fK 2/07 Brock

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Mit Liebe auf die Jungen schauen

Plädoyer für eine jungengerechtere Bildungs- und Erziehungsarbeit

von Inés Brock

Das deutsche Bildungssystem ist nicht auf die besonderen Fähigkeiten und Stärken von Jungen abgestimmt. Alle Leistungsvergleiche (vgl. PISA, IGLU) der letzten Jahre belegen einen Zustand, der sich bereits an den Bildungsverläufen von Jungen ablesen lässt. Jungen bleiben häufiger sitzen, sind an Haupt- und Sonderschulen überrepräsentiert, verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss und sind den Mädchen in den Leistungen unterlegen. Hinzu kommt noch, dass Jungen selbst bei gleichen Leistungen gegenüber Mädchen in der Zensierung benachteiligt werden.

Wenn Jungen im Verlauf ihrer Bildungskarriere weniger erfolgreich sind, muss nach den Ursachen gefragt werden. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind inzwischen unstrittig. Hirnforschung und Entwicklungspsychologie sind sich einig: In der Wahrnehmung, Reizverarbeitung und im Verhalten sowohl individuell als auch in Gruppen reagieren Jungen anders als Mädchen, bevorzugen Jungen andere Konfliktlösungsstrategien als gleichaltrige Mädchen. Es fehlt aber noch immer eine angemessene pädagogische Strategie, den Entwicklungsbesonderheiten von Jungen in den Institutionen entgegenzukommen.

Die Kindheit hat sich verändert
Die Umwelt, in der Kinder aufwachsen, hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert. Spielorte sind vielfach nur noch Inseln in einer insgesamt wenig auf die Bedürfnisse von Kindern abgestimmten urbanen Lebenswelt. Nur noch 14 Stunden in der Woche verbringt ein Kind durchschnittlich draußen. Die Wohnung mit ihrer Medienverführung wird neben den pädagogischen Institutionen zum Hauptaufenthaltsort Heranwachsender. Darunter leiden vor allem diejenigen Jungen, deren genetische Veranlagung und hormonelle Prägung so ausgerichtet ist, dass die Orientierung auf körperliche Herausforderungen und Bewegung dominiert. Jungen brauchen Gruppen mit Hierarchien, Sinneserlebnisse und Körperabenteuer. Unter Gleichaltrigen wird körperbetontes und räumlich ausgerichtetes Spiel bevorzugt.

Diese geschlechtsspezifischen Besonderheiten, die sowohl in der Hirnstruktur als auch im Verhalten nachweisbar sind – und das weit bevor irgendeine gesellschaftliche Konditionierung und Sozialisation einsetzen kann bereits im Mutterleib und in der frühen Säuglingszeit –, führen zu großen Schwierigkeiten, im Bildungssystem erfolgreich zu sein. Mädchen sind eher auf Sprache und Kommunikation, Teamarbeit und Beziehungsgestaltung programmiert, was ihnen Vorteile in ihrer schulischen Laufbahn verschafft. Insgesamt sind zunehmend diese eher weiblichen Attribute in der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gefragt. Bisher haben weder die Eltern noch die Professionellen einen Weg gefunden, die Jungen mitzunehmen in diese veränderte Welt der Kindheit im 21. Jahrhundert. Das zeigt sich an den Symptomen, die Jungen entwickeln.

Jungen zeigen sich unangepasst
Die Dominanz eher unangepasster Verhaltensweisen und die überwiegend negative Rückmeldung der Erwachsenengesellschaft treffen bei den männlichen Kindern auf einen Mangel an Selbstreflexionsfähigkeit und eine Empfindsamkeit, die hinter der robust wirkenden Fassade nur schwer zu erkennen ist. Zudem fehlen männliche Vorbilder und Erziehungsziele für Jungen. Die Folgen sind dramatisch.

Jungen stellen zwei Drittel der Patienten in Sozialpädiatrischen Zentren, entwickeln dreimal häufiger aggressive Verhaltensauffälligkeiten und sind die meisten Patienten bei ADS/ADHS – zwei von drei. Bei Drogenkonsum und Gewaltdelikten dominieren die männlichen Straftäter. Inzwischen kann man sogar davon sprechen, dass es ein Gesundheitsrisiko geworden ist, ein Junge zu sein. Männliche Jugendliche verursachen nicht nur sechsmal so viele Unfälle sondern sie sterben auch doppelt so häufig, sie sind nicht nur Täter sondern auch die Opfer von Gewalt und sie begehen bis zum 20. Lebensjahr dreimal so häufig Selbstmord wie Mädchen.

Die Normen, die sich im Bildungssystem und auch im öffentlichen Alltag durchgesetzt haben, nehmen die speziellen Bedürfnisse von Jungen nicht ausreichend auf. Weibliches Verhalten gilt als vorbildlich, Jungen werden an dieser Norm gemessen. Nur wenige Pädagogen und Pädagoginnen erkennen die Bedürftigkeit, die hinter dem Verhalten von Jungen steckt. Zu schnell wird eine Normabweichung pathologisiert und das Kind ausgegrenzt und abgestuft. Wie stark die individuellen Anlagen sich entwickeln, wie Jungen auf die veränderte gesellschaftliche Realität reagieren und ob sich eine Störung im persönlichen Gleichgewicht verfestigt, all das ist durch Verständnis und Anerkennung der besonderen Fähigkeiten von Jungen beeinflussbar.

Lernprozesse ignorieren die Stärken von Jungen
Die Stärken von Jungen liegen in der räumlichen Vorstellungskraft, in Risikobereitschaft, grobmotorischen Fertigkeiten und navigatorischen Fähigkeiten. Bisher können Jungen damit die Stärken der Mädchen nicht ausgleichen, denn der Kompetenzvorsprung der Mädchen im Lesen ist dreimal so groß wie der Vorsprung der Jungen bei Mathematik und Naturwissenschaften. Wenn unser Bildungssystem angemessener mit den Herausforderungen durch männliche Kinder und Jugendliche umgehen will, ist es überfällig, über die partielle Auflösung der Koedukation nachzudenken. Nicht nur im Sexualunterricht macht es Sinn, Jungen und Mädchen getrennt zu unterrichten. Insbesondere in den Naturwissenschaften sind die kognitiven Strategien von Jungen und Mädchen unterschiedlich. Wie kann den Jungen also geholfen werden, ihre speziellen Begabungen auch in der Schule in Leistung umzusetzen?

Schulerfolg durch getrennte Lernräume
Ich werbe für ein neues Verständnis von Gleichberechtigung, das eher die gleiche Wertschätzung für Unterschiede beinhaltet als einheitliche Standards für alle proklamiert. Modelle auch in Deutschland haben bewiesen, dass getrennte Lern- und Kommunikationsräume für Jungen und Mädchen dem individuellen Schulerfolg und der Klassenatmosphäre zugute kommen. Letzten Endes profitieren auch die Mädchen von einer teilweisen Trennung von den Jungen im Unterricht, weil sie dadurch auch ihre Bedürfnisse besser ausleben können. In der Freizeit geschieht diese Trennung ja bereits völlig problemlos.

Mittelfristig muss auch eine grundlegende Überarbeitung der schulischen Alltagsgestaltung erfolgen. Ein Wechsel von Ruhe und Bewegung, Krach und Stille, Konzentration und Träumerei mit klarer Struktur und individueller Toleranz, zwischen diesen Polen entwickelt sich die Schule der Zukunft als Lern- und eben auch als Lebensort. Viele Schulen sind da bereits auf dem richtigen Weg der individuellen Förderung. Dem Bildungswesen insgesamt fehlt jedoch eine geschlechtsspezifische Gesamtstrategie. Die Dimension des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Jungen und Mädchen wird noch viel zu wenig thematisiert.

Eine Gefahr für die Gesellschaft
Wenn Jungen und junge Männer nur Misserfolgserfahrungen machen, dann entsteht eine auch historisch unberechenbare Dynamik, die der Gesellschaft insgesamt schadet. In den für Rechtsextremismus zugänglichen Jugendmilieus vor allem im ländlichen Raum entsteht bereits eine gefährliche Mischung aus Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft. Dort sind junge Männer mit niedrigen Bildungsabschlüssen auch die Verlierer auf dem Partnerschaftsmarkt, denn junge Frauen suchen sich erfolgreichere Männer. Auch zeigen sich die Mädchen mobiler und wandern dem sozialen Aufstieg hinterher. Bereits jetzt leben in ländlich dominierten Regionen deutlich weniger junge Frauen als Männer. Diese sehr individuelle Abwertung, die männliche Jugendliche erleben, trägt zusätzlich zur Desillusionierung bei. Wenn wir diese jungen Menschen nicht aufgeben wollen, brauchen wir eine mehrgleisige Strategie.
• Männliche Jugendliche, die bereits vom sozialen Abstieg erfasst sind, brauchen konkrete und attraktive Angebote, die sie aus den gewaltbereiten Milieus herausholen. Hier gilt Hilfe vor Strafe.
• Schüler in der mittleren Kindheit, die bereits Misserfolgserfahrungen gemacht haben, brauchen eine spezielle, auch individuelle Förderung. „Wir lassen keinen zurück.“ Darf nicht nur eine Floskel sein.
• Den kleineren Jungen zu Beginn ihrer Schullaufbahn muss deutlicher in Lehrmethodik und Lernstoff entgegen gekommen werden. Da gilt Prävention vor nachsorgender Jugendhilfe.

Schule muss sich ändern
Moderne Pädagogik muss die Zahlen über die Misserfolge von Jungen als deutliche Symptome ernster nehmen. Es ist höchste Zeit, sich mit diesen Ungleichgewichten auseinanderzusetzen.

Wenn man sich die Bildungsbiographien von Jungen genau anschaut, fällt auch auf, dass es vor allem die ersten Lebensjahre sind, in der sie fast ausschließlich von weiblichen Lehrkräften und Erzieherinnen begleitet werden. Männliche Identifikationsangebote fehlen weitestgehend. Auch zu Hause sind es oft die Mütter, die den Hauptteil der Erziehungsverantwortung übernehmen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass all diese Frauen ihre Arbeit einfühlsam und liebevoll gestalten, fehlt die Herausforderung an die spezifischen Neigungen von Jungen.

Männliche Problemlösungskompetenz ist eine andere als die weibliche. Jungen brauchen eine deutlich stärkere Orientierung auf körperliche Aktivität und klare Strukturen. Ihre Lebendigkeit erfordert eine andere Auseinandersetzung mit der Umwelt als sie Mädchen angemessen ist. Deshalb ist es so wichtig, auch die Umgebung so zu gestalten, dass alle Bedürfnisse gelebt werden können. Auch Rangeleien und Toben gehören zum Kinderalltag. Noch sind Kita und Schule in den Normen, was gutes Verhalten ist, sehr erwachsenendominiert. Den Mädchen gelingt es dabei besser sich anzupassen. Ihre soziale Kompetenz ist vermittelnder und auf Kompromisse ausgerichtet, wohingegen Jungen auch das Kräftemessen brauchen, um sich abzugrenzen. Körperliche Lösungen sind jedoch nicht opportun, weder im Kindergarten noch in der Schule.

Die Jungen mitnehmen und respektieren
Man kann beobachten, dass viele Jungen ihre Bedürfnisse nach klaren Regeln und kämpferischen Auseinandersetzungen in die Welt der Computerspiele übertragen. Dort tauchen sie in Scheinwelten ab und interagieren in einem virtuellen Raum, der sich der Kontrolle durch Erwachsene entzieht. Auch randalierende Fußballfans und harte laute Musik sind letztlich ein gesellschaftlich toleriertes Ventil für mangelnde Möglichkeiten, sich zu beweisen und Rangordnungen auszufechten. Wenn wir nicht wollen, dass sich die Jungen in parallele Kunstwelten verabschieden, müssen wir sie mitnehmen. Begegnen wir ihren Bedürfnissen nicht mit Verboten, Sanktionen und Abwertung sondern mit Respekt! Jungen brauchen für ihre gesunde Entwicklung Bewährungsproben, um sich zu spüren, sonst verlieren sie sich in Hyperaktivität und im schlimmsten Fall in Gewalt.

In den Problemschulen, die in der letzten Zeit Schlagzeilen gemacht haben, eskalierte letztlich nur eine explosive Mischung aus schlechter Lernumgebung, Intoleranz und Perspektivlosigkeit, die in vielen Bildungseinrichtungen latent vorhanden ist.

Das Miteinander der Geschlechter gelingt insgesamt nur, wenn jeder auch eigene Räume zur Entfaltung zugesprochen bekommt. Gegenseitige Wertschätzung entsteht am besten, wenn sich selbstbewusste Individuen begegnen, die ihre Unterschiedlichkeit anerkennen und achten. Erzieher(innen) und Lehrer(innen) haben dabei eine wachsende Verantwortung. Wer mit Liebe auf die Jungen schaut, kann auch eine jungengerechtere Bildungs- und Erziehungsarbeit leisten.

Inés Brockist Erziehungswissenschaftlerin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Halle (Saale).

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