedrängt werden.

Um (gleiche) Beteiligungschancen zu ermöglichen, ist es wichtig, Formen der Partizipation zu entwickeln, die den einzelnen Kindern in der Gruppe, ihrem Entwicklungsstand, ihren Lebenswelten und ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen und -möglichkeiten entsprechen. Denn diese unterscheiden sich nicht nur individuell oder nach Entwicklungsstand des Kindes, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen. Die Ausdrucksformen und -möglichkeiten sind daher nicht nur alters-, sondern auch schicht-, geschlechts- und kulturspezifisch beeinflusst.

Hier zeigt sich auch, dass es nicht „das“ Mädchen gibt. Wenn wir im Alltag wahrnehmen, wie unterschiedlich Mädchen sind, können wir sie auch darin unterstützen, sich nach ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln – jenseits aller Klischees vom typischen Mädchen.

Prof. Dr. Petra Focks ist Hochschullehrerin für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin.

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