07 Aug fK 2/04 Bibra
Die vernachlässigten Kinder von Drogenabhängigen
von Sibylle von Bibra
Lange hatte man sie einfach vergessen. Oder wollte sie nicht sehen. Die Kinder von Drogenabhängigen. „Es ist ja schon entsetzlich, drogenabhängig zu sein. Als Drogenabhängiger ist man Outlaw der Gesellschaft, lebt auf der Straße, ist kriminell und kann sich einfach nicht am Riemen reißen. Und immer mehr Frauen sind auch darunter. Und wie kann man dann auch noch Kinder kriegen. Das ist unmöglich und unverantwortlich.“ So oder ähnlich müssen viele gedacht haben. Normale Bürger, aber auch Professionelle, die mit den Drogenabhängigen arbeiten. Professionelle, die besser hätten verstehen können, wie schwer es ist, aus einer bestehenden Abhängigkeit wieder herauszukommen.
In den 1970 Jahren in Amsterdam, der europäischen Metropole des Rauschgiftkonsums, wurde erstmals auf diese Kinder geachtet und festgestellt, dass etwa ein Drittel von ihnen rund um die Geburt starb. In Frankfurt am Main waren bis 1992 noch 20% bis 22% der Kinder von Drogenabhängigen Frühgeburten mit all den damit verbundenen Komplikationen.
Gefährdungen für Kinder drogenabhängiger Eltern
Wegen des herabgesetzten Körpergefühls nach Drogengebrauch wird eine Schwangerschaft oft erst sehr spät wahrgenommen, evtl. erst im siebten Monat. Dadurch oder überhaupt besteht eine schlechte Sorge um die Schwangerschaft. Immer noch häufig kommt es zu Frühgeburten mit entsprechenden Komplikationen wie Sauerstoffmangel des Gehirns, Hirnblutung und cerebralen Krampfanfällen. Dies bedeutet, dass die Kinder in ihrer motorischen und kognitiven Entwicklung beeinträchtigt sein können. Falls die Kinder die Schwangerschaft gut überstehen und reif geboren werden, droht der Drogenentzug für das Neugeborene, so dass die Kinder nach der Geburt eine längere stationäre Behandlung benötigen.
In jedem Fall drohen Gefährdungen nach der Geburt wegen der darauffolgenden jahrelangen Leidensgeschichte: es bestehen insgesamt schlechte Bedingungen wie Vernachlässigung, mangelnde Zuwendung, Kontinuität und Sorge. Als Folge entstehen Entwicklungsverzögerungen und -schwierigkeiten einschließlich kognitiver Behinderung (Sonderschulbedarf) und schwerer emotionaler Störungen.
Häufig werden die Kinder von ihren drogenabhängigen Eltern sozusagen versteckt und bleiben damit weiterhin der Vernachlässigung ausgesetzt. Es kann sein, dass ein Elternteil für das Kind „verschwindet“, weil dieser ins Gefängnis, in Therapie oder zu Tode kommt.
Oder die Kinder werden fremduntergebracht, durchlaufen ständige Beziehungsabbrüche, wenn sie von Heimen zu Kurzzeitpflegeeltern, zu den leiblichen Eltern und wieder zurück ins Heim kommen. Sie haben so keine Basis in ihrem Leben und leiden an Bindungsarmut und deren Folgen.
Die Situation der Eltern/Mütter
Etwa ein Drittel der drogenabhängigen Frauen haben Kinder, und wenn sie Kinder haben, dann auch häufig mehrere. Inwieweit die Substitution hier eine Rolle spielt, ist offen. Es könnte sein, dass die Empfängnisbereitschaft dadurch wieder höher ist als unter Heroin.
Klar ist auch: Die Schwangerschaft ist für viele drogenabhängige Frauen eine Art von neuer Motivation, wieder ins „normale Leben“ zurückzukehren. Die erste Sorge muss also sein, eine Schwangerschaft früh zu erkennen und gut zu überwachen, um ein gutes Gedeihen zu ermöglichen und eine Frühgeburt zu verhindern.
Nach der Geburt haben die Mütter die besten tief empfundenen Wünsche für ihr Kind: das Kind soll es besser haben als sie, und sie wollen wirklich für ihre Kinder sorgen und alles für sie tun. Diese Wünsche sind wunderbar. Leider kontrastieren sie mit der Wirklichkeit. Mit der Wirklichkeit der Drogenabhängigkeit, der mangelnden Frustrationstoleranz und der schnellen Erschöpfbarkeit der Mütter. Und auch mit der mangelnden Fähigkeit zu sehen, wahrzunehmen, was mit dem anderen los ist, was das Kind jetzt brauchen könnte, weil nach bisheriger Gewohnheit die Gedanken mehr um die eigene Befindlichkeit kreisen.
Ein weiteres Problem stellt sich kurze Zeit nach der Geburt ein: Der Drogenentzug dauert bei den Säuglingen genauso lange wie bei Erwachsenen, etwa drei bis sechs Wochen. Und das ist dann nur der körperliche Entzug. Danach sind die Kinder häufig noch hoch irritabel, erschrecken bei der geringsten Kleinigkeit zutiefst, kommen regelrecht in Panik, schreien und lassen sich nur schwer beruhigen. Das bedeutet: nach dem Entzug sind diese Kinder häufig so genannte Schreibabys.
Wenn sie nun auch noch Frühgeborene sind (was ja immer noch, trotz besser geführter Schwangerschaft, häufig ist), kommen weitere Schwierigkeiten hinzu.
Da haben wir nun diese wunderbaren Wünsche für das Kind, und das Kind hat erst diesen scheußlichen Entzug, mit all den Schuldgefühlen, die dies für die Mutter verursacht. Und dann ist dieses Kind auch noch ein Schreibaby, lässt sich nicht beruhigen. Die Gefahr für die Mütter, jetzt frustriert zu sein, wütend zu werden, es nicht mehr aushalten zu können, ist groß. Was auch immer nun geschieht, es könnte zum Nachteil für das Kind sein. Dann ist da der Misserfolg, die Frustration über das eigene Scheitern. Die Flucht in die Droge, der Rückfall ist vorprogrammiert.
So oder ähnlich sind viele Vernachlässigungen dieser Kinder zu erklären, wenn die Mütter mit den Kindern alleingelassen werden.
Hilfen für Kinder und Eltern
Inzwischen entstanden in Deutschland einzelne Initiativen, um eine bessere Versorgung der Kinder von Drogenabhängigen zu erreichen: Erste Schritte kamen aus Kliniken zur Geburtshilfe in Zusammenhang mit hohen Raten von Frühgeborenen und den zahlreichen Komplikationen nach schlecht überwachten Schwangerschaften.
Eine bessere Schwangerschaftsüberwachung bedeutet:
- Regelmäßige Substitution ohne Beigebrauch
- nach Möglichkeit Reduzieren der Dosis im zweiten Drittel der Schwangerschaft
- Reduktion des Nikotinkonsums
- Behandlung körperlicher Krankheiten
- Sorge um soziale Grundvoraussetzungen für die Zeit nach der Geburt
Nach dem Beginn von Projekten mit besserer Schwangerschaftsüberwachung sind nun z.B. in Essen 20% Frühgeborene (von 151 Kindern), d.h. vor der 35.Schwangerschaftswoche geboren worden ( Wolstein 2003). In Wien gab es 18% Frühgeborene, die vor der 34. Schwangerschaftswoche geboren wurden (Schneider 1996). In München gab es bei 100 Kindern 11% Frühgeborene, die ein Geburtsgewicht unter 2.500 Gramm hatten (Kästner 2003). Zum Vergleich: die durchschnittliche Frühgeborenenrate in Bayern lag 2001 bei 6,8%.
Erfreulicherweise sind direkte toxische Schäden bei den Kindern im allgemeinen klinisch nicht zu beobachten. Ausnahme: nach dem Gebrauch von Kokain und vor allem nach Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Wie schädigend das Nikotin wirkt, wird mehr und mehr deutlich. Direkte Spätfolgen nach dem Entzug des Neugeborenen sind oben beschrieben, inwieweit sich später daraus dann so genannte Regulationsstörungen entwickeln, wird zur Zeit noch diskutiert.
Nach der Geburt dieser Kinder gibt es inzwischen in einigen Städten Initiativen, den Müttern (falls vorhanden auch den Vätern) Hilfe und Unterstützung zu geben, um ihre Kinder selbst aufziehen zu können, ohne dass diese Schäden davontragen müssen.
Denn es ist inzwischen klar geworden: alle diese Kinder wegzunehmen, sie „fremdunterzubringen“ (um diese entsetzliche Wortprägung der Jugendhilfe zu benutzen), das kann nicht die Lösung der Probleme sein. Diese Maßnahme ist neben den enormen Kosten auch für die Kinder möglicherweise ein Schritt zweiter Wahl, ist doch – wenn sie älter sind – ihre Identitätsfindung infrage gestellt angesichts der Eltern, die sie nicht angenommen haben. Häufig werden sie auch hin und her geschoben, mal wieder zurück zu den Eltern und dann, wenn die Schäden größer werden, wieder woanders hin usw. Diese Abbrüche und die damit verbundenen mangelnden Kontinuitäten führen häufig zu Bindungslosigkeit und damit auch Haltlosigkeit, Verhaltensschwierigkeiten und evtl. Entwicklungsrückständen, wie verschiedene Studien belegen.
Nicht alle drogenabhängigen Eltern sind „schlechte Eltern“, so wie nicht alle nicht drogenabhängigen Eltern „gute Eltern“ sind. Viele Mütter planen zwar nicht eine Schwangerschaft, bejahen aber häufig die überraschende Schwangerschaft unter anderem als Chance, wieder „normale“ Menschen zu werden, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, aus dem Suchtleben auszusteigen. Und fast alle fühlen sich ihrem Kind sehr tief verbunden und verpflichtet. Das heißt, es gibt eine hohe Motivation, viele guten Wünsche auf eine Änderung. Natürlich bleibt die Frage, sind diese Motivationen und Wünsche auch umsetzbar? Wie ist die realistische Situation, ist es möglich, eine solche Lebensänderung durchzuführen? Welche Hilfen sind dazu nötig?
Das Münchner Modell
Es entstand die Überlegung, dass drogenabhängige Mütter, sofern bestimmte Hilfen und Kontrollen zur Verfügung stehen, besser in der Lage sein sollten, ihre Kinder selbst groß zu ziehen. Voraussetzung dafür ist, dass die Mütter mit ihrer Drogenabhängigkeit einigermaßen kompensiert umgehen können, also mit regelmäßiger und qualifizierter Substitution wieder einen strukturierten Lebensrhythmus haben, eine eigene Wohnung bekommen und in einer gesicherten finanziellen Situation – u.U. von Sozialhilfe – leben
Es soll hier beispielhaft das sogenannte Münchner Modell vorgestellt werden, das nach dem Vorbild von Essen und Hannover kürzlich verabschiedet wurde. Es ist eine intensive Kooperation von den drei verschiedenen Helferbereichen verabredet worden, die bisher auch häufig tätig waren, aber doch unabhängig voneinander, im schlechtesten Fall sogar gegeneinander:
- Drogenhilfe (Drogentherapie und qualifizierte Substitution)
- Jugendhilfe
- Medizin (Geburtshilfe und Kindermedizin)
Die Stadt München leistet einen erheblichen Beitrag durch die Finanzierung von Kinderkrankenschwestern, die regelmäßig bis zu drei Mal pro Woche solche Problemfamilien besuchen, um den Müttern im Umgang mit ihren Kindern zu helfen.
Dieses Modell orientiert sich am Prozess, der eine ständige Veränderung des Kindes (durch sein Wachstum und seine dadurch geänderten Bedürfnisse) berücksichtigt und der durch die Drogenabhängigkeit bzw. deren Überwindung für die Mütter/Eltern neue Situationen herstellt. Aus systemischer Sicht wird hier die Familiendynamik der „drogenabhängigen Familie“ erweitert um das ganzheitliche System der „Helfer“.
Das Instrument hierfür stellt die so genannte „Helferrunde“ dar, auch „Round table“ genannt, die in regelmäßigen Abständen mindestens zweimal im Jahr – anfangs deutlich häufiger – stattfindet. Hier wird zusammen mit den Eltern, den Betreuern aus der Drogentherapie, der Substitution, der Jugendhilfe, der Kinderschwester und dem Kinderarzt jeweils die aktuelle Situation in Hinsicht auf die Entwicklung des Kindes und die Erziehungsfähigkeit und den Stand der Drogenabhängigkeit der Eltern besprochen und es wird überlegt, welche Maßnahmen im weiteren sinnvoll, praktikabel und für alle annehmbar sind.
Ziel ist es, langfristig auf Drogenfreiheit bei den Müttern/Eltern hinzuarbeiten. Bewährt hat sich auch eine eigene ambulante, langfristig tätige Drogenberatungsstelle für Mütter mit Kindern, um den speziellen Bedürfnissen in dieser Situation ganzheitlich begegnen zu können. Ist die Situation für das Kind nicht stabil genug, muss eine stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung (mit dem Kind) erarbeitet werden. Nur als letzte Konsequenz wird bei Gefährdung des Kindeswohls und mangelnder Mitarbeit der Mütter/Eltern eine Herausnahme des Kindes aus der Familie durchgeführt.
In den letzten Jahren sind viele Kinder und Familien nach diesem Konzept betreut worden. Eine Nachuntersuchung ist in Planung um festzustellen, inwieweit diese Maßnahmen für die Kinder und Familien wirklich hilfreich sind. Denn wir gehen von der Annahme aus, dass das, was den Eltern hilft, auch dem Kind hilft. Und andererseits, dass das, was dem Kind hilft, die Eltern stolzer und glücklicher macht und somit auch den Eltern hilft.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. Sibylle von Bibra ist Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Schwabinger Krankenhaus, Kinderklinik und Poliklinik der Technischen Universität München
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