fK 2/03 Martinius

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Beziehung zwischen Kinderunfällen, Verhaltensauffälligkeiten und psychosozialen Belastungen

von Joest Martinius

Kinderunfälle spielen in der Morbidität des Kindesalters eine bedeutsame Rolle : Jährlich verunglücken in Deutschland Millionen Kinder, rund 600 tödlich, mehr als 1000 tragen bleibende Schäden davon. Dieser beklagenswerten Situation steht die Tatsache gegenüber, dass über einen Zeitraum von Jahrzehnten die Zahl der Unfälle mit schweren Verletzungen und mit Todesfolge abgenommen hat. Dies wiederum darf kein Anlass sein, mit den Bemühungen um eine weitere Verbesserung der Situation nachzulassen.

Die Unfallforschung hat die Ursachen für Kinderunfälle weitgehend aufgeklärt. So gesehen wäre es theoretisch möglich, die Mehrzahl der Kinderunfälle zu vermeiden. Um das zu erreichen, müsste allerdings das Fachwissen allen, die für Kinder verantwortlich sind und mit ihnen zu tun haben, gegenwärtig sein. Aber gerade daran mangelt es. Kein Zweifel besteht daran, dass sich Kinderunfälle durch das Zusammentreffen mehrerer Bedingungsfaktoren ereignen. Sie addieren sich nicht einfach, sondern konstellieren sich zu Situationen, in denen voneinander abhängige und sich gegenseitig beeinflussende Wirkfaktoren zusammentreffen. Ein unsicheres Kind z.B., das auf einem Zebrastreifen stehen bleibt und dann plötzlich weiterläuft, wird einen disziplinierten Fahrer von vornherein zu beharrlichem Halten und einen undisziplinierten Autofahrer mit Wahrscheinlichkeit zum Weiterfahren veranlassen mit der Folge eines Zusammenpralls. Um solche komplexen Wirkgefüge zu erfassen, hat die Medizin Faktorenmodelle entwickelt, die in ihrer Gesamtheit ein kalkulierbares Risiko ergeben. Für Kinderunfälle lässt sich dieses Wirkgefüge folgendermaßen darstellen:

Belastende und protektive Faktoren aus verschiedenen Bereichen treffen in variablen Konstellationen zusammen und treten in Wechselwirkung. Das Resultat ist ein mit Wahrscheinlichkeiten belegbares Risiko (hoch-niedrig) für das Eintreten eines Unfalls oder wiederholter Unfälle.

Wirkfaktoren für Kinderunfälle finden sich in drei Hauptbereichen:

  1. In der natürlichen und technischen Umwelt
  2. Kindeigene Faktoren
  3. Ökologische und psychosoziale Lebensbedingungen

Die Einflüsse der natürlichen und technischen Umwelt sind zum Teil unabänderlich gegeben (Jahreszeit, Tageszeit, Witterung), zum Teil unterliegen sie ständigen Veränderungen und auch Verbesserungen (Regelung des Straßenverkehrs, Sicherung von Spielplätzen u.a.). Gerade zum Straßenverkehr gibt es interessante Erkenntnisse, die die Vielschichtigkeit des Geschehens erkennbar machen. Eine Analyse der unfallträchtigen Orte in einer Großstadt (Stevenson u. Mitarb. 1995) hat gezeigt, dass an den Unfallorten nicht nur die Verkehrsdichte am größten, sondern auch die Zahl der zu schnell fahrenden Fahrzeuge doppelt so hoch wie an unfallarmen Vergleichsorten war. Die meisten „Raser“ wurden in sozial unterprivilegierten Stadtteilen angetroffen. Mit anderen Worten, ein unfallträchtiges Verkehrsgeschehen konzentriert sich auf städtische Wohnbereiche, in denen Kinder unter sozial ungünstigen Bedingungen leben. So gesehen erscheint es wenig sinnvoll, ohne Beachtung der sozialen Gegebenheiten, die unfallmindernde Wirkung von Tempo 30-Straßen nachzuweisen (von Kriess u. Mitarb. 1998), da solche Straßen sich vorzugsweise in privilegierten Wohngebieten finden.

Unter den kindeigenen, das Unfallrisiko erhöhenden Faktoren finden sich entwicklungsbezogene Besonderheiten, die grundsätzlich für Wahrnehmung und Verhalten im Kindesalter bestimmend sind. Hierzu gehören Eigenheiten der Motorik, der Wahrnehmung und des Denkens wie das noch unterentwickelte Einschätzen von Geschwindigkeiten und kindliche Grenzen der Interpretation von Situationen, die potentiell gefährlich sind. In Aufklärungsbroschüren und anderen Medien werden diese Dinge gern in den Vordergrund gerückt. Dabei wird übersehen, dass die zitierten Erkenntnisse zur kindlichen Wahrnehmung z.T. auf alten Untersuchungen beruhen, die durch weitergehende Erkenntnisse ersetzt werden müssten. Kinder sind viel früher als ihnen oft zugetraut wird, zu Konzeptbildung und Situationsverständnis fähig. Wenig ins Bewusstsein gedrungen sind die Erkenntnisse über Verhaltensstörungen im Kindesalter als unfallbedingender Faktor, der nicht trennbar ist von den Lebensbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, speziell dann, wenn diese Lebensbedingungen belastend sind. Zu den Verhaltensstörungen ist eine deutsche Untersuchung zitierbar (Grützmacher 2001), die die Unfallgefährdung von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung nachweist. Wie die Untersuchung gezeigt hat, sind hyperaktive Kinder viermal so häufig von Unfällen betroffen, wie Kinder ohne diese Verhaltensauffälligkeit. Diese Erkenntnis war nicht, wie die Autorin behauptet, neu, sondern längst bekannt. Sie bleibt natürlich aussagekräftig und mahnt zu besonderer Beachtung von Kindern mit dieser Verhaltensstörung. Es darf aber nicht übersehen werden, dass viele hyperkinetische Kinder kein erhöhtes Unfallrisiko tragen und dass diese Verhaltensstörung allein die komplizierten Zusammenhänge nicht erklärt.

Große, in den 1990er Jahren in den USA und Großbritannien durchgeführte epidemiologische Studien (Power 1992; Bussing u. Mitarb. 1996) haben klar gezeigt, dass Kinder mit Verhaltensstörungen dann signifikant häufiger in Unfälle verwickelt sind, wenn sie unter belastenden Lebensbedingungen aufwachsen müssen. Vor allem die kombinierte hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, ergänzt durch emotionale Störungen, bedeutet eine besondere Unfallgefährdung. Im Entwicklungsverlauf hatten solche Kinder wiederholt Unfälle bis ins Erwachsenenalter hinein. Jüngere Kinder aus dieser Hochrisikogruppe hatten am ehesten häusliche Unfälle, insbesondere Verbrühungen und Verbrennungen.

Fünf Faktoren wurden für die Unfallgenese als entscheidend erkannt:

  1. Motorische Unruhe
  2. Aggressivität
  3. Familie mit vielen Personen in einer kleinen Wohnung
  4. Vorübergehende stationäre Jugendhilfe
  5. Familiäre Schwierigkeiten

Es ist kein Geheimnis, dass kinderpsychiatrische Morbidität und abnorme psychosoziale Bedingungen in ursächlichem Zusammenhang stehen. Mit jedem Belastungsfaktor, wie sie z.B. auf der Achse V des multiaxialen Klassifikationsschemas kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen festgehalten sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen Störungen. Die zitierten angelsächsischen Untersuchungen über Kinderfälle haben solche Faktoren eindeutig identifiziert, darunter niedriges Familieneinkommen, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung, räumliche Enge in der Wohnung, psychische Krankheit eines oder beider Elternteile, speziell Alkoholabhängigkeit, abweichende familiäre Situationen wie Alleinerziehen und häufiger Wohnungswechsel.

Glik u. Mitarbeiter analysierten detailliert die häusliche Wohnqualität und Gefahrensituation für das Unfallspektrum „Verbrennungen, Vergiftungen und Stürze“ in Familien mit Kleinkindern sowie die Persönlichkeit und erzieherische Einstellung der Mütter. Alle bei den Kindern aufgetretenen Unfallarten korrelierten mit niedrigem Bildungsniveau, Armut und abweichender familiärer Situation. Bei Müttern, die ihre Kinder enger beaufsichtigten, waren gleichzeitig die Haushaltsrisiken kleiner und im Ergebnis das Unfallrisiko geringer. Kinder von Müttern hingegen, die „mit ihrem Haushalt nicht fertig werden“ und glauben, sie würden die Dinge nie in den Griff bekommen, hatten ein erhöhtes Unfallrisiko. Mit anderen Worten, Risiken und protektive Faktoren wirken gleichzeitig und kompensierend, Armut allein bedeutet noch kein erhöhtes Unfallrisiko.

Interessant ist in dem Zusammenhang das Ergebnis einer neueren deutschen epidemiologischen Untersuchung (Böhm u. Kuhn, 2000). Im Rahmen von Reihenuntersuchungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Brandenburg wurden Schuleingangsuntersuchungen des Jahres 1998 ausgewertet. Dabei zeigte sich ein klarer Zusammenhang zwischen Sozialstatus der Familie und Gesundheitszustand der Kinder. Niedriger Sozialstatus korrelierte in hohem Maße mit Auffälligkeiten der Sinnesorgane, mit Sprachentwicklungsstörungen, mit Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung und mit psychomotorischen Störungen. Zwischen 15 und 20 Prozent der untersuchten Kinder hatten bis zur Einschulung einen Unfall, wobei Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei Verkehrs- und Verbrühungsunfällen doppelt so häufig betroffen waren wie Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus. Bedauerlicherweise wurde das Verhalten der Kinder nicht dezidiert untersucht. Es darf aber angenommen werden, dass der geschilderte Zusammenhang zwischen Unfallhäufung, sozialen Belastungen und Verhaltensstörungen auch hier evident geworden wäre.

Die vorhandenen Erkenntnisse reichen aus, um die Öffentlichkeit auf die geschilderten Zusammenhänge aufmerksam zu machen und bei Untersuchungen epidemiologischer Art darauf zu achten, dass das Verhalten der Kinder und psychosoziale Belastungen in die Untersuchung einbezogen werden. Unfallprävention ist möglich, wenn sie alle genannten Bereiche beachtet. Sie beginnt im Kopf, und nicht auf der Straße.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. med. Joest Martinius ist ehemaliger Direktor des Instituts und der Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilian-Universität München

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