04 Aug fK 2/05 Flade
Wohnbedingungen und kindliche Entwicklung
Von Antje Flade
In den letzten Jahren hat sich die Kindheitsforschung in zunehmendem Maße auch mit den lange Zeit vernachlässigten physischen Umwelteinflüssen auf die kindliche Entwicklung befasst. Im Blickfeld waren vor allem die Einflüsse der sozialen Umwelt, d.h. der anderen Personen im Umfeld. So wurde das Erziehungsverhalten der Eltern analysiert ohne das räumlich-materielle Umfeld zu beachten, in dem die sozialen Interaktionen stattfinden. Dieses räumlich-materielle Umfeld ist die Domäne der Architektur, die sich viel früher als die Kindheitsforschung und die Entwicklungspsychologie mit Fragen des Wohnens von Kindern und Familien auseinandergesetzt hat.
Als Beispiel sind die Arbeiten der Architektin Grete Meyer-Ehlers (1968) zu nennen, die sich schon vor vier Jahrzehnten sehr detailliert mit dem Thema „Wohnung und Familie“ befasst hat. Sie sah die Wohnungsplanung als gedankliche Vorwegnahme der Wohnungsnutzung an. Bei Familien ist die Wohnungsplanung aus zwei Gründen vergleichsweise kompliziert:
(1) Die Familie ist eine Wohngemeinschaft mit mehreren Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Wohnbedürfnissen.
(2) Wegen des hohen Entwicklungstempos der jungen Generation unterliegt diese Wohngemeinschaft einer starken Dynamik.
Heute ist die Aufgabe, während der Planung die Wohnnutzung vorauszusehen, noch komplizierter geworden, weil sich die Dynamik, die fortwährende Veränderungen mit sich bringt, nicht nur in den Familien findet, sondern in der gesamten Gesellschaft. Die Altersstruktur der Bevölkerung sowie die Haushaltsstrukturen haben sich erheblich verändert, die Lebensformen haben sich vervielfältigt und individualisiert. Wie drastisch dieser Wandel ist, zeigt ein Vergleich der Haushaltsstrukturen heute und vor hundert Jahren.
Abbildung 1: Haushaltsgrößen in Prozent der Haushalte; Quelle: Statistisches Bundesamt, 2004
Vor hundert Jahren bildeten Haushalte mit drei und mehr Personen noch eine klare Mehrheit. Inzwischen ist das nicht mehr der Fall, wie aus Abbildung 1 hervorgeht. Familien sind zu einer Minderheit geworden, was Veränderungen in der Wohnungsplanung und im Wohnungsbau nach sich gezogen hat. Heute werden mit Blick auf die Nachfrage vor allem Wohnungen für Ein- und Zwei-Personen-Haushalte gebaut.
Dennoch gilt nach wie vor, dass das Familienleben und das Aufwachsen von Kindern durch die Bedingungen des Wohnens beeinflusst werden. Nach wie vor trifft auch zu,
- dass sich Kinder in einer intensiven „turbulenten“ Entwicklungsphase befinden, in der Umwelteinflüsse besonders wirksam sind,
- dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen wenig mobil sind. Sie können nicht wie die Erwachsenen einfach „aus dem Felde gehen“, sondern sind auf ihre unmittelbare Wohnumwelt als Lebensraum angewiesen.
Die äußeren Bedingungen des Wohnens sind folglich für Kinder aus den genannten zwei Gründen von besonderer Relevanz. Dass es dabei ganz besonders auch auf die physische Umwelt ankommt, zeigt die empirische Forschung. Beispielsweise verbringen Kinder im Alter bis zu drei Jahren rund 80% bis 90% ihrer wachen Zeit damit, sich mit Gegenständen in ihrer Umwelt zu befassen.
Die physische Wohnumwelt ist von Bedeutung für alle Formen der Entwicklung. Die motorische, die kognitive, die motivationale und die soziale Entwicklung werden dadurch beeinflusst. Unerwünschte Entwicklungsergebnisse wie Verhaltensstörungen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und schulisches Versagen sind selten rein individualpsychologische Probleme, die eine individualpsychologische Therapie nahe legen, sondern Probleme, die auch durch ungünstige physische Wohnbedingungen hervor gerufen werden.
Das elterliche Verhalten
Unbestritten ist dagegen, dass die soziale Wohnumwelt in Gestalt der Eltern und der gesamten Familie ein wichtiger Einflussfaktor der kindlichen Entwicklung ist. Den Einfluss der sozialen Wohnumwelt kann man „auf den Punkt bringen“, indem man die wesentlichen Dimensionen bestimmt:
(1) emotionale Zuwendung und Liebe sowie (2) Gewährung von Autonomie und Handlungsfreiräumen.
Dies sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass sich Kinder bestmöglich entwickeln können. Ordnet man die beiden bipolaren Dimensionen rechtwinklig an, ergeben sich vier Felder (vgl. Abbildung 2 und 3).
Abbildung 2: Dimensionen elterlichen Verhaltens
Je nachdem, in welchem dieser Felder sich das elterliche Verhalten ansiedeln lässt, sind unterschiedliche Entwicklungsergebnisse zu erwarten. Optimale Entwicklungsergebnisse ergeben sich, wenn das Kind liebevolle Zuwendung erhält und ihm zugleich genügend Autonomie gewährt wird.
Abbildung 3: Auswirkungen des elterlichen Verhaltens auf das Verhalten von Kindern
An dieser Stelle muss jedoch der nächste Schritt erfolgen, weil das elterliche Verhalten nicht nur von grundsätzlichen Einstellungen gegenüber Kindern und Vorstellungen über die richtige Erziehung, sondern ebenfalls von den physischen Bedingungen des Wohnens abhängt. Dies belegen insbesondere Untersuchungsergebnisse über die Effekte beengten Wohnens sowie des Wohnens von Familien mit kleinen Kindern in den oberen Stockwerken von Hochhäusern. Eltern sind umso eher in der Lage, ihren Kindern Zuwendung zu geben und sie gewähren zu lassen, desto mehr die Wohnung und die Wohnumgebung dies erlauben.
Die Bedeutung der Wohnumgebung liegt darin, dass sie derjenige Bereich ist, in dem die elterliche Kontrolle im Allgemeinen geringer ist als in der Wohnung. Im Außenraum ist Eigenständigkeit gefragt. Inwieweit Eltern diese Autonomie zulassen, hängt entscheidend von der Beschaffenheit der Wohnumgebung ab. Fehlende Freiräume zum Spielen und eine hohe Verkehrsbelastung im Wohngebiet lassen auch nicht autoritäre Eltern restriktiv werden.
Das Kinderzimmer
Das Kinderzimmer ist für Kinder das Zentrum ihrer Lebenswelt. Es ist wegen des hohen Entwicklungstempos in der Phase der Kindheit ein Raum, der vielerlei Funktionen dient. Im Kleinkindalter braucht das Kinderzimmer nicht besonders groß zu sein. Entscheidend ist vielmehr, dass es Schutz vor Lärm und Unruhe bietet. Dinge zum Greifen in der Nähe des Kindes fördern die Hand-Augen-Koordination und das „Begreifen“ von Dingen. Haupttätigkeit ab zwei Jahren wird das Spielen. Dafür werden Platz zum ungestörten Spielen und Dinge zum Spielen benötigt. Jenseits des Kleinkindalters tauchen zunehmend Autonomiebestrebungen auf. Mit dem Eintritt in die Schule bekommt das Kinderzimmer weitere Funktionen. Es wird zum Arbeitsplatz für Schularbeiten und zu einem Ort, an dem man ungestört von den Erwachsenen mit Gleichaltrigen zusammen sein kann. Hier können die Schulfreundinnen und Schulfreunde zu Besuch kommen. Damit wird das Kinderzimmer zum „Wohnzimmer“ des Kindes. Im Jugendalter bekommt das eigene Zimmer einen zusätzlichen Stellenwert. Es wird zum Raum, der Rückzug und Autonomie bietet und dadurch auch die Identitätsentwicklung unterstützt.
In Abbildung 4 sind die je nach der Entwicklungsphase variierenden Anforderungen an das Kinderzimmer zusammenfassend aufgelistet. Zusätzlich wird ein Bezug zu den alterstypischen Entwicklungsaufgaben hergestellt. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben besagt, dass in jeder Lebensphase bestimmte Aufgaben bewältigt werden müssen. Die Annahme ist, dass es sich ungünstig auf die weitere Entwicklung auswirkt, wenn dies nicht gelingt.
Abbildung 4: Entwicklungsaufgaben in verschiedenen Lebensphasen und Anforderungen an das Kinderzimmer
Anforderungen an die Wohnung
Die Ergebnisse der empirischen Forschung zur Gestaltung von Wohnungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Fördernde Bedingungen sind:
- Bewegungsfreiheit, Möglichkeiten der Umwelterkundung
- Verfügbarkeit vielfältiger, komplexer und responsiver Objekte
- Vorhandensein von Spielzeug und Büchern
- günstige räumliche Bedingungen, z.B. ein eigener Raum zum Schularbeitenmachen
- festes Zeitmuster, das den Tagesablauf strukturiert
- Anregungsreichtum
Abträglich für die Entwicklung sind:
- hoher Lärmpegel in der Wohnung
- beengte Wohnverhältnisse
- Übermaß an Stimulation
- Einschränkung des Erkundungsverhaltens
So gehen z.B. beengte Wohnverhältnisse häufig mit einem restriktiven Erziehungsstil einher. Ebenso fühlen sich Eltern in hellhörigen Wohnungen gezwungen, sich gegenüber ihren Kindern kontrollierender zu verhalten, in dem sie ihren Kindern geräuschvolle Aktivitäten verbieten, was sie in nicht hellhörigen Wohnungen nicht tun würden.
Die direkten und indirekten Auswirkungen beengter Wohnverhältnisse sind vielfältiger Art. Lärm und Unruhe nehmen zu, Handlungen werden unterbrochen oder blockiert, bei Kindern entwickelt sich die Haltung, dass die Umwelt nicht kontrollierbar ist, sondern dass man dieser Übermacht gegenüber hilflos ist. Auch sprachliche Defizite können eine Folge sein: Lärm in der häuslichen Umwelt verzögert die Sprachentwicklung und beeinträchtigt die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit von Kindern. Ein hoher Lärmpegel in der Wohnung, ein Übermaß an Stimulation und die Einschränkung der kindlichen Umwelterkundung sind typische Begleiterscheinungen beengten Wohnens. Die abträglichen Wirkungen von Lärm auf die kindliche Entwicklung wurden in vielen Untersuchungen bestätigt. Die Sprachentwicklung wird verzögert, Informationsverarbeitungsprozesse werden erschwert, die Sprachleistungen der Kinder sind schlechter. Darüber hinaus fördern beengte Wohnverhältnisse die Neigung von Kindern, sich aggressiv zu verhalten.
Der motorisierte Verkehr in der Wohnumgebung
Wohnumgebungen werden zunehmend durch den motorisierten Verkehr geprägt. Während 1970 auf ein Auto noch drei Kinder kamen, ist es heute umgekehrt. Die Frage der Verkehrssicherheit ist im Hinblick auf die Dimension der Autonomie ein bedeutender Aspekt. Es ist unmittelbar einleuchtend und auch empirisch belegt, dass Kinder in verkehrsbelasteten Wohngebieten weniger draußen spielen und dass sie häufiger auf ihren Wegen von Erwachsenen begleitet werden, was in beiden Fällen eingeschränkte Autonomie bedeutet. Kinder können sich heute draußen oftmals nicht mehr ohne elterlichen Schutz und in ausreichendem Maße bewegen, weil die dazu erforderlichen verkehrssicheren und zugleich anregungsreichen Freiflächen knapp geworden und deren eigenständige Erreichbarkeit zu einem Problem geworden sind. Nicht nur der fließende, sondern auch ruhende Autoverkehr nehmen viel Fläche in Anspruch, und auch der ruhende Verkehr ist gefährlich, wenn er nämlich die Sicht über das Verkehrsgeschehen behindert. Wenn Aktions- und Spielräume im Außenraum verschwinden, werden sich die Kinder in unserer ohnehin bewegungsarmen Auto-, Fernseh- und Computer-Gesellschaft noch weniger bewegen. Die motorische Entwicklung verläuft nicht wie gewünscht. Kompensationsangebote wie das Kinderturnen im Vorschulalter, Bewegungskindergärten oder „bewegte“ Schulen wären nicht nötig, wenn Wohngebiete verkehrssicherer wären.
Im übrigen sind auch die Kinder auf dem Lande zunehmend von Bewegungsarmut betroffen, denn die Vorteile ländlicher Wohngebiete, Kindern größere Aktionsräume zu bieten, gehen verloren, wenn sie zur Schule und zu anderen Zielorten transportiert werden müssen. Zusätzlich wird hier das Zeitbudget vor allem der Mütter belastet, die ihre Kinder begleiten und transportieren müssen. Die Einschränkung des kindlichen Aktionsraums und der Transport im PKW sind die naheliegenden Strategien, um vor allem kleinere Kinder zu schützen. Ein spezifischer Stress ist die Angst von Eltern, dass das Kind verunglücken könnte, wenn es seine Wege eigenständig zurücklegt.
Das Grundmodell
Aus den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern nach elterlicher Zuwendung und emotionaler Bindung sowie nach der Erkundung und Aneignung der Umwelt lassen sich konkrete Richtlinien für die Gestaltung von Wohnungen und Wohnumgebungen ableiten. Das in Abbildung 5 dargestellte Schema veranschaulicht, dass nicht nur die kindliche Entwicklung, sondern auch das elterliche Verhalten von dem Ergebnis der Wohnbau- und der Stadtplanung abhängen.
Abbildung 5: Wirkungszusammenhänge zwischen den Wohnbedingungen und der kindlichen Entwicklung
Ein Beispiel für die doppelte Wirkung der physischen Wohnbedingung ist kindliche Aggressivität, in der sich räumliche Beengtheit und auch ein strafender Erziehungsstil widerspiegeln. Eltern können zu einer optimalen Entwicklung durch Zuwendung und Gewährung von Autonomie beitragen. Inwieweit sie dies vermögen, hängt indessen nicht allein von ihren persönlichen Möglichkeiten, ihrem Erziehungswissen und ihren Einstellungen gegenüber Kindern ab. Einen optimalen Erziehungsstil können sie eher realisieren, wenn die physischen Wohnbedingungen dies nicht behindern, z.B. wenn die Wohnung nicht zu klein und die Wohnumgebung verkehrssicher und reich an Anregungen ist, so dass Kinder zum selbständigen Erkunden der Umwelt motiviert werden und dies auch gefahrlos tun können. Ein erstes Ziel ist es, den Eltern das Wissen über die Wirkungszusammenhänge bewusst zu machen.
Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturhinweise ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. Antje Flade ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Wohnen und Umwelt GmbH (IWU), einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt.
Sorry, the comment form is closed at this time.